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NAHOST/1653: Syrien - zu Lasten der Wehrlosen ... (SB)


Syrien - zu Lasten der Wehrlosen ...


Im östlichen Syrien, in der kleinen Ortschaft Baghuz am Euphrat, ein Steinwurf von der irakischen Provinz Anbar entfernt, liegt das Kalifat, das Abu Bakr Al Baghdadi im Juni 2014 von der Kanzel der Großmoschee Mossuls aus stolz verkündet hatte, in Trümmern. Die Rückeroberung der zweitgrößten Stadt des Iraks, die handstreichartig durch die Freiwilligen der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) okkupiert worden war, steht kurz bevor. Die Einnahme der einzig verbliebenen IS-Bastion, die am 5. Januar begonnen hat, erweist sich allerdings nach Angaben der mehrheitlich kurdischen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und der sie unterstützenden US-Militärs als enorm schwierig. Die Dschihadisten haben das ein Quadratkilometer große Areal untertunnelt. Der harte Kern von ihnen - die genaue Zahl ist unbekannt - will sich partout nicht ergeben und bis zum letzten Mann kämpfen.

Auf dem Gelände halten sich auch unzählige Ehefrauen und Kinder der IS-Kämpfer auf. Wer die Bilder der laufenden Belagerung in den Fernsehnachrichten oder im Internet gesehen hat, dürfte erschüttert sein über das, was sich momentan in Baghuz abspielt. Das Schlachtfeld erscheint wie ein großer Schrottplatz. Überall befinden sich zerstörte Fahrzeuge, sonstige Metallteile, Erdhügel und zerschlissene Zelte, in denen offenbar einige Familien überwintert haben. Dazwischen irren Frauen in schwarzen Burkas herum, Kinder laufen ihnen hinterher, während Kugeln durch die Luft fliegen, Granaten einschlagen, Feuer brennen und Rauchwolken den Himmel verdunkeln. Bis auf die Tatsache, daß hier keine Fabelwesen auszumachen sind, könnte es sich um eine Höllenszenerie aus dem Kopf von Hieronymus Bosch handeln.

Die Offensive gegen Baghuz dauert inzwischen mehr als zweieinhalb Monate, weil die SDF sie immer wieder tagelang unterbrochen haben, um Frauen und Kinder zu evakuieren und jene IS-Rekruten, die sich doch noch ergeben wollten, in Gefangenschaft zu nehmen. Daß diese Vorgehensweise mit Gefahren verbunden ist, zeigt ein Vorfall, der sich am 14. März an der Frontlinie ereignete. Drei in Burkas gekleidete Selbstmordattentäter haben sich unter die Fliehenden gemischt und sich an einem Kontrollpunkt der SDF in die Luft gejagt. Bei dem Anschlag kamen sechs Zivilisten um Leben, während drei SDF-Kämpfer schwer verletzt wurden. Die drei Täter starben an Ort und Stelle. Deren Leichen waren durch die Explosion der Sprenggürtel so zerfetzt, daß unklar geblieben ist, ob es sich um Männer oder Frauen gehandelt hat.

Für die SDF ist es wegen der ganzen Untertunnelung von Baghuz ganz schwer einzuschätzen, wie viele Personen sich dort überhaupt noch aufhalten. In den letzten Wochen haben die SDF Tausende von Menschen evakuiert. In einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters vom 15. März wurde SDF-Sprecher Kino Gabriel mit den Worten zitiert: "Die Zahl der Menschen, die in den letzten 20 bis 25 Tagen herausgekommen sind, ist wirklich eine Überraschung. Die Realität, die wir erleben, zeigt das Ausmaß der Vorbereitungen des IS für diese letzte Schlacht. Es gibt Minen, Bomben, Tunnel und Unterschlupfe. Wir bekommen den Gegner gar nicht zu sehen."

Die SDF haben die Evakuierten in verschiedenen Notlagern im Gouvernement Deir ez-Zur untergebracht. Allein im größten dieser Lager mit dem Namen Al-Hol sollen sich 67.000 Menschen befinden, die zu 90 Prozent aus geflohenen Frauen und Kindern aus Baghuz bestehen. Die humanitären Bedingungen in Al-Hol sollen wirklich katastrophal sein. Lebensmittel, Medikamente und Heizmaterial sind Mangelware. Viele der Kinder sind nicht nur unterernährt, sondern auch krank. Seit Ende Februar sind dort 117 Kinder unter 12 Jahren an Mangelernäherung und allgemeiner Schwäche gestorben. Dies meldete am 15. März die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua unter Verweis auf Zahlen der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Vor diesem Hintergrund ist die Weigerung praktisch aller westlichen Länder, jenen jungen Bürgerinnen muslimischen Glaubens, die sich ab 2014 in den Osten Syriens bzw. des Westens des Iraks begeben haben, um sich am Aufbau des IS-Kalifats zu beteiligen, und jetzt dort stecken geblieben sind, humanitäre Hilfe zu leisten, mehr als schäbig. Die USA und Großbritannien haben im Februar die Staatsbürgerschaft jeweils der 24jährigen Hoda Muthana aus New Jersey und der 20jährigen Shamima Begum aus London annulliert. Anfang März starb Begums neugeborener Sohn Jarrah an einer Lungentzündung. Die Entscheidung der Regierungen von Donald Trump und Theresa May ist höchst umstritten, weil nach internationalem Recht eigentlich niemand staatenlos gemacht werden darf. Überdies ist unklar, gegen welches Gesetz in ihren Herkunftsländern die beiden Frauen verstoßen haben. Sollten sie sich an Verbrechen im Irak oder in Syrien beteiligt haben, dann müßten sie sich dort vor Gericht verantworten.

Entsprechende Verfahren sind im Irak bereits angelaufen. Am 18. März hat ein Gericht in Bagdad den 23jährigen Belgier Bilal Al Marchohi der IS-Mitgliedschaft sowie der Teilnahme an Operationen der "Terrormiliz" für schuldig befunden und zu Tode verurteilt. In Syrien ist die Lage komplizierter, weil die NATO-Staaten die Rechtmäßigkeit des "Regimes" von Bashar Al Assad, das sie seit 2011 zu stürzen versuchen, nicht anerkennen. Eine Übergabe von IS-Freiwilligen an die Justizbehörden in Damaskus ist aus politischen Gründen deshalb nicht möglich. Die SDF-Führung, die sich durch die Versorgung von Tausenden gefangengenommener IS-Kämpfer aus dem Ausland sowie deren Frauen und Kinder überfordert sieht, verlangt, daß die Herkunftsländer diese Leute zurücknehmen.

Wie die Fälle Muthana und Begum zeigen, ist der Widerstand im Westen gegen diese Forderung extrem groß. Das hat mehrere Gründe. Erstens haben die westlichen Regierungen den Islamismus zu einer solchen Bedrohung aufgebauscht, daß sie sich die Kritik der jeweils eigenen Boulevardpresse sowie den Aufwand, die Rückkehrwilligen zu entradikalisieren, einfach sparen wollen. Möglicherweise wollen sie die Leute auch deshalb nicht nach Hause holen, weil dadurch brisante Einzelheiten der passiven oder aktiven Verwicklung der eigenen Geheimdienste in die Radikalisierung und Rekrutierung junger Muslime für die Sache des IS herauskommen könnte. Immerhin hat am 14. März die Regierung in Paris fünf kleine Kinder, die mindestens ein französisches Elternteil hatten, aus Flüchtlingslagern in Ostsyrien nach Frankreich geholt. Ob die Kinder in Pflegeheimen oder zu Verwandten kommen, ist unklar. Doch angesichts des Ausmaßes der menschlichen Tragödie mit den IS-Rekruten und deren Bräuten ist die Aktion der Franzosen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

20. März 2019


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