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NAHOST/1147: Muktada Al Sadr avanciert zu Iraks mächtigstem Mann (SB)


Muktada Al Sadr avanciert zu Iraks mächtigstem Mann

Schiitischer Geistlicher vermittelt zwischen den Fronten



Seit dem Abzug der US-Streitkräfte aus dem Irak Ende 2011 befindet sich der Irak in einer schweren innenpolitischen Krise. Gleich am Tag nach der Ausreise der letzten US-Truppeneinheit ließ Premierminister Nuri Al Maliki, ein Schiite, Haftbefehl gegen Vizepräsident Tarek Al Haschemi, den ranghöchsten sunnitischen Politiker des Landes, ausstellen. In der Anklageschrift wird Al Hashemi Terrorismus und die Vorbereitung eines Putsches vorgeworfen. Er bestreitet dies und wirft seinerseits der Maliki-Regierung vor, einige seiner Mitarbeiter zu belastenden Aussagen gefoltert zu haben. In dieser verzwickten Situation versucht nun Muktada Al Sadr, der Sproß der berühmten schiitischen Predigerdynastie, zu vermitteln.

Rechtzeitig konnte sich Al Haschemi in die kurdische Autonomieregion absetzen, wo er sich immer noch aufhält. Trotz aller Aufforderungen aus Bagdad weigern sich die Kurden, ihn an die Behörden in der Hauptstadt auszuliefern. Doch nicht nur das. Wegen der politischen Dauerkrise im Land drohen die Kurden, die seit einigen Wochen wegen unbezahlter Rechnungen in Milliardenhöhe keine Ölexporte in Absprache mit der Zentralregierung in Bagdad mehr tätigen, mit der Abspaltung vom Irak und der Gründung eines eigenständigen Staats. Massud Barsani, der Präsident des kurdischen Autonomiegebiets, hat Al Maliki als Diktator in spe kritisiert und dabei bemängelt, daß der Premierminister die Posten des Verteidigungsministers, Innenministers, Geheimdienstchefs und Oberbefehlshabers der Streitkräfte seit mehr als einem Jahr unbesetzt läßt, um sie selbst auszufüllen.

Malikis größter Kritiker ist bekanntlich Ijad Allawi, dessen politische Gruppierung, die sunnitisch-säkulare Al Iraqiya, 2010 aus den irakischen Parlamentswahlen als stärkste politische Kraft hervorging. Allawi, der selbst Schiite ist und Al Maliki vor kurzem in einem Brief an Präsident Jalal Talabani die Verhaftung und Folter Tausender politischer Gegner anlastete, gelang es damals jedoch nicht, ein Regierungsbündnis mit sich selbst an der Spitze zustande zu bringen. Statt dessen konnte Maliki, dessen Dawa-Partei zweitstärkste Kraft geworden war, die entscheidende Unterstützung der politischen Bewegung Al Sadrs, des sogenannten Sadr-Trends, sichern. Damals wurde nach monatelangen schwierigen Verhandlungen vereinbart, daß die größten Fraktionen im Parlament zu Bagdad eine interkonfessionelle Regierung mit Maliki als Premierminister und Allawi als nationaler Sicherheitsberater, der Armee, Geheimdienste und Polizei überwacht, bilden. Doch Maliki hat seinen Teil der Abmachung nicht eingehalten, weswegen die Gewalt im Lande nicht abreißt. Allein am 27. April kamen bei Bombenanschlägen und Überfällen 29 Menschen ums Leben, während 50 verletzt wurden.

Seit einigen Tagen nun versucht Al Sadr die verhärteten Fronten aufzuweichen. Nachdem er kurz zuvor Maliki in Bagdad getroffen hatte, reiste er am 26. April in den kurdischen Norden zu Beratungen mit Barsani. Gleich bei der Ankunft auf dem Flughafen von Erbil legte Al Sadr die Marschroute fest: Der Irak müsse eine Regierung erhalten, in der alle religiösen und ethnischen Gruppen des Landes vertreten sind, und der Streit um die Sicherheitsposten müsse beigelegt werden - unter anderem durch die Besetzung der Posten des Verteidigungs- und Innenministers. Inzwischen gibt es Spekulationen in der irakischen Presse, daß Maliki durch einen Vertreter des Sadr-Trends als Premierminister ersetzt werden könnte. Als potentielle Kandidaten für das Amt des Regierungschefs werden Parlamentssprecher Osama Al Nujaifi und der populäre Kusai Al Suhail genannt.

Die Vermittlungsreise des erst 38 Jahre alten Al Sadr läßt dessen wachsende politische Bedeutung erkennen. Fünf Jahre nachdem seine Mahdi-Armee nach schwersten Kämpfen mit den US-Streitkräften und den Truppen Al Malikis die Waffen niederlegt hat, kommt niemand mehr an Al Sadr dabei. Wegen seiner kategorischen Ablehnung konnte Al Maliki dem Wunsch der Regierung George W. Bush nach einem Abkommen über die dauerhafte Stationierung von US-Streitkräften im Irak nicht nachkommen. Seit der zweiten Hälfte 2007 studiert Al Sadr Theologie in der iranischen Pilgerstadt Qom, um eines Tages zum Großajatollah ernannt zu werden und mit diesem Rang irgendwann die Nachfolge des Ali Al Sistanis, des 81jährigen geistlichen Anführers der irakischen Schiiten, anzutreten. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß Al Sadr bei seinem historischen ersten Besuch im irakischen Kurdistan aus Teheran kam und anschließend nach Nadschaf, die schiitische Pilgerstadt im Süden des Iraks, wo Al Sistani zurückgezogen lebt, flog.

An einer Beilegung des innenpolitischen Streits in Bagdad dürfte auch das Nachbarland Iran, der Staat mit der weltweit größten schiitischen Bevölkerung, starkes Interesse haben. Für den 23. Mai sind in Bagdad internationale Verhandlungen zwecks Lösung des Streits um das iranische Atomprogramm geplant. Gelingt es Teheran, das gute Kontakte sowohl zu Al Maliki als auch Al Sadr pflegt, für eine Deeskalation der innenpolitischen Konfrontation im Irak zu sorgen, könnte dies positive Auswirkungen auf die Gespräche mit den Vertretern der USA, der anderen vier ständigen Mitgliedsländer des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen - China, Frankreich, Großbritannien und Rußland - plus Deutschlands (die sogenannte P5+1-Gruppe) haben.

28.‍ ‍April 2012