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NAHOST/1614: Irak - kriegstreibende Strategeme ... (SB)


Irak - kriegstreibende Strategeme ...


Am 12. Mai fanden die Parlamentswahlen im Irak statt. Doch erst am 2. September wurde beim zähen Ringen um die Bildung einer Regierung in Bagdad der Durchbruch gemeldet. 16 Parteien bzw. Wahllisten haben sich auf die Bildung einer Regierungskoalition geeinigt, die sich im 329 Sitze zählenden Parlament auf 177 Stimmen, also eine klare Mehrheit, stützt. Die neue Regierung steht vor enormen Herausforderungen. In Basra wollen die zum Teil gewalttätigen Proteste gegen Mißwirtschaft, Korruption und Wassermangel nicht abreißen. Gleichzeitig steht die irakische Innenpolitik im Schatten der sich zunehmenden Konfrontation zwischen den USA und dem Iran. Das Zweistromland droht offiziell zum Austragungsort eines militärischen Konflikts zwischen Teheran und Washington zu werden - was es inoffiziell seit dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins durch angloamerikanische Truppen 2003 längst ist.

Größte Einzelfraktion im irakischen Parlament wurde bei den Wahlen im Mai mit 54 Sitzen die "Allianz der Revolutionäre für Reform", auch "Al Sairun" ("Die Marschierer") genannt, welche die schiitische Al-Ahrar-Partei des einstigen "Radikalpredigers" Muktada Al Sadr mit den irakischen Kommunisten und einigen kleineren säkularen Gruppierungen gegründet hatte. An zweiter Stelle landete mit 48 Abgeordnetenmandaten die Koalition Al Fatah (Eroberer), die von einstigen Kommandeuren der 2014 zur Zurückschlagung der sunnitischen "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) gegründeten, überwiegend schiitischen Volksmobilisierungskräfte wie Hadi Al Ameri geführt wird. Den dritten Platz machte das Wahlbündnis Nasr Al Irak (Irakischer Sieg) um den bisherigen Premierminister Haidar Al Abadi mit 42 Sitzen. Größte Verliererin der Wahl war die Rechtsstaatskoalition des als höchst korrupt und zu teheranfreundlich geltenden Ex-Premierministers Nuri Al Maliki. Ihr Sitzanteil fiel von 92 auf 25 zurück.

Zusammen mit der Nationalen Weisheitsbewegung des einflußreichen schiitischen Geistlichen Ammar Al Hakim, mehreren sunnitischen Abgeordneten, sowie Vertretern der turkmenischen, jesidischen, mandäischen und christlichen Minderheiten wollen nun Al Sairun, Al Fatah und Nasr Al Irak die neue Regierung bilden. Ob Premierminister Al Abadi sein Amt behält, muß sich zeigen. Unabhängig davon, wer diesen Posten bekleidet, ist Al Sadr, der selbst bei der Wahl nicht kandidierte, als der neue starke Mann im Irak zu sehen. Die Macht und der Einfluß des 44jährigen Sprosses einer berühmten Predigerdynastie dürften bald erheblich zunehmen, denn er gilt längst als Nachfolger der höchsten schiitischen Geistlichkeit des Iraks, des inzwischen 88jährigen Großajatollahs Ali Al Sistani.

Al Sadr hat sich stets als Verfechter eines irakischen Nationalismus hervorgetan. Zu Beginn der angloamerikanischen Besetzung forderte er seine Anhänger dazu auf, den besonders in den sunnitischen Gegenden entstandenen Kampf gegen die ausländischen Invasoren militärisch zu unterstützen. Doch selbst Al Sadr konnte den sunnitisch-schiitischen Bruderkrieg, den CIA und Pentagon durch gezielte Anschläge provozierten, um die Besatzungsgegner zu spalten, nicht verhindern. Um sich vor möglichen Attentaten zu schützen, setzte sich der Schirmherr der sogenannten Mahdi-Armee in den Iran ab. Er widmete sich theologischen Studien in der Pilgerstadt Ghom und kehrte erst 2011, als sich der Abzug der US-Streitkräfte abzeichnete, in den Irak zurück.

Seitdem hat sich Al Sadr als Wortführer der verarmten Massen im Irak einen Namen gemacht. Gegen die von al Maliki angeordnete Niederschlagung der Proteste wegen der Vernachlässigung der mehrheitlich sunnitisch bewohnten Städte und Regionen hat Al Sadr heftig protestiert. Im Sommer 2016 haben seine Anhänger bei einer gezielten Aktion das Regierungsviertel Grüne Zone im Herzen Bagdads mehrere Tage lang besetzt und das Parlament lahmgelegt. Al Sadr hat sich gegen den extrem starken Einfluß, den die Iraner seit 2003 in der irakischen Politik ausüben, zur Wehr gesetzt. Um sein Bekenntnis zu einer schiitisch-sunnitischen Aussöhnung zu unterstreichen, hat er 2017 Riad besucht und dort um saudische Investitionen im Irak geworben. Gleichzeitig hat dies Al Sadr nicht daran gehindert, die saudische Militäraggression im Jemen zu verurteilen. Im vergangenen April hat er sogar seine Bereitschaft erklärt, "zum Wohle des Iraks und der Region Nahost" zwischen dem Iran und Saudi-Arabien zu vermitteln.

Al Sadrs Pochen auf die Eigenständigkeit und Souveränität des Iraks ist den Iranern, die sich nicht zu Unrecht im Fadenkreuz der USA wähnen, suspekt. Deswegen hat Teheran im Frühjahr erklärt, eine Regierung in Bagdad unter Teilnahme von Al Sairun nicht hinnehmen zu wollen. Entsprechende Gespräche soll Qassem Soleimani, der Chef der Al-Quds-Brigade der iranischen Revolutionsgarde, im Vorfeld der Wahlen mit Al Maliki und anderen irakischen Politikern geführt haben. Doch angesichts des Erfolgs von Al Sairun an der Wahlurne hat all das Intrigieren nichts genützt. Man muß dennoch davon ausgehen, daß Teheran bestimmte Zusagen hinsichtlich einer gewissen Rücksicht Bagdads auf die iranischen Interessen erhalten hat. Sonst wäre eine gemeinsame Regierungsbildung von Al Sadrs Leuten mit den Vertretern der Volksmobilisierungskräfte, die seit 2014 beim großen Feldzug gegen den IS aufs engste mit Generalmajor Soleimani und dem iranischen Militär zusammenarbeiten, nicht vorstellbar.

Al Sadr hatte im Wahlkampf eine Auflösung der Volksmobilisierungskräfte bzw. deren Aufnahme in die reguläre irakische Armee gefordert. Ob es hierzu kommt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. In letzter Zeit war es zu Spannungen zwischen dem Noch-Premierminister und der Führung der Volkmobilisierungskräfte gekommen. Am 30. August hat Al Abadi den Leiter der Volksmobilisierungskräfte, Falih Alfajjad, wegen "politischer Einmischung" entlassen. Was wirklich vorgefallen war, wissen nur die beiden selbst. Da darf man gespannt sein, ob in der neuen Koalition die Zusammenarbeit zwischen Al Abadis Nasr Al Irak und den Milizenkommandeuren von Al Fatah funktionieren wird.

Währenddessen hat ein spektakulärer Reuters-Bericht vom 31. August mit der Überschrift "Exclusive: Iran moves missiles to Iraq in warning to enemies - sources" für Aufregung gesorgt. Demnach hat Soleimanis Al-Quds-Brigade vor einiger Zeit begonnen, die Iran-freundlichen schiitischen Milizen im Irak mit Boden-Boden-Raketen zu versorgen, damit diese im Fall eines Krieges zwischen den USA und dem Iran Ziele in Israel und Saudi-Arabien beschießen können. Bei den Raketentypen soll es sich um Zelzal, Fateh-110 und Zolfaqar handeln, deren Reichweiten zwischen 200 und 700 Kilometer liegen. Darüber hinaus behaupten die beiden Reuters-Korrespondenten John Irish und Ahmed Rasheed, die für den Bericht mit drei iranischen, zwei irakischen und zwei westlichen Geheimdienstquellen gesprochen haben wollen, die Iraner brächten ihren Verbündeten im Irak inzwischen bei, wie sie selbst solche Raketen produzieren können.

Seit einigen Wochen melden arabische Medien einen kräftigen Ausbau der US-Militärstützpunkte im irakischen Westen und im syrischen Osten. Der Verdacht liegt nahe, daß es sich dabei um Vorbereitungen auf eine drastische Verschärfung der Lage im Nahen Osten insgesamt handelt. Bis November wollen die USA den Ölexport des Irans "auf Null" gedrosselt haben, wofür im Gegenzug Teheran mit der Schließung der Straße von Hormus für sämtlichen Handelsverkehr rund um den Persischen Golf gedroht hat. US-Präsident Donald Trump hat am 3. September Rußland und Syrien davon abgeraten, ihre geplante Großoffensive zur Rückeroberung der syrischen Provinz Idlib, der letzten Dschihadisten-Hochburg, durchzuführen, während am 31. August der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu dem Iran indirekt mit einer atomaren Auslöschung gedroht hat, sollte Teheran gegen den jüdischen Staat militärisch aktiv werden. Sollte es, wie befürchtet, demnächst zum großen Konflikt zwischen dem Iran, Syrien und Rußland auf der einen und Israel, Saudi-Arabien und den USA auf der anderen Seite kommen, werden die Iraker sicherlich zu den Hauptleidtragenden gehören. Soviel steht jetzt schon fest.

4. September 2018


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