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NAHOST/1315: Iraks Sunniten entziehen sich der Kontrolle Bagdads (SB)


Iraks Sunniten entziehen sich der Kontrolle Bagdads

ISIS und Saddams alte Garde stellen Premierminister Maliki bloß



Nichts wäre verkehrter, als den spektakulären Vormarsch sunnitischer Aufständischer in den letzten Tagen in den irakischen Provinzen Anbar und Nineveh ausschließlich der Kampfkraft der "Terrorgruppe" Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIS) zuzuschreiben. Allein mit der Hilfe Allahs bzw. wegen ihres angsteinflößenden Rufs ist es den geschätzten 800 ISIS-Kämpfern bei der Einnahme von Mossul, der zweitgrößten Stadt des Iraks, jedenfalls nicht gelungen, 30.000 Soldaten der regulären irakischen Streitkräfte in die Flucht zu schlagen. Hinter der schweren militärischen Niederlage der schiitisch dominierten Truppen der Zentralregierung in Bagdad stecken die ehemaligen Vertrauensleute Saddam Husseins, die nach dem angloamerikanischen Einmarsch 2003 in den Untergrund gegangen sind und sich bis heute mit ihrer Verdrängung von der Macht im Irak nicht abgefunden haben.

Trotz der Schreckensnachricht von einer halben Million Menschen, die aus Angst vor Übergriffen salafistischer ISIS-Gotteskrieger aus Mossul geflohen waren, berichtete die im kurdischen Erbil ansässige Onlinezeitung Rudaw am 13. Juni, daß die Lage in der Stadt ruhig sei und ehemalige Kommandeure Saddam Husseins, die einst Bombenanschläge und Überfälle gegen die Amerikaner durchführten, ein Volkskomitee gegründet und die öffentliche Ordnung sichergestellt hätten. Dazu Rudaw: "In früheren Berichten aus gut informierten Kreisen wurden neun Generäle aus Saddams Armee erwähnt, die mit den Kämpfern gekommen sind und den Gouverneurssitz unter ihre Kontrolle gebracht haben. Drei von Saddams Generälen, die in der neuen irakischen Armee dienten, haben die Seiten gewechselt."

Anführer der Gruppe ehemaliger Baath-Mitglieder, die sich seit 2003 im Aufstand gegen die neuen Machthaber in Bagdad im Aufstand befinden, ist Ezzat Ibrahim Al Duri. Nach der Gefangennahme Saddam Husseins Ende 2003 hat dessen ehemaliger Stellvertreter im Nationalen Staatsrat den Vorsitz der von den Amerikanern verbotenen irakischen Baath-Partei übernommen. Am 13. Juni berichtete der arabische Nachrichtensender Al Jazeera, daß Al Duri nach der Einnahme von Saddams Heimatstadt Tikrit durch ISIS und deren Verbündete am Tag davor das Grab des 2006 hingerichteten ehemaligen irakischen Präsidenten besucht habe, um seinem alten Freund die letzte Ehre zu erweisen. Ebenfalls am 13. Juni meldete die jordanische Zeitung Al-Quds aus Amman, Saddams älteste Tochter Raghad, die mit ihrer Familie im Exil in Jordanien lebt, begrüße den Vormarsch der Aufständischen im Irak. Sie wurde mit den Worten zitiert: "Diese Siege machen mich glücklich. Das sind die Siege der Kämpfer meines Vaters und meines Onkels Ezzat Al Duri. Ich bin erleichtert. Eines Tages werde ich in den Irak zurückkehren und das Grab meines Vaters besuchen. Vielleicht nicht so bald, aber es wird mit Sicherheit passieren."

In was für einen Irak Raghad Hussein irgendwann einmal zurückkehren wird, ist unklar. Denn durch den jüngsten Vorstoß von ISIS und deren Verbündeten hat der einheitliche irakische Staat endgültig aufgehört zu existieren. Die sunnitischen Provinzen Anbar und Nineveh unterliegen nicht mehr der Kontrolle Bagdads. Vor zwei Tagen haben die Peschmerga das entstandene Machtvakuum genutzt, um die Stadt Kirkuk endgültig zu erobern und sie dem Kurdischen Autonomiegebiet Nordiraks zuzuschlagen. Für diese Entwicklungen trägt der Schiite Nuri al Maliki, der in Personalunion als Premier-, Innen- und Verteidigungsminister die sunnitische Bevölkerung in den Zentralprovinzen des Iraks seit Jahren drangsaliert und ihre politischen Vertreter verfolgt, die Hauptverantwortung.

In Bagdad und im Süden des Iraks rüsten nun die Schiiten für einen erneuten Bürgerkrieg gegen die Sunniten. Nachdem am 13. Juni der höchste schiitische Geistliche des Iraks, Großajatollah Ali Sistani, alle männlichen Glaubengenossen zu den Waffen gerufen hatte, bildeten sich in der Hauptstadt und südlich davon vor den Rekrutierungsbüros der irakischen Armee lange Schlangen. Zur großen Schlacht könnte es bei Samarra kommen, die derzeit von der ISIS umzingelt wird. Die 110 Kilometer nördlich von Bagdad, in der sunnitisch dominierten Provinz Salah ad-Din liegende Stadt ist wegen des Schreins der zwei Imame einer der wichtigsten Wallfahrtsorte des Schiitentums. Ein Bombenanschlag auf die Goldene Moschee dort im Februar 2006, hinter dem die Schiiten sunnitische Extremisten vermuteten, war der Auftakt zu einem grausamen Bürgerkrieg, der erst ab 2008 wieder abflaute aber niemals gänzlich erlosch.

Von nicht geringer Bedeutung für die weitere Entwicklung im Zweistromland dürfte auch der Verlauf des seit 2011 tobenden Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien sein. Die ISIS hat weite Teile des syrischen Ostens an der Grenze zum Irak unter ihre Kontrolle gebracht und finanziert ihren Zweifrontenkrieg gegen die Regierungen in Damaskus und Bagdad nicht nur aus Spenden aus Saudi-Arabien und den arabischen Golfstaaten sondern auch aus dem Ölgeschäft. Es stellt sich jedoch die Frage, wie lange die Allianz zwischen ISIS und den ehemaligen Kampfgefährten Saddam Husseins halten wird. Al Duri selbst ist Sufi und dürfte daher aus salafistischer Sicht als Ungläubiger oder Ketzer gelten. Saddams Männer gehören nach wie der arabisch-sozialistischen Baath-Partei an. Damit stehen sie ideologisch dem säkularen Schwester-"Regime" Baschar Al Assads näher als der ISIS. Doch bei Bürgerkriegen, wo die Akteure häufig die Verbündeten wechseln und Opportunismus und Verrat ganz oben auf der Tagesordnung stehen, spielt Ideologie bekanntlich meistens eine untergeordnete Rolle.

14. Juni 2014