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NAHOST/1234: Greift die NATO wegen Chemiewaffen in Syrien ein? (SB)


Greift die NATO wegen Chemiewaffen in Syrien ein?

Obamas "rote Linie" - nur ein Vorwand, um die Niederlage abzuwenden?



Seit General Itai Brun vom israelischen Militärgeheimdienst am 23. April mit der "Erkenntnis" an die Öffentlichkeit gegangen ist, es gäbe Beweise dafür, daß die regulären Streitkräfte in Syrien in den letzten Monaten sarinhaltige Giftgasgranaten gegen die Aufständischen eingesetzt hätten, tobt innerhalb der NATO die Diskussion um eine westliche Militärintervention in dem seit zwei Jahren vom Bürgerkrieg erschütterten Land. Schließlich hatte US-Präsident Barack Obama den syrischen Staatschef Baschar Al Assad im August vergangenen Jahres davor gewarnt, durch den Einsatz von Chemiewaffen gegen die militante Opposition die "rote Linie" zu überschreiten, weil dies unweigerlich ein militärisches Handeln der USA -und voraussichtlich ihrer engsten Verbündeten - nach sich ziehen würde. Noch zögert Obama, seinen Worten Taten folgen zu lassen, wofür es einen guten Grund gibt. Eine direkte Intervention derjenigen westlichen Staaten, die seit 2011 die Aufständischen in Syrien diplomatisch, finanziell, humanitär und militärisch unterstützen, könnte ein Regionalinferno auslösen, das das bisherige Blutvergießen in Syrien in den Schatten stellen würde.

Der Zeitpunkt für General Bruns' Enthüllung war von israelischer Seite geschickt gewählt. Im Grunde genommen hat der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu seinen politischen Widersacher Obama vorgeführt. Am Tag davor war der neue US-Verteidigungsminister Chuck Hagel in Jerusalem gewesen, ohne daß ihm die israelischen Gesprächspartner auch nur das Geringste von ihren "Beweisen" für den Giftgaseinsatz in Syrien mitgeteilt hätten. Man ließ die Bombe erst platzen, als die NATO-Außenminister in Brüssel tagten. Im Vorfeld des Treffens hatten Frankreich und Großbritannien einem angeblichen Giftgas-Vorfall vom 19. März in Aleppo große Bedeutung beigemessen, während die USA, allen voran Hagel und Außenminister John Kerry, das Thema nicht so hochhängen wollten. Als dann in der belgischen Hauptstadt die Nachricht von der Stellungnahme Bruns' auf einer Sicherheitskonferenz in Tel Aviv eintraf, sah sich Kerry genötigt, sich telefonisch bei Netanjahu nach den Details zu erkundigen. Nach eigenen Angaben hat der ehemalige Senator aus Massachusetts vom Likud-Chef nichts Neues erfahren, was ihn zur Revidierung seiner bisherigen Einschätzung veranlassen müßte.

Nichtsdestotrotz dauerte es nicht lange, bis auch die USA sich dem Standpunkt der Israelis anpaßten. In einem Brief an den Senat in Washington erklärte Pentagonchef Hagel am 25. April, die US-Geheimdienste seien "mit einer gewissen Zuversicht" zu dem Schluß gekommen, daß die syrischen Streitkräfte Chemiewaffen "in kleinen Mengen" gegen die Rebellen eingesetzt hätten. Am nächsten Tag hat Obama seine "rote Linie" leicht nachgebessert, und zwar mit der Formulierung: "Wir können dem systematischen Einsatz von Kampfmitteln wie Chemiewaffen gegen die Zivilbevölkerung nicht tatenlos zusehen oder ihn dulden."

Die gewählten Volksvertreter auf dem Kapitol interessieren sich nicht für die feinen Unterschiede zwischen "systematisch ... gegen die Zivilbevölkerung" und "kleinen Mengen" gegen die Aufständischen. Sie sehen die Glaubwürdigkeit der USA als Supermacht in Frage gestellt, wenn Obama das angebliche Überschreiten seiner "roten Linie" nicht sofort ahndet. Wenige Tage nach dem Bombenanschlag auf den Bostoner Marathon sind sich Demokraten und Republikaner sowie neokonservative Medienkommentatoren darüber einig, daß Amerika militärische Stärke gegen Syrien zeigen muß. Der einflußreiche republikanische Senator John McCain aus Arizona hat seine schon länger bestehende Forderung nach Luftunterstützung und der Einrichtung von Schutzzonen für die syrischen Rebellen an der Grenze zur Türkei und Jordanien - ähnlich der erfolgreichen NATO-Operation 2011 gegen das "Regime" Muammar Gaddhafis in Libyen - erneuert, während seine demokratische Kollegin Claire McCaskill aus Missouri sogar die Entsendung von US-Bodentruppen nicht ausschließen wollte.

Bei Auftritten in den allsonntäglichen Politrunden im US-Fernsehen haben am 27. April McCain und Lindsay Graham, der republikanische Senator aus South Carolina, die beide dem Verteidigungsausschuß des amerikanischen Oberhauses angehören und dort als Kriegsfalken bekannt sind, Obama vor Zögerlichkeiten in der Syrien-Frage gewarnt, weil dies ein verheerendes Signal wäre, das unter anderem die Iraner zur Verstärkung ihrer Atombombenforschung ermutigen würde. (Von der Tatsache, daß es nach Angaben aller 17 US-Geheimdienste und der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) im Iran kein Atomwaffen-, sondern lediglich ein Kernkraftprogramm gibt, lassen sich Populisten wie McCain und Graham natürlich nicht irritieren.)

Inzwischen hat der politische Druck auf Obama, in Syrien militärisch zu intervenieren, dermaßen zugenommen, daß Netanjahu Presseberichten zufolge seine Minister angewiesen hat, sich nicht mehr öffentlich zu diesem Thema zu äußern. Hatte der stellvertretende israelische Außenminister Zeev Elkin noch am 26. April in einem Radio-Interview der internationalen Gemeinschaft nahegelegt, das syrische Chemiewaffenarsenal gewaltsam an sich zu reißen und den Westen vor dem Verlust an Glaubwürdigkeit gewarnt, sollten seine "roten Linien" als flexibel und nicht absolut erscheinen, so ruderte zwei Tage später Yuval Steinitz, in der Netanjahu-Regierung Minister für strategische und geheimdienstliche Angelegenheiten, kräftig zurück. In einem Artikel der New York Times wurde Steinitz, der am Tag davor auf einer von der Jerusalem Post veranstalteten Konferenz in der Stadt am Hudson eine Rede hielt, mit der Behauptung zitiert, Israel hätte die USA "niemals darum gebeten oder sie dazu ermutigt, in Syrien militärisch einzugreifen".

Das Rückzugsmanöver Tel Avivs ist leicht zu erklären. Sollten die NATO-Staaten Luftangriffe auf Ziele der syrischen Streitkräfte durchführen, könnten sich diese gezwungen sehen, per Raketen chemische Kampfstoffe auf Truppenansammlungen und militärische Objekte in Jordanien, Israel und der Türkei abzufeuern. Direkte Raketenangriffe der NATO auf syrische Lager- oder Produktionsstätten von Chemiewaffen könnten zur großangelegten Verseuchung und Tötung zahlreicher Menschen führen. Hinzu kommt die Gefahr, daß besagte Chemiewaffen in die Hände von sunnitischen Extremisten, die einen Großteil der syrischen Rebellen darzustellen scheinen, geraten könnten. Der 2011 mit Hilfe der NATO erzwungene "Regimewechsel" in Libyen sollte ein mahnendes Beispiel sein, was passiert, wenn man religiösen Fanatikern hilft, sich der säkularen staatlichen Ordnung zu entledigen. Zwei Jahre später herrscht in Libyen das blanke Chaos. Mit den gestohlenen Waffen aus den Lagern Gaddhafis werden derzeit weite Teile Nordafrikas destabilisiert; siehe Mali.

Die syrische Regierung hat ihrerseits den Vorwurf, Chemiewaffen gegen die Rebellen im eigenen Land eingesetzt zu haben, von sich gewiesen. Sie behauptet, die Aufständischen, die letztes Jahr eine Chemiefabrik eroberten, hätten selbst zu der abscheulichen Maßnahme gegriffen. Bei einem Auftritt am 27. April im staatlichen Fernsehen führte Syriens Informationsminister Omran Al Zoubi die "amerikanische Hysterie" in dieser Frage auf die jüngsten Erfolge der syrischen Streitkräfte im Kampf gegen die "Terroristen" zurück. Washington, London und Paris befürchteten eine Niederlage der Rebellen und suchten nun nach einem Vorwand, um ihnen militärisch beizuspringen, so Al Zoubi. Die Behauptung des Assad-Getreuen ist nicht ganz von der Hand zu weisen. In der vergangenen Woche sollen die syrischen Streitkräfte im Raum Homs wichtige Geländegewinne gegen die Rebellen erzielt haben. So gelang es ihnen dort offenbar, die wichtige Verbindungsstraße zwischen Damaskus und der Mittelmeerküste zu sichern und die Nachschublinie der Aufständischen über den Norden des Libanons zu unterbrechen.

Dafür, daß die militärische Lage der syrischen Armee und damit die politische Position Baschar al Assads weiterhin ziemlich stark ist, spricht der jüngste Bericht des namhaften britischen Nahost-Korrespondenten Robert Fisk aus dem Kriegsgebiet im Norden Syriens. Der ausführliche, empfehlenswerte Artikel, der am 27. April beim Londoner Independent erschienen ist, trug folgende Überschrift (in der SB-Übersetzung): "Die syrische Armee wähnt sich auf der Siegerstraße - Der Tod belauert das syrische Regime genauso wie die Rebellen; doch an der Kriegsfront ist der Armee des Regimes nicht nach Kapitulation zumute, und sie behauptet, keine Chemiewaffen nötig zu haben".

29. April 2013