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NAHOST/1667: Syrien - finale Regierungsoffensive ... (SB)


Syrien - finale Regierungsoffensive ...


Seit Ende April läuft eine großangelegte Offensive der Syrischen Militärberater und Spezialstreitkräfte Rußlands zur Rückeroberung des Gouvernements Idlib, die letzte Hochburg der Rebellen, die im Norden an die Türkei, im Osten, Süden und Westen jeweils an die Gouvernements Aleppo, Hama und Latakia grenzt. Zu der drastischen Maßnahme sahen sich Damaskus und Moskau gezwungen, weil die im vergangenen September mit der Türkei vereinbarte Deeskalationsstrategie in der Region nicht funktioniert hat.

Damals wurde quasi in letzter Minute eine bevorstehende Großoffensive der SAA in Idlib aus Rücksicht auf der Zivilbevölkerung dort - rund drei Millionen Menschen - verschoben. Man gab sich der Hoffnung hin, Ankara würde es gelingen, die Rebellen entweder zu entwaffnen, ihnen zur Flucht über die Türkei zu verhelfen oder sie in eine der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hörige Miliz zu verwandeln. Doch nichts davon ist eingetreten. Statt dessen hat in den zurückliegenden Wintermonaten die al-kaida-nahe Hayat Tahrir Al Sham (HTS), die früher Al-Nusra-Front hieß, mit Waffengewalt praktisch alle anderen Rebellengruppen auf die Märtyrer-Linie, das heißt Kämpfen bis zum Tod, eingeschworen. In Idlib und den Grenzregionen von Aleppo und Hama haben die HTS und ihr untergeordnete Rebellenfraktionen mehrere zehntausend Kämpfer unter Waffen. Seit Januar ignorieren sie die Waffenstillstandsvereinbarungen und führen verstärkt Artillerieangriffe, Bombenanschläge und Drohnenattacken - für letztere ist der russische Luftwaffenstützpunkt Hmeimim in Latakia offenbar das bevorzugte Ziel - durch.

Ende April gingen die Friedensverhandlungen in der kasachischen Hauptstadt Nursultan unter der Schirmherrschaft des Irans, Rußlands und der Türkei zwischen "gemäßigter" Opposition Syriens und der Regierung von Präsident Baschir Al Assad ergebnislos zu Ende. Man vereinbarte lediglich ein erneutes Treffen - diesmal eventuell in Genf - im Juni nach dem Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan. Bis dahin wollen offenbar syrische und russische Militärs am Boden Fakten schaffen. Das Vorgehen ist wohlüberlegt. Statt von allen drei Seiten gleichmäßig in Idlib einzudringen, werden einzelne Dörfer angegriffen, die Nachschub- und Fluchtwege abgeschnitten und die dort befindlichen gegnerischen Kräfte ausradiert.

Es kommt folglich zu den schwersten Kämpfen in Syrien zwischen Regierungstruppen und Aufständischen seit Monaten. Laut russischen und syrischen Quellen sollen bereits Hunderte Rebellen den Tod gefunden haben. Nach Angaben von Hilfsorganisationen vor Ort sind mindestens 150.000 Menschen aus Angst um ihr Leben auf der Flucht. Scheinbar pausenlos werden Ziele in Idlib von der russischen Luftwaffe angegriffen. Über die Auswahl der Ziele herrscht eine Kontroverse, westliche Politiker wie der französische Präsident Emmanuel Macron werfen den Russen und Syrern vor, zivile Objekte mit Bomben und Raketen aus der Luft zu zerstören. Am 7. Mai meldete das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, 12 Krankenhäuser und zehn Schulen in Idlib hätten schwere Kriegsschäden erlitten. Ob hierfür als Ursache die Rücksichtslosigkeit russischer und syrischer Militärs, welche die internationalen Kriegsregeln zum Schutz der Zivilbevölkerung mißachten, oder die Unterbringung von Waffenlagern und Kommandoständen in solchen Einrichtungen durch die Rebellen hauptverantwortlich ist, läßt sich aus der Ferne nicht eindeutig sagen. Vermutlich ist es eine Mischung aus beidem.

Bereits am 6. Mai meldete die SAA die Befreiung der Ortschaft Kafr Nabuda trotz heftiger Gegenwehr der Rebellen einschließlich mehrerer Selbstmordanschläge. Eine Gegenoffensive der Rebellen, um Kafr Nabuda zurückzuerobern, ist am 9. Mai gescheitert. Inzwischen meldet das russische Onlineportal Southfront, das den Kriegsverlauf in Syrien eng verfolgt, die HTS und die anderen Rebellenformationen hätten wegen der SAA-Offensive in Idlib eine gemeinsame Oberkommandostelle eingerichtet, um die Regierungstruppen zurückschlagen zu können. Bisherige Versuche, die Kräfte der verschiedenen Rebellengruppen im syrischen Nordwesten zu bündeln, sind aufgrund des tiefsitzenden Mißtrauens dieser Organisationen untereinander gescheitert. Am 10. Mai meldete die Nachrichtenagentur Reuters, die SAA hätte nach "massiven Luftbombardements" die Kleinstadt Kalaat Al Madik und die naheliegenden Dörfer Tal Awash und Al Karkat unter ihre Kontrolle gebracht. Die Einnahme von Kalaat Al Madik ist deshalb wichtig, weil die HTS zuletzt von dort aus ihre Drohnenangriffe auf den russischen Militärflughafen Hmeimim gestartet haben soll.

Offenbar wollen die SAA und ihre russischen Verbündeten dem HTS-Spuk in Idlib ein für allemal ein Ende setzen, wie es die US-Streitkräfte in Zusammenarbeit mit den kurdisch-dominierten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) in den letzten Monaten mit der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) gemacht haben. Ohne besondere Rücksicht auf unbeteiligte Zivilisten oder auf die Frauen und Kinder der Männer von Abu Bakr Al Baghdadi wurde das Kalifat des IS im östlichen Syrien, zwischen Euphrat und irakischer Grenze, ausradiert. Seit rund einem Monat verfügt der IS daher über kein eigenes Territorium mehr; seine Angehörigen, einschließlich des selbsternannten Kalifen Al Baghdadi, haben sich in den Untergrund zurückgezogen, von wo aus sie den Kampf auf beiden Seiten der syrisch-irakischen Grenze fortsetzen wollen. Der Zeitpunkt für die Operation zur Rückeroberung von Idlib ist deshalb günstig, weil die Türkei wegen ihres Dauerstreits mit den USA über den geplanten Kauf des russischen S-400-Luftabwehrsystems, über Ölimporte aus dem Iran sowie über die anhaltende Unterstützung Washingtons für die SDF im syrischen Kurdistan politisch und wirtschaftlich gelähmt ist.

10. April 2019


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