Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1332: Israel vor der strategischen Niederlage im Gazakrieg (SB)


Israel vor der strategischen Niederlage im Gazakrieg

Benjamin Netanjahu tappt in dieselbe Falle wie Ehud Olmert 2006



Nach 21 Tagen Operation Protective Edge gegen Gaza steht Israel vor dem Scherbenhaufen seiner einseitig militärisch ausgerichteten Politik. Das erklärte Ziel der Operation, die Beseitigung der "terroristischen Infrastruktur" der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas im Gazastreifen konnte bislang nicht erreicht werden und wird es wohl auch nicht mehr. Es werden weiterhin Raketen auf Israel abgefeuert, aber nicht mehr in so großer Zahl wie zu Beginn des Konfliktes. Der Versuch, das unterirdische Tunnelsystem der Hamas mit Bodentruppen zu vernichten, hat sich für die israelischen Streitkräfte als schwieriges Unterfangen erwiesen.

Bei einem einzigen Vorstoß nach Gaza hinein hat Israels kampferprobte Gholani-Brigade am 19. Juli 13 Mitglieder verloren. Das waren die höchsten Verluste, welche die israelische Armee seit dem Libanon-Krieg 2006 gegen die schiitische Hisb-Allah-Miliz an einem Tag zu beklagen hatte. Beim letzten Gazakonflikt, bei dem Tel Aviv Bodentruppen eingesetzt hat - der 22tägigen Operation Cast Lead zur Jahreswende 2008/2009 -, haben die Israelis nur 10 Soldaten verloren. Inzwischen liegt die Zahl der im Rahmen von Protective Edge gefallenen israelischen Soldaten bei 43. Die israelischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben 330 militante Palästinenser getötet und weitere 98 gefangengenommen.

Neben der Schwierigkeit, die erklärte Kriegsabsicht zu verwirklichen, ist es vor allem die Unverhältnismäßigkeit des Leids, das den zivilen Bevölkerungen im Gazastreifen und in Israel zugefügt wird, welche die israelische Seite, insbesondere die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu, in Mißkredit bringt. Infolge der wenig effektiven Hamas-Raketen sind bislang drei Zivilisten in Israel ums Leben gekommen. Dagegen haben Israels hochgerüstete Streitkräfte mit Bomben, Raketen und Artilleriefeuer mehr als 800 Zivilisten, darunter viele Kinder, getötet. Weite Teile der Infrastruktur im Gazastreifen wie die Wasser- und Stromversorgung liegen infolge der israelischen Bombardierung am Boden. Einzelne Bezirke von Gazastadt sehen aus wie Berlin im Mai 1945. Zehntausende Menschen sind obdachlos geworden. Auf der Suche nach Schutz kampieren viele Familien im Freien auf dem Gelände von Krankenhäusern, wodurch die hygenischen Bedingungen dort prekär bis katastrophal geworden sein sollen.

Ungeachtet der Frage nach dem militärischen Sinn von Protective Edge steht außer Zweifel, daß die Operation dem Ansehen Israels weltweit schwer geschadet hat. Die vielen Bilder und Berichte vom schrecklichen Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, verstärkt durch die selbstgerecht wirkenden PR-Maßnahmen Tel Avivs und die rassistischen Ausfälle einzelner israelischer Politiker, haben viel Sympathie für die Sache der Palästinenser erzeugt. Nicht nur in den Großstädten Europas, sondern auch in den Metropolen in den USA finden seit Wochen riesige Demonstrationen gegen das israelische Vorgehen statt. In der amerikanischen Öffentlichkeit, die traditionell eine sichere Bank für Israel gewesen ist, finden kritische Stimmen immer mehr Gehör. Die mediale Definitionsmacht der Zionisten wird zunehmend in Frage gestellt, nicht nur von Vertretern der muslimischen Gemeinde, Realisten unter den außenpolitischen Experten und christlichen sowie säkularen Friedensaktivisten, sondern auch von israelkritischen Juden, deren Zahl von Tag zu Tag steigt.

Es will auch etwas heißen, wenn der amtierende Chef des US-Militärgeheimdienstes, Generalleutnant Michael Flynn, öffentlich davon abrät, die Hamas zu beseitigen, weil an deren Stelle die radikal-sunnitische Gruppe ISIS, die Ende Juni in den von ihr kontrollierten Teilen des Iraks und Syriens ein Kalifat unter Schariagesetz ausgerufen hat, treten könnte. Dies sagte der mehrfach dekorierte Flynn, der viele Jahre im Irak und in Afghanistan gedient hat, am 25. Juli bei einer Podiumsdiskusson auf dem Aspen Security Forum in Colorado. Auch wenn bislang wenig davon im US-Kongreß, wo sich die Kongreßabgeordneten und Senatoren dem finanziellen Einfluß der zionistischen Lobby nicht entziehen können, zu merken ist, haben die jüngsten Ereignisse in Gaza zweifelsohne die öffentliche Wahrnehmung des Nahost-Konfliktes in den USA zuungunsten Israels verschoben.

In den vergangenen Tagen hat US-Außenminister John Kerry mit Vertretern aus Ägypten, der Türkei und Katar sowie den beiden Konfliktparteien Israel und Hamas vergeblich eine Beendigung der militärischen Auseinandersetzung um Gaza herbeizuführen versucht. Israel lehnt eine Waffenruhe ab, um weiterhin seine Bodenoffensive gegen die Tunnelanlagen der Hamas fortsetzen zu können. Die Hamas weigert sich, die Waffen schweigen zu lassen, weil sie im Gegenzug für eine Demilitarisierung Gazas die Aufhebung der seit 2006 von Israel verhängten Blockade will. Hierzu gehört nach Ansicht der Hamas sowohl die Öffnung der Grenzen nach Israel und Ägypten als auch die Inbetriebnahme eines Tiefseehafens und eines internationalen Flughafens, damit die Bewohner des Gazastreifens künftig, ohne ein Veto Israels befürchten zu müssen, in die Welt reisen und Handelsbeziehungen aufbauen können.

Nach Meinung vieler Beobachter gehört als unausgesprochenes Ziel zur Operation Protective Edge der Sturz der palästinensischen Einheitsregierung, welche die in Ramallah im Westjordanland herrschende PLO und die Hamas in Gaza Anfang Juni vereinbart hatten. Hierzu wird es vermutlich nicht kommen. Die Solidarisierung der Palästinenser auf der Westbank mit ihren Landsleuten in Gaza, wie man sie anhand der riesigen Demonstrationen, die zum Teil in gewalttätige Straßenschlachten mit den israelischen Sicherheitskräften ausgeartet sind, beobachten konnte, hat ein Ausmaß erreicht, daß sich Präsident Mahmud Abbas nicht mehr von der Hamas distanzieren darf, selbst wenn er es wollte. Im Gegenteil ist der PLO-Vorsitzende vor wenigen Tagen nach Katar gereist, um sich mit dem im Exil lebenden Hamas-Chef Khalid Meschal über eine gemeinsame Position zu beraten.

Als nach dem einmonatigen Libanon-Krieg im Sommer 2006 feststand, daß Israel 121 Soldaten und die Hisb-Allah-Miliz 200 bis 500 Kämpfer verloren hatte, wurde jener Konflikt von den Militärexperten weltweit als Niederlage für Tel Aviv und die Regierung Ehud Olmerts gedeutet. Allem Anschein nach steuert der aktuelle Gaza-Konflikt auf ein ähnliches Ergebnis zu. Was dies für die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Israelis und Palästinensern - ob im Rahmen einer Ein- oder Zweitstaatenlösung sei dahingestellt -, bedeuten könnte, ist unklar. Für die zukünftige Entwicklung dürfte die innenpolitische Debatte in Israel entscheidend sein. Setzen sich weiterhin diejenigen Kräfte durch, die einen grundlegenden Kompromiß mit den Palästinensern torpedieren und an dem Traum von einem Großisrael festhalten, ist kein baldiges Ende des Blutvergießens in Sicht.

28. Juli 2014