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NAHOST/1306: Libyen wird immer mehr zum gescheiterten Staat (SB)


Libyen wird immer mehr zum gescheiterten Staat

Auflösungserscheinungen von Tripolis bis Benghazi



Während die "Wertegemeinschaft" NATO in der Ukraine-Krise die Muskeln spielen läßt und Rußland militärisch in die Defensive zu zwingen versucht, nehmen die Hiobsbotschaften aus dem Land, wo die Nordatlantiker ihre letzte große Kriegsintervention angezettelt haben, kein Ende. Drei Jahre nachdem islamistische, al-kaida-nahe Milizen mit Unterstützung von NATO-Kampfjets und westlichen Spezialstreitkräften Muammar Gaddhafi gewaltsam gestürzt haben, bietet Libyen ein trostloses Bild: politisches Chaos, sinkende Öl- und damit Staatseinnahmen sowie außer Kontrolle geratene Milizen, die reguläre Polizei und Armee nicht zu bändigen wissen. Allmählich entwickelt sich Libyen zu dem, was die Kritiker der NATO-Intervention lange befürchtet haben, nämlich einem "gescheiterten Staat" à la Somalia am Mittelmeer.

Das Interimsparlament, der General National Congress (GNC), entließ am 11. März Premierminister Ali Zeidan, nachdem es der Regierung in Tripolis nicht gelungen war, das Auslaufen eines nordkoreanischen Tankschiffs zu verhindern, mit dem die Rebellen in Ostlibyen um die Islamistenhochburg Benghazi auf eigene Faust ins internationale Ölgeschäft einsteigen wollten. Als daraufhin die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Zeidan wegen Korruption einleitete, konnte sich der geschaßte Ex-Premierminister am 12. März gerade noch rechtzeitig mit einem Privatjet nach Deutschland absetzen. Als Übergangsregierungschef wurde Verteidigungsminister Abdullah Al Thani eingesetzt.

Knapp einen Monat nach seiner Amtseinführung verkündete Al Thani seinen Abschied von der politischen Bühne. Er begründete den überraschenden Schritt mit einem Überfall auf ihn und seine Familie in Tripolis, für den er Milizionäre verantwortlich machte. Bereits Anfang April hatte sich Parlamentspräsident Nuri Abu Sahmain - bis dahin Libyens mächtigster Politiker - "zu medizinischer Behandlung" ins Ausland begeben. Anlaß war die Ausstrahlung eines kompromittierenden Videos, in dem der Islamist Sahmain von dem bewaffneten Milizenkommandeur Haitham Al Tajouri mit dem Vorwurf konfrontiert wird, sich spätabends in seiner Wohnung mit zwei Damen getroffen zu haben. Vor Angst zitternd versucht Sahmain den Milizionär davon zu überzeugen, daß nichts unanständiges dabei war, daß die beiden Frauen ihm "heikle Informationen" über ein Mordkomplott gegen seine Person überbringen wollten. Darauf erwidert Al Tajouri, der Parlamentspräsident solle ihn nicht für dumm verkaufen. Inzwischen hat der Generalstaatsanwalt die Aufhebung der Immunität von Sahmain, dessen Aufenthaltsort weiterhin unbekannt ist, beantragt, um Licht in die unrühmliche Affäre zu bringen.

In den letzten Wochen hat sich die Suche nach einem Nachfolger für Al Thani, der dann der fünfte Premierminister Libyens seit der Ermordung Gaddhafis wäre, als schwierig erwiesen. Eine für den 29. April anberaumte Kampfabstimmung zwischen den beiden populärsten Kandidaten, Ahmed Maitik und Omar al Hasi, mußte verschoben werden, nachdem aufgebrachte Milizionäre das Parlamentsgebäude stürmten, Schüsse abgaben, mehrere Personen verletzten und die Volksvertreter vertrieben. Bei den Schützen soll es sich um Anhänger eines der fünf Bewerber gehandelt haben, der in der ersten Wahlrunde mit seiner Kandidatur gescheitert war. Am 4. Mai wurde die Kampfabstimmung wieder aufgenommen. Maitik, ein 42jähriger Geschäftsmann aus Misurata, soll sie gewonnen haben. Er wurde jedenfalls am selben Tag als Premierminister vereidigt. Allerdings fechten zahlreiche Parlamentarier die Wahl Maitiks wegen der chaotischen Verhältnisse im Saal an. Derweil ist nicht einmal klar, ob De-Facto-Premierminister Al Thani bereit ist, seinen Stuhl für den designierten Nachfolger freizumachen.

Das Durcheinander im Parlament spiegelt die Wirklichkeit des libyschen Alltags außerhalb der parteipolitischen Sphäre wider. Aufgrund von Granatenschüssen auf den Flughafen von Tripolis sahen sich Mitte April mehrere internationale Luftlinien, darunter Alitalia, Austrian Airlines, Lufthansa und British Airways veranlaßt, ihre Flüge in die libysche Hauptstadt zu suspendieren. Am 15. April wurde der jordanische Botschafter in Tripolis, Fawaz Al Etan, von schwerbewaffneten Milizionären entführt, die anschließend per Internetbotschaft die Freilassung islamistischer Kampfgefährten in Jordanien gefordert haben. Zehn Tage später haben die jordanischen Behörden den Libyer Mohammed Al Darsi, der 2007 wegen eines geplanten Bombenanschlags auf den internationalen Königin-Alia-Flughafen von Amman zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt worden war, freigelassen und in ein Flugzeug nach Tripolis gesetzt. Trotzdem hat es bis heute von Botschafter Al Etan kein Lebenszeichen gegeben.

Am 2. Mai ist es zu einem schweren Überfall auf das Polizeihauptquartier in Benghazi gekommen, bei dem sechs Soldaten und drei Polizisten ums Leben kamen und 24 weitere Personen schwer verletzt wurden. Bei den Angreifern soll es sich um Mitglieder der Ansar Al Scharia gehandelt haben, die 2012 bekanntlich das US-Konsulat in der ostlibyschen Hafenmetropole gestürmt und den amerikanischen Botschafter Christopher Stevens sowie drei seiner Mitarbeiter getötet haben. Anlaß zu dem Überfall auf das Hauptquartier der Polizei in Benghazi soll die Beschlagnahmung eines Fahrzeuges voller Waffen am Tag davor gewesen sein. Offenbar wollte sich die Ansar Al Scharia, die auf Washingtons Liste der internationalen "Terrororganisationen" steht, mit dem Verlust ihrer Rüstungsgüter nicht abfinden. Ob und in welcher Höhe die Angreifer Verluste zu verzeichnen hatten, ist ungewiß. Jedenfalls mußten sie unverrichteter Dinge, das heißt ohne die beschlagnahmten Waffen, wieder abziehen.

Dieser Mini-Erfolg der Sicherheitskräfte in Benghazi gegen das Bandenwesen soll nicht über den fortlaufenden Zerfall der staatlichen Ordnung in Libyen hinwegtäuschen. Eher repräsentativ für die prekäre Lage in dem nordafrikanischen Land ist die spektakuläre Meldung der US-Internetzeitung Daily Beast vom 23. April, wonach sich eine Miliz unter der Führung von Ibrahim Ali Abu Bakr Tantoush, einem ehemaligen Kampfgefährten Osama Bin Ladens, der in die verheerenden Anschläge 1998 auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam verwickelt gewesen sein soll, in einem Stützpunkt 27 Kilometer von Tripolis einquartiert hat, der 2012 vom US-Militär aufwendig renoviert worden war und in dem die libysche Armee von amerikanischen Spezialstreitkräften im "Antiterrorkampf" ausgebildet werden sollte. 2013 mußte der Stützpunkt von der libyschen Armee aufgegeben werden, nachdem er von zwei islamistischen Milizen eingenommen worden war.

6. Mai 2014