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NAHOST/1326: Der Irak von Auflösungserscheinungen gekennzeichnet (SB)


Der Irak von Auflösungserscheinungen gekennzeichnet

Kurden und Sunniten wenden sich vom schiitisch dominierten Bagdad ab



Aktuell befindet sich Premierminister Nuri Al Maliki auf dem besten Weg, als Totengräber des Staates Irak in die Geschichtsbücher einzugehen. Der schiitische Politiker, der sich während der Ära Saddam Husseins im iranischen Exil aufhielt, hat es seit seinem Amtsantritt 2006 versäumt, auf die Kurden und Sunniten zuzugehen. Statt dessen hat er die wichtigsten Posten im Militär und in der Staatsverwaltung mit schiitischen Glaubensgenossen besetzt und ist durch die spätere Übernahme der Ressorts Inneres und Verteidigung beinahe zum Diktator geworden. Die von ihm zu verantwortenden Repressalien gegen die Sunniten haben sich durch den gewaltigen Aufstand der Gruppe ISIS, deren Anführer Abu Bakr Al Baghdadi am 29. Juni weite Teile des Iraks und Syriens zum Kalifat mit Namen Islamischer Staat (IS) erklärt hat, gerächt. Die mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinzen in der Mitte und im Nordwesten des Iraks befinden sich nicht mehr unter der Kontrolle der Zentralregierung. Statt dessen rücken die sunnitischen Aufständischen der Hauptstadt immer näher und drohen, sie zu übernehmen.

Auch die Kurden wollen mit Al Maliki nichts mehr zu tun haben. Seit Jahren liegen Bagdad und Erbil, die Hauptstadt der Kurdischen Regionalregierung (KRG), im Streit um die Verteilung der Einnahmen aus dem Ölexport. Weil die KRG auf eigene Faust Ölverträge mit ausländischen Unternehmen schloß und eine Pipeline über die Türkei bis ans Mittelmeer bauen ließ, hat Al Maliki Anfang des Jahres die Auszahlung der Gehälter für die Regierungsbeamten im kurdischen Norden gestoppt. Bei den konstituierenden Sitzungen des neuen, im April gewählten Parlaments hat gerade in den letzten Tagen die Entfremdung zwischen Maliki und den Schiiten auf der einen Seite und den Kurden auf der anderen einen neuen Tiefpunkt erreicht. Am 10. Juli hat Al Maliki in einer Fernsehansprache die KRG bezichtigt, mit Al Bagdhadis IS, den Ex-Baathisten und Al Kaida zu kooperieren und ihr damit Staatsverrat unterstellt.

In Bagdad herrscht große Verärgerung darüber, daß die KRG vor einem Monat bei der Erstürmung von Mossul durch sunnitische Aufständische die Gelegenheit ergriff, die Stadt Kirkuk, deren Status seit langem umstritten ist, von kurdischen Peschmerga-Kämpfern erobern zu lassen. Vor dem Hintergrund des anhaltenden Vormarsches der sunnitischen Rebellen droht KRG-Präsident Mahmud Barsani mit der Durchführung eines Referendums über eine Unabhängigkeit Kurdistans. In einer Replik auf die Kritik Al Malikis hat Barsani am 11. Juli dem Premierminister Hysterie vorgeworfen. Daraufhin hat der irakische Regierungschef den kurdischen Außenminister Hoschjar Zebari kurzerhand entlassen und durch einen schiitischen Parteifreund Hussain Schahristani ersetzt. Im Gegenzug haben die Kurden, die derzeit aufgrund von Anfeindungen und Drohungen das Parlament in Bagdad boykottieren, die beiden wichtigsten Ölfelder Kirkuks von den Peschmergas besetzen lassen und sie somit der Kontrolle des staatlichen irakischen Energieunternehmens entrissen.

Währenddessen setzen die IS-Kämpfer und deren Verbündete ihre Offensive fort und festigen ihre Macht in den von ihnen kontrollierten Gebieten. Am 12. Juli haben sie fast kampflos die Kleinstadt Dululijah, die rund achtzig Kilometer nördlich von Bagdad, unweit der Stadt Balad und dem gleichnamigen Luftwaffenstützpunkt, liegt, eingenommen.

Aus sunnitischen Stammeskreisen hat es in den letzten Wochen mehrfach geheißen, sobald man Al Maliki zum Rücktritt gezwungen und verfassungsmäßig ein neues Gleichgewicht zwischen den Konfessionen und Ethnien durchgesetzt habe - diskutiert wird die Zusammenlegung der sunnitisch und schiitisch dominierten Provinzen zu jeweils eigenständigen Gliedsstaaten ähnlich der KRG mit Bagdad als neutraler Hauptstadt -, würde man sich der IS-Extremisten entledigen, wie es die "Söhne Iraks" zwischen 2006 und 2008 mit Al Kaida gemacht haben. Doch offenbar scheint IS-Kalif Al Baghdadi aus den Fehlern seines Vorgängers Musab Al Zarkawi gelernt zu haben. Am 11. Juli berichtete die US-Zeitungsgruppe McClatchy Newspapers davon, daß die Milizionäre von IS kurz zuvor in Zowiya, einer Kleinstadt nahe Tikrit, ein schreckliches Massaker durchgeführt haben, in dessen Verlauf zahlreiche Ex-Baathisten getötet und die meisten Gebäude zerstört wurden. Offenbar sollte die grausame Aktion als Warnung dienen, daß der IS jeden Widerstand oder Widerspruch in den eigenen Reihen konsequent mit Stumpf und Stiel ausrotten wird.

Nicht nur deshalb scheint die Verwirklichung des Wunschszenarios westlicher Sicherheitsexperten, die Ex-Baathisten und die sunnitischen Stammesmilizionäre gegen die IS-Kämpfer auszuspielen, in weite Ferne zu rücken. Am 14. Juli berichtete die Nachrichtenagentur Agence France Presse von einer neuen Audiobotschaft, in der Saddam Husseins ehemaliger Vizepräsident Izzat Ibrahim Al Duri, der seit 2007 sowohl Vorsitzender der irakischen Baath-Partei als auch Oberbefehlshaber der Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens (JRTN) ist, die Kämpfer "der Ansal Al Sunna ... Al Kaida und des Islamischen Staats" als "Helden und Ritter" gepriesen hat. Den Verbündeten brachte der letzte große Vertreter der alten Saddam-Garde wörtlich "Stolz, Anerkennung und Liebe" entgegen, so AFP.

14. Juli 2014