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NAHOST/1494: Schlacht um Mossul entscheidet über Iraks Zukunft (SB)


Schlacht um Mossul entscheidet über Iraks Zukunft

Iraks Regierung sieht in Erdogans Türkei eine existentielle Bedrohung


Seit dem 17. Oktober läuft die Offensive zur Rückeroberung von Mossul. In der zweitgrößten Stadt des Iraks halten sich rund 5000 Freiwillige der "Terrormiliz" "Islamischer Staat" (IS) auf. Ihnen gegenüber stehen 100.000 Soldaten, zusammengesetzt aus kurdischen Peschmerga, sunnitischen Stammeskämpfern, Mitgliedern der regulären irakischen Armee, darunter auch der Spezialstreitkräfte, mehreren tausend US-Militärberatern sowie Angehörigen der sogenannten Volksmobilisierungskräfte, die größtenteils aus schiitischen Milizen bestehen, deren Einsätze wiederum von ranghohen Offizieren der Revolutionsgarden des Irans koordiniert werden. Luftunterstützung erhalten die Belagerer von Mossul am Boden von Kampfjets der Anti-IS-Koalition, darunter auch der USA, Frankreichs, Großbritanniens und der Türkei. Folglich ist die Niederlage des IS absehbar, selbst wenn sich die Einnahme der Millionenstadt als langwierig erweisen sollte. Unabsehbar ist dagegen, wie es in der irakischen Provinz Ninawa, bisher ein Flickenteppich der verschiedenen Ethnien und religiösen Gemeinden, nach der Vertreibung des IS aus der Hauptstadt weitergeht. Beobachter befürchten einen neuen Krieg, bei dem die Türkei versuchen könnte, die ölreiche Region um Mossul und Kirkuk, die einst zum Osmanischen Reich gehörte, für sich zu erobern.

Jedenfalls erlebt die Zivilbevölkerung in und um Mossul derzeit die Hölle. Der IS treibt Zivilisten in den westlichen Teil der Stadt, um sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Gleichzeitig fliehen zahlreich sunnitisch-arabische Familien aus den umliegenden Dörfern nach Mossul aus Angst, als IS-Sympathisanten von schiitischen, christlichen, kurdischen oder turkmenischen Milizionären, die ihrerseits Angst vor Selbstmordattentätern haben müssen, mißhandelt und ermordet zu werden. Der rasche Vormarsch, den die Bodentruppen der Anti-IS-Koalition in den beiden letzten Wochen in Richtung Ostmossul bewerkstelligten, ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß sie viele Dörfern leer vorfanden, sich um die Zivilbevölkerung nicht kümmern mußten und einfach weiterziehen konnten.

Mit jedem Tag steigt die Anzahl der Binnenflüchtlinge. Offiziell sind 18.000 Menschen vor den Kämpfen geflohen. Die seit Monaten prognostizierte humanitäre Katastrophe nimmt traurige Gestalt an. Am 2. November meldete das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), es habe bereits sechs Lager für 50.000 Menschen eingerichtet, elf weitere befänden sich im Aufbau. Mossul wies bei der letzten Volkszählung eine Bevölkerung von zwei Millionen Menschen auf. Auch wenn viele von ihnen - hauptsächlich Nicht-Sunniten - nach der Einnahme der Stadt durch den IS im Juni 2014 geflohen sind, ergibt das immer noch rund eine Million potentielle Flüchtlinge. Sollten die IS-Dschihadisten bis zum letzten Mann kämpfen, wozu ihr Kalif, Abu Bakr Al Baghdadi, in einer am 2. November im Internet veröffentlichten Audiobotschaft aufgerufen hat, dann werden die meisten Mossul-Einwohner, sofern sie es schaffen, die Stadt verlassen müssen - entweder um selbst nicht getötet zu werden oder weil ihre Häuser unbewohnbar geworden sind. Die Luftangriffe und das Artilleriefeuer, wovon die Anti-IS-Koalitionäre dieser Tage reichlich Gebrauch machen, richten in Mossul große Zerstörung an und haben bereits viele Menschenleben gekostet.

Derzeit tobt der Häuserkampf im Ostteil von Mossul, der traditionell mehrheitlich von Christen und Kurden bewohnt wurde. IS-Scharfschützen machen ein Vorankommen ihrer Gegner schwierig. Wie einst in Tigrit, Ramadi und Falludscha greifen die "Terroristen" zur bewährten Taktik des Einsatzes von mit Sprengstoff gefüllten, gepanzerten Fahrzeugen, die von Selbstmordattentätern in die gegnerischen Linien gefahren und dort zur Zündung gebracht werden. Die Feinde des IS versuchen dieser Gefahr durch die Verwendung von panzerbrechenden Raketen und Luftangriffen so gut wie möglich zu begegnen. Um die Sicht der angreifenden Flugzeugpiloten zu blenden, haben die IS-Kämpfer Gräben voller Öl, die sie in den letzten Monaten extra angelegt hatten, in Brand gesetzt. Die Luft über Mossul und Umgebung ist folglich mit Ruß und Ölresten gefüllt. Gegenüber der BBC hat am 3. November ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Save the Children, der sich in Qayyara, achtzig Kilometer südlich von Mossul befand, die schreckliche Lage wie folgt beschrieben: "Über der ganzen Gegend liegt eine feine Schicht aus schwarzem Ruß und Schmutz. Die Kinder, die wir trafen, waren davon völlig bedeckt. Ihre Hände waren schwarz, ihre Füße waren schwarz und ihr Haar war verfilzt ... auf ihrer Haut waren Entzündungen, und sie hatten bereits Lungenprobleme."

Währenddessen nehmen die Spannungen zwischen der Türkei und dem Irak zu. Seit Dezember 2015 halten sich mehrere hundert türkische Soldaten auf einem Stützpunkt in der Ortschaft Bashika nahe Mossul auf. Dort bilden sie eine rund 4500 Mann starke sunnitische Miliz unter der Leitung von Athil Al Nudschaifi aus, dem letzten Gouverneur von Mossul. Eingeladen wurden die Türken nach Bashika von Massud Barsani, dem Präsidenten der Kurdischen Autonomieregion im Irak, der vor wenigen Tagen verkündet hat, nach der Einnahme Mossuls einen unabhängigen Kurdenstaat ausrufen zu wollen. Wenn es nach den Plänen Barsanis geht, soll dieser Staat sowohl Mossul als auch Kirkuk, wo die Peschmerga 2003 nach dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins infolge der angloamerikanischen Invasion die Kontrolle übernommen hatten, miteinschließen. Wie bereits die kurdische Autonomieregion würde das neue Gebilde vermutlich zu einem Vasallenstaat der Türkei werden.

In den letzten Wochen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, deren Regierung seit Jahren sunnitische "Terroristen" in Syrien finanziell und rüstungstechnisch unterstützt, mehrmals für Ankara ein Mitspracherecht bei der Neuordnung der Verhältnisse im Nordirak reklamiert. Erdogan pocht auf eine Beteiligung der türkischen Streitkräfte an der Einnahme sowohl von Mossul als auch von der anderen IS-Hochburg Rakka im Osten Syriens und spielt sich dabei als Schutzpatron der sunnitischen Araber und der Turkmenen auf. Nachdem letzte Woche die türkischen Streitkräfte begonnen hatten, Truppenteile an dem Mossul am nächsten liegenden Abschnitt der irakischen Grenze zusammenzuziehen, um, wie es offiziell hieß, für "Entwicklungen in der Region" gewappnet zu sein, platzte Iraks Premierminister Haider Abadi der Kragen. Auf einer Pressekonferenz in Bagdad am 1. November erklärte er: "Wir wollen keinen Krieg mit der Türkei und wir wollen keine Konfrontation mit der Türkei. Aber sollte es zur Konfrontation kommen, sind wir darauf vorbereitet. Wir werden die Türkei als Feind betrachten und werden wie ein Feind behandeln." Am nächsten Tag bezeichnete der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu Abadi als "schwach" und warf ihm recht undiplomatische Worte an den Kopf: "Wenn Sie so stark sind, warum haben Sie Mossul Terrororganisationen überlassen? Wenn Sie die Stärke haben, warum hält die PKK ihren Boden seit Jahren besetzt?"

Von seiten Rußlands und des Irans, die in Syrien militärisch das "Regime" Baschar Al Assads stützen, gibt es Befürchtungen, die Anti-IS-Koalition greife Mossul vom Osten, Norden und Süden her an und schließe im Westen den Belagerungsring nicht ab, um die Kalifatsanhänger dazu zu bringen, über die nahegelegene syrische Grenze nach Rakka zu fliehen. Um diese Möglichkeit auszuschließen, haben sich die schiitischen Milizen des Iraks, die auf Anweisung Abadis und aus Gründen des gesellschaftlichen Friedens nicht nach Mossul hinein dürfen, in die Region westlich der Stadt begeben, um jeden Fluchtversuch zu unterbinden und dabei anzutreffende Salafisten ins Jenseits zu befördern. Die Anführer derselben schiitischen Milizionäre haben bereits vor Wochen heftigen Widerstand für den Fall angekündigt, daß die Türkei mit Bodentruppen in das Geschehen im Irak eingreift. Ein baldiges Ende des Blutvergießens im Länderdreieck Irak/Syrien/Türkei ist folglich nicht in Sicht.

4. November 2016


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