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NAHOST/1371: "Jihadi John" sorgt in Großbritannien für Aufregung (SB)


"Jihadi John" sorgt in Großbritannien für Aufregung

Arbeitet der Henker des Islamischen Staates parallel für den MI5?


In Großbritannien hat die durch die Washington Post am 26. Februar erfolgte Identifizierung des Mannes, der seit vergangenen August in mehreren Enthauptungsvideos des selbsternannten Kalifats Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak die Hauptrolle spielt, dabei mit deutlichem englischem Akzent spricht und deshalb von den Medien unter dem Spitznamen "Jihadi John" geführt wird, als den 26jährigen Mohammed Emzawi, einen in Kuwait geborenen in West London aufgewachsenen Untertanen des Vereinigten Königreiches, eine lebhafte Debatte um die Effektivität der Anti-Terror-Maßnahmen der Geheimdienste ausgelöst. Die Menschenrechtsorganisation Cage Prisoners, die sich für unschuldige Opfer des westlichen "Antiterrorkrieges" einsetzt und dabei Transparenz und die Anwendung herkömmlicher Strafgesetze fordert, hat den britischen Inlandsgeheimdienst MI5 bezichtigt, durch Drohungen und Dauerüberwachung Emzawi in den terroristischen Untergrund gedrängt zu haben. Die Regierung von Premierminister David Cameron hat mit zur Schau gestellter Empörung auf den Vorwurf reagiert und ihrerseits Cage Prisoners vorgeworfen, den islamistischen "Terrorismus" rechtfertigen zu wollen.

Emzawi ist in einem Stadtteil im Nordwesten Londons aufgewachsen, in dem sich in den letzten Jahren laut Behörden Hunderte junger Muslime radikalisierten und als Freiwillige für den Dschihad unter anderem in Somalia, Syrien und im Irak rekrutieren ließen. Zu den sogenannten North London Boys gehörten zwei Männer, die wegen ihrer Teilnahme an den gescheiterten Bombenanschlägen vom 21. Juli 2005 in London zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Jene Anschlagsversuche erfolgten nur zwei Wochen, nachdem vier angeblich von britisch-muslimischen Selbstmordattentätern plazierte Bomben im öffentlichen Verkehrsnetz der Stadt an der Themse explodierten, 52 Menschen töteten und mehr als 700 verletzten.

Im Sommer 2009 ist Emzawi mit zwei Bekannten, Bilal Berjawi und Mohammed Sakr, zu einer Safari nach Kenia aufgebrochen. Man nimmt an, daß der eigentliche Zweck der Reise der Besuch bei der Islamistentruppe Al Schabab in Somalia gewesen ist. Wegen des entsprechenden Verdachts wurde das Trio von den tansanischen Behörden am Flughafen von Daressalam festgenommen und wieder abgeschoben (bei einem späteren Versuch sollen es Berjawi und Sakr nach Somalia geschafft haben, wo beide 2012 bei CIA-Drohnenangriffen ums Leben kamen). Nach der Rückkehr nach Großbritannien bekam es Emzawi mit Vertretern des MI5 zu tun, die ihn angeblich als Informant rekrutieren wollten. Als er sich weigerte, sollen sie ihm damit gedroht haben, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Sie schnüffelten in seinem Privatleben herum und ließen seine Überwachung als potentieller "Terrorist" allgemein bekannt werden, wodurch Emzawi seine Freundin, die Angst bekam, verlor.

Angesichts der unerträglichen Lage riß Emzawi im September 2009 nach Kuwait, wo er viele Verwandte hat und wo sein Vater einst Polizeibeamter gewesen ist, quasi aus. Auf der Basis seines dreijährigen IT-Studiums an der Westminster University hat er in Kuwait-Stadt schnell eine Stelle als Computer-Verkäufer erhalten. Nach Angaben seines damaligen Chefs, der am 2. März im Londoner Guardian zitiert wurde, war Emzawi "der beste Mitarbeiter", den die Firma "jemals hatte". "Er war sehr gut im Umgang mit Leuten. Ruhig und aufrichtig", sagte der Kuwaiti. Darüber hinaus soll Emzawi am Persischen Golf seine Verlobte kennengelernt haben. Der damals 21jährige hatte sein Leben in geordnete Bahnen gebracht und für sich eine Zukunftsperspektive geschaffen.

Während eines Kurzbesuchs bei seiner Familie 2009 in London änderte sich für Emzawi alles zum Negativen. Als er nach Kuwait zurückkehren wollte, verweigerten ihm die britischen Behörden am Flughafen Heathrow die Ausreise. In den darauffolgenden Jahren schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Mehrmals hat er versucht, unter anderem durch die Annahme einer Auslandsstelle als Englischlehrer sowie durch die Veränderung seines Namens, nach Kuwait zurückzugelangen. Doch der MI5 behielt ihn im Blick und ließ ihn nicht ausreisen. 2010 und 2011 schrieb Emzawi mehrere Emails an Robert Verkaik, den Sicherheitskorrespondenten der britischen Zeitung Daily Mail, in denen er sich über die Drangsalierung durch die Geheimdienste beschwerte. Schriftlich drohte er sich umzubringen und bezeichnete sich selbst als "dead man walking".

2013 ist Emzawi untergetaucht. Kurz darauf erhielten seine Eltern die Nachricht, daß ihr Sohn in Syrien ist, wo er auf Seiten der Rebellen gegen die Streitkräfte Baschar Al Assads kämpft. Unklar ist, ob Emzawi die Flucht vor den britischen Geheimdiensten gelungen ist, oder ob seine Ausreise diesmal mit deren Segen erfolgt ist (schließlich unterstützen die NATO-Mächte USA, Großbritannien, Frankreich und Türkei zusammen mit Israel, Jordanien und den arabischen Staaten am Persischen Golf den Aufstand in Syrien, um den gemeinsamen Traum eines "Regimewechsels" in Damaskus zu verwirklichen). Interessanterweise berichtete die BBC am 26. Februar, die britischen und amerikanischen Geheimdienste hätten bereits seit September vergangenen Jahres die Identität von "Jihadi John" gekannt, sie jedoch "aus operativen Gründen" nicht öffentlich bekanntgemacht.

Eine mögliche Erklärung für die Zurückhaltung läßt sich aus folgendem Satz des BBC-Berichtes entnehmen: "Man geht davon aus, daß Großbritannien und die USA Informanten in Rakka, der Hauptstadt des 'Islamischen Staates' haben." Es wäre vorstellbar, daß Emzawi zu diesen Informanten gehört und sich als IS-Henker profiliert, um seine Tätigkeit als Doppelagent zu tarnen. Sollte dies der Fall sein, wäre es keine besondere Überraschung. Schließlich arbeitete als Spitzel für den MI5 jahrelang innerhalb der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) Freddie Scappatici, der dort die interne Abwehrabteilung der Untergrundorganisation führte. Um sich und andere Doppelagenten zu schützen, soll "Stakeknife" Scappatici eine unbekannte, aber nicht geringe Anzahl von IRA-Freiwilligen zu Unrecht sowie durch die Anwendung brutalster Foltermethoden als britische Spitzel "enttarnt" und ermordet haben.

2. März 2015


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