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NAHOST/1463: Syrien - US-Diplomatenkorps drängt auf mehr Krieg (SB)


Syrien - US-Diplomatenkorps drängt auf mehr Krieg

Obama verliert an Einfluß - Kerry und Clinton im Aufwind


In einem Akt "kollektiven Wahnsinns", wie ihn der renommierte Investigativjournalist Robert Parry nannte, haben 51 Mitglieder des diplomatischen Korps der USA mittels eines dem State Department internen Protestbriefs ein stärkeres militärisches Engagement Amerikas im Syrienkrieg gefordert. Dies berichtete am 16. Juni die New York Times unter der Überschrift "Dozens of U.S. Diplomats, in Memo, Urge Strikes Against Syria's Assad". Mit dem Brief sind die Diplomaten ihrem eigenen Präsidenten Barack Obama in den Rücken gefallen, der mit Hilfe des russischen Amtskollegen Wladimir Putin den Konflikt beizulegen versucht. Schlimmer noch, die aufmüpfigen Staatsdiener im Außenministerium werden von ihrem Vorgesetzten John Kerry öffentlich unterstützt.

Seit Obama im September 2013 seinen angedrohten Angriff auf die Syrische Arabische Armee (SAA) abblies und sich statt dessen mit der von Moskau vermittelten Entscheidung der Regierung in Damaskus zufriedengab, das komplette C-Waffenarsenal Syriens im Ausland vernichten zu lassen, laufen die neokonservativen, liberal-humanitären Kriegstreiber gegen ihren Präsidenten Sturm. Sie werfen Obama vor, die Glaubwürdigkeit Amerikas verspielt, Rußland gestärkt und das Chaos in Syrien verschlimmert zu haben. Doch Obama hatte gute Gründe für seine damalige Kehrtwende: Die angeblichen Giftgasattacken der SAA waren von den Rebellen fingiert, und zwar mit Hilfe der CIA, der Türkei und Saudi-Arabiens, um die USA zum militärischen Eingreifen zu drängen. Kerry behauptete seinerseits im Besitz gesicherter Erkenntnisse zu sein, daß das "Regime" Assads mit C-Waffen im August 2013 in Ghouta, ein von den Aufständischen kontrollierten Vorort von Damaskus, 1729 Zivilisten getötet habe. Deswegen hat damals Putin Kerry in aller Öffentlichkeit einen "Lügner" genannt. Bezeichnenderweise hat der ehemalige Senator aus Massachusetts bis heute keinen einzigen Beleg für die spektakuläre Behauptung vorgelegt.

Damals wurde Obama in seiner abwartenden Haltung von Verteidigungsminister Chuck Hagel und Martin Dempsey, damals Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs, unterstützt. Gemeinsam haben Obama und Dempsey 2014 über Moskau einen geheimen Kommunikationskanal nach Damaskus eingerichtet, um der SAA taktische Informationen der USA über Rebellenbewegungen et cetera zukommen zu lassen. Über diesen wenig bekannten Aspekt des Syrienkriegs berichtete der berühmte Reporter Seymour Hersh im Dezember letzten Jahres für die London Review of Books. Demnach ging es dem Weißen Haus und dem Pentagon darum, einen Kollaps der Regierung in Damaskus zu verhindern, um darüber hinaus eine Katastrophe wie im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 und in Libyen nach der Ermordung Muammar Gaddhafis 2011 zu unterbinden. Laut dem bereits erwähnten Robert Parry hat Obama aus demselben Grund Putin im vergangenen Herbst unter der Hand grünes Licht für eine russische Militärintervention gegeben.

Innerhalb der außenpolitischen Elite Amerikas tobt bis heute ein erbitterter Kampf um den "richtigen" Kurs im Syrienkonflikt, dessen Lunte bereits 2007 von damaligen US-Vizepräsident Dick Cheney und dem früheren nationalen Sicherheitsberater und Geheimdienstchef Saudi-Arabiens, Prinz Bandar bin Sultan, durch die Rekrutierung und Mobilisierung Tausender gewaltbereiter sunnitischer Dschihadisten gelegt wurde. Am Boden in Syrien unterstützt das Pentagon die säkulare syrisch-kurdische Formation YPG, die in der Nähe der türkischen und irakischen Grenzen ein eigenes Autonomiegebiet erkämpft hat, während die CIA, die Türken und die Saudis weiterhin Rebellengruppen wie die Al-Nusra-Front, Jaisch Al Islam und Ahrar Al Scham ausrüsten und finanzieren, die sich von der Ausrichtung her - Stichwort Scharia-Gesetz - nicht wesentlich von der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) unterscheiden und vielfältige Verbindungen zum Al-Kaida-"Netzwerk" unterhalten.

Seit diesem Frühjahr bemühen sich Washington und Moskau um Friedensverhandlungen zwischen der Assad-Regierung und der Opposition. Zu diesem Zweck wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der sich als sehr brüchig erwiesen hat und von dessen Vorzügen Al-Nusra und IS ausgeschlossen sind. Zwischen Russen und Amerikanern gibt es jedoch einen laufenden Disput darüber, wer von den anderen Rebellengruppen "gemäßigt" ist und deshalb nicht mehr angegriffen werden sollte. Der Streit fand am 16. Juni seinen Höhepunkt, als russische Bombenflugzeuge vom Typ Su-34 einen Stützpunkt der Aufständischen bei At Tanf auf der syrischen Seite der gemeinsamen Grenze zu Jordanien angriffen. Wie viele von den rund 200 Rebellen, die laut Angaben des Pentagons zuletzt an Anti-IS-Operationen beteiligt gewesen waren, getötet wurden, ist unklar. Fest steht, daß sich die Russen an der Durchführung der Aktion von entsandten Kampfjets der US-Marine vom Typ F-18 nicht hindern ließen. Dem gefährlichen Vorfall folgte am nächsten Tag eine Videokonferenz, auf der sich ranghohe Vertreter der Außen- und Verteidigungsministerien Rußlands und der USA gegenseitig Vorwürfe machten.

Seit einiger Zeit droht John Kerry mit einem "Plan B" für den Fall, daß bis August die Friedensverhandlungen zu keinem nennenswerten Ergebnis führen. Unter dieser ominösen Bezeichnung versteht man eine Abkehr der USA vom Ziel des Erhalts eines einheitlichen syrischen Staats, der statt dessen in unterschiedliche religiös und ethnisch begründete Verwaltungseinheiten aufgesplittet werden soll. Gegen den Versuch, ein solches Vorhaben zu realisieren - was nicht ohne zusätzliche Waffengewalt der USA gehen dürfte -, werden sich die SAA und deren Verbündete Rußland und Iran mit Sicherheit zur Wehr setzen.

Doch leider stehen die Zeichen im Syrienkonflikt auf Zuspitzung statt auf Deeskalation. Seit Ende 2015 sind Chuck Hagel und Martin Dempsey nicht mehr im Amt. Ihre Nachfolger Ashton Carter und Joseph Dunford gehören der Gattung "kalter Krieger" an und lassen keine Gelegenheit aus, Rußland zu provozieren, sei es im Baltikum, in der Ukraine oder in Syrien. Der Protestbrief der Diplomaten läßt erkennen, daß die tonangebenden Kräfte im State Department Obama inzwischen für eine "lame duck" halten und sich bereits auf die Präsidentschaft Hillary Clintons einrichten. Als Außenministerin von 2009 bis 2013 führte die ehemalige First Lady die Kriegstreiberfraktion in der Obama-Administration an. Zusammen mit dem damaligen CIA-Chef, General a. D. David Petraeus, ließ Clinton größere Mengen gestohlener Waffen und Munition aus den libyschen Armeebeständen per Schiff übers Mittelmeer in die Türkei transportieren und von dort den Rebellen in Syrien zukommen. Bis heute tritt die erste Präsidentin der USA in spe für eine Verhängung einer Flugverbotszone über Syrien ein, was nicht ohne Ausschaltung der russischen Militärkapazitäten vor Ort zu erreichen wäre. Natürlich ist das, was sich in Syrien seit 2011 mit mehr als 400.000 Toten abspielt, schlimm. Es kann aber sehr viel schlimmer kommen.

20. Juni 2016


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