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NAHOST/1424: UN-Vermittler León erweist Libyen einen Bärendienst (SB)


UN-Vermittler León erweist Libyen einen Bärendienst

Innerlibyscher Konflikt durch ausländische Interessen verschärft


Nach dem Scheitern der monatelangen Bemühungen um die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in Libyen wird der scheidende UN-Sondergesandte Bernardino León mit Vorwürfen konfrontiert, wonach er bei seinen Vermittlungsgesprächen zwischen dem von Islamisten dominierten General National Council (GNC) in Tripolis und dem letztes Jahr gewählten Repräsentantenhaus (House of Representatives - HoR) in Tobruk heimlich die Interessen der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) verfolgt und fortlaufend Rücksprache mit Abu Dhabi gehalten haben soll. Dies geht aus belastenden E-Mails hervor, aus denen am 4. und 5. November der Londoner Guardian respektive die Onlinezeitung Middle East Eye zitierten. Der Spanier León, der sich keines Fehlverhaltens bewußt ist, räumte am 6. November sein Amt als UN-Vertreter in Libyen für den deutschen Martin Kobler, um in wenigen Wochen den Direktorenposten der neuen Emirates Diplomatic Academy in Abu Dhabi anzutreten, der ihm ein monatliches Salär von 50.000 Euro einbringen wird.

Im innenpolitischen Konflikt in Libyen agieren ausländische Mächte, die das Geschick des ölreichsten nordafrikanischen Landes mitbestimmen wollen. Hinter dem HoR stehen die VAE und das Ägypten des Militärdiktators General Abdel Fattah Al Sisi. Abu Dhabi und Kairo stehen dem GNC deshalb feindlich gegenüber, weil darin die Partei für Aufbau und Gerechtigkeit, der libysche Ableger der Moslembruderschaft, die bestimmende Kraft ist. Die Emiratis und Ägypter haben seit dem Sturz und gewaltsamen Tod Muammar Gaddhafis 2011 sogar vereinzelte Luftangriffe auf islamistische Rebellenstellungen durchgeführt (am Vorabend seines Staatsbesuchs in Großbritannien hat Al Sisi in einem am 3. November veröffentlichten Interview mit der konservativen Zeitung Daily Telegraph die NATO zu einem größeren Engagement beim Wiederaufbau Libyens und bei der Bekämpfung der von Gruppen wie dem Islamischen Staat (IS) ausgehenden "terroristischen" Gefahr aufgefordert). Seinerseits erhält der GNC Unterstützung von Katar und der Türkei, deren Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst immer mehr in Richtung eines stark sunnitisch geprägten Neo-Osmanentums abwandert.

Aus dem E-Mail-Verkehr Leóns mit VAE-Außenminister Abdullah bin Zayed Al Nahyan geht hervor, daß sich der UN-Vertreter als kein neutraler Vermittler verstand, sondern den GNC stets zu schwächen und das HoR zu stärken versucht hat. Während seiner rund einjährigen Amtszeit als UN-Sondergesandter arbeitete León nach eigenen Angaben auf eine Spaltung des GNC zwischen "gemäßigten" und "extremisten" Kräften hin. Mit ersteren sollte sich das HoR versöhnen, während die letzteren von der libyschen Armee unter der Führung des CIA-Verbindungmanns General Khalifah Hifter bekämpft werden sollten.

Damit die Ausschaltung der mit dem GNC verbündeten Islamisten gelinge, sollte eine Versöhnung zwischen den Vertretern der Milizen in der reichen Handelsstadt Misurata auf der einen Seite, dem HoR und Hifters Armee auf der anderen herbeigeführt werden. Angesichts der aufgetretenen Spannungen beim GNC scheint Leóns Plan bereits in Ansätzen aufgegangen zu sein. Am 2. November wurde Mohamad al-Gaddar, Planungsminister des GNC, von einer Miliz namens Revolutionäre von Tripolis entführt, die angeblich unter der Kontrolle des Innenministers Haytham Al Tadschouri stehen. Die Libysche Dämmerung, welche offiziell als Armee des GNC fungiert, hat die Auflösung der rivalisierenden Gruppe verkündet und die Freilassung von Al Gaddar verlangt.

Insgesamt deutet sich eine Zuspitzung des innenpolitischen Konfliktes in Libyen an. In einem am 2. November erschienenen Interview mit dem bereits erwähnten Daily Telegraph hat GNC-Sprecher Dschamal Zubia der EU damit gedroht, die Schleusentore für afrikanische Flüchtlinge in Libyen zu öffnen, sollten die europäischen Nachbarländer Tripolis nicht mehr unterstützen. Am 5. November haben im Westen Libyens unbekannte Täter rund 50 Tunesier entführt. Sie werden angeblich in Waschafana, das westlich von Tripolis liegt, gefangengehalten. Die Entführer wollen sie offenbar gegen libysche Islamisten austauschen, die in Tunesien im Gefängnis sitzen. In einem am 5. November veröffentlichten Bericht des Chefanklägers des internationalen Strafsgerichthofs in Den Haag, Fatou Bensouda, hieß es, daß 450.000 Menschen innerhalb eines Jahres vor den Kämpfen in Libyen geflohen seien; von den insgesamt 37 Autobomben- und Selbstmordanschlägen in diesem Zeitraum gingen 27 auf das Konto des IS.

Mitte November treffen sich die Außen- respektive Verteidigungsminister der EU zu getrennten Sitzungen in Brüssel. Ein wichtiges Thema der Beratungen dürfte das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer und die sich verschlechternde Lage in Libyen sein. Vieles deutet darauf hin, daß die Europäer die Krise in Libyen dazu nutzen werden, um die außen- und verteidigungspolitische Kompetenz der EU unter Beweis zu stellen. Denkbar wäre ein gemeinsames Vorgehen mit Ägypten in Absprache mit dem HoR und kooperationswilligen Teilen des GNC. Es wäre auch keine Überraschung, wenn in Libyen demnächst mehrere der geplanten neuen "Transitzonen" der EU für Kriegsflüchtlinge eingerichtet würden, während parallel dazu dort Militärausbilder und -berater aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien eine funktionierende Armee und Polizei aufzubauen versuchen.

9. November 2015


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