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NAHOST/1671: Libyen - die Kriegsparteien bleiben uneinsichtig ... (SB)


Libyen - die Kriegsparteien bleiben uneinsichtig ...


Trotz aller Appelle der Vereinten Nationen und der Europäischen Union ist mit keinem baldigen Ende der Offensive zu rechnen, die am 4. April die Libysche Nationalarmee (LNA) um "Feldmarschall" Khalifa Hifter mit dem Ziel begonnen hat, die 2,5 Millionen Einwohner zählende Hauptstadt Tripolis einzunehmen. Dort residiert seit 2016 die international anerkannte Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch, die ihre Macht mit mehreren "islamistischen" Milizen teilt. Bei den Kämpfen sind bislang mehr als 600 Menschen ums Leben gekommen. Weitere 75.000 Personen, hauptsächlich aus den östlichen und südlichen Vororten von Tripolis, sind von dem Granaten- und Kugelhagel in die Flucht geschlagen worden.

Bei einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron am 22. Mai im Élysée-Palast zu Paris hat Hifter der Idee einer Feuerpause eine eindeutige Absage erteilt. Frankreich gilt neben Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) als Verbündeter Hifters. Französische Fremdenlegionäre oder Söldner sind in den letzten Wochen am Südrand von Tripolis an der Seite der LNA gesichtet worden. In einem Interview mit der Zeitung Le Journal du Dimanche, das am 24. Mai erschienen ist, hat Hifter die Gründe für die Fortsetzung der Tripolis-Offensive erläutert. Ihm zufolge haben insgesamt sechs Verhandlungsrunden zwischen der GNA und dem rivalisierenden House of Representatives (HoR) im östlichen Tobruk, das sich auf die LNA stützt, nichts gebracht, weil Premierminister Al Sarradsch nur eine Marionette sei. "Bei der letzten Verhandlungsrunde habe ich erkannt, daß er nicht derjenige ist, der die Entscheidungen trifft. Natürlich bleibt eine politische Lösung das Ziel. Doch um die Politik wieder in Gang zu bringen, müssen wir mit den Milizen aufräumen", so Hifter.

Ganz aus der Luft gegriffen sind die Vorwürfe des ehemaligen Gewährsmanns und späteren Todfeinds Muammar Gaddhafis nicht. Am 18. Mai haben die Streitkräfte, welche Tripolis vor der Einnahme durch die LNA verteidigen, per Schiff eine größere Lieferung schwerer Rüstungsgüter erhalten. Mehrere Nachrichtenagenturen, darunter Reuters und die Associated Press, haben Bilder der umfangreichen Entladeaktion am Hafen von Tripolis veröffentlicht. Zu den gelieferten Waffen gehörten rund 40 nagelneue Panzerfahrzeuge aus der Türkei sowie unzählige Kisten voller Munition, Maschinengewehre, Scharfschützengewehre sowie Anti-Panzer- und Boden-Luft-Raketen. Innerhalb weniger Stunden haben einige Milizen auf ihren Facebook-Seiten Selfies der eigenen Kämpfer gezeigt, die stolz das neue Kriegsgerät in die Kamera hielten.

Auf der Website der GNA hieß es, die Farradsch-Regierung stelle ihren "Streitkräften" die nötigen Waffen zur Verfügung, um Tripolis zu verteidigen sowie "in Vorbereitung auf eine massive Operation zur Vernichtung der Rebellen um den Kriegsverbrecher Hifter". Tatsächlich wurde das Frachtschiff Amazon, das unter der Flagge Moldawiens in den Hafen von Tripolis eingelaufen war, von Mitgliedern der Al-Samoud-Miliz empfangen und entladen. Wegen der Teilnahme an schweren Kämpfen in Tripolis im vergangenen August und September war der Chef der Al-Samoud-Miliz auf die UN-Sanktionsliste gesetzt worden. Offiziell ist ganz Libyen ohnehin seit dem Aufstand gegen Gaddhafi 2011 mit einem UN-Waffenembargo belegt, um das sich offenbar die Unterstützer der GNA und Hifters LNA wenig scheren.

In einem Bericht, der am 19. Mai vom saudischen Nachrichtensender Al Arabiya auf seiner Homepage veröffentlicht wurde, hieß es, die große Waffenlieferung an die GNA sei von Innenminister Fathi Bashagha bei einem "längeren Besuch in Ankara" Anfang Mai eingefädelt worden. Bashagha ist zudem Gründer der schlagkräftigen und kampferprobten Marsa-Brigade der Stadt Misurata und wird von Al Arabiya als die "eigentliche Macht" hinter Al Sarradsch genannt. Wegen des Gewaltausbruchs unter den Milizen in Tripolis Ende vergangenen Sommers, der 120 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, das Leben kostete, steht auch Bashagha namentlich auf der UN-Sanktionsliste. Für die Richtigkeit der These, daß Hifter mit seiner Offensive viele Milizen gegen sich zusammenschweißt, die sich normalerweise spinnefeind sind, spricht die Angabe von Al Arabiya, wonach am 18. Mai bei Kämpfen für die GNA gegen die LNA Zaid Balaem, führender Kommandeur der Ansar Al Scharia und zuletzt Mitglied des Schura-Rats von Benghazi, verletzt wurde.

Am 28. Mai legte der katarische Nachrichtensender Al Jazeera - Katar gilt neben der Türkei als wichtigster Verbündeter der GNA - Satellitenbilder, Standfotos und schriftliche Dokumente vor, die wiederum schwerwiegende Verstöße von Hifters Förderern gegen das UN-Waffenembargo belegten. Bei dem Material handelt es sich um die Flugdaten zweier Transportmaschinen vom Typ Ilyushin-76, welche dem emiratisch-kasaschischen Unternehmen Reem Travel gehören und Anfang Mai mehrere Flüge zwischen Ägypten, Israel und Jordanien durchführten, bis sie schließlich auf von der LNA kontrollierten Militärstützpunkten im Osten und Süden Libyens landeten und größere Mengen Waffen und Munition entluden. Die Aktion fand unmittelbar vor Beginn des Sturmangriffs der LNA auf Tripolis statt. Beide Maschinen hatten ihre Transponder ausgeschaltet, kurz bevor sie den libyschen Luftraum erreichten. In einem Videomitschnitt ist die eine IL-76-Maschine mit der Registrierungsnummer UP-I7645 kurz nach der Landung auf dem südlibyschen Fliegerhorst Tamanhand zu sehen. Sie soll nach einer Zwischenlandung in Benghazi dorthin geflogen sein.

3. Juni 2019


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