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NAHOST/1676: Libyen - 44 Tote und kein Ende ... (SB)


Libyen - 44 Tote und kein Ende ...


Durch den Raketeneinschlag, der in den frühen Morgenstunden des 3. Juli in einem Flüchtlingslager bei Tripolis mindestens 44 Menschen tötete und weitere 130 schwer verletzt zurückließ, hat der Bürgerkrieg in Libyen zum erstenmal seit langem wieder weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Entsetzt reagierten Politiker und Medienkommentatoren in Europa und Nordamerika ungeachtet des Umstands, daß die NATO selbst durch ihren völkerrechtlich illegalen, gewaltsamen Sturz Muammar Gaddhafis 2011 Libyen zu einem gescheiterten Staat gemacht hat und folglich die Hauptverantwortung für das "Somalia am Mittelmeer" und das Chaos, das seitdem dort herrscht, trägt.

Auch heute, da alle Welt die Türkei und Katar bzw. Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) wegen ihrer gegen UN-Sanktionen verstoßenden Waffenlieferungen an die Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) um Premierminister Fayiz Al Sarradsch in Tripolis respektive an die Libysche Nationalarmee (LNA) um "Feldmarschall" Khalifa Hifter und das House of Representatives (HoR) im östlichen Tobruk kritisiert, sind es vor allem die westlichen Großmächte Frankreich und die USA, die im Hintergrund die Fäden ziehen und ihren Einfluß auf das Kriegsgeschehen im ölreichsten Staat Nordafrikas zur Geltung zu bringen versuchen. Für die desolate Lage Abertausender Flüchtlinge, die unter grausamsten Bedingungen in Libyen gefangengehalten werden, trägt die Europäische Union durch ihre Abschottungspolitik und ihre Zusammenarbeit mit den verschiedenen Milizen an der Nordwestküste des Landes eine große Verantwortung.

Eigentlich sollten in diesem Jahr in Libyen Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden. Darauf hatten sich im Frühjahr Al Sarradsch und Hifter bei Gesprächen in Abu Dhabi geeinigt. Doch dann startete die LNA im Februar eine großangelegte Offensive, in deren Verlauf sie den Süden Libyens mit den wichtigsten Öllagerstätten eroberte. Der große Anfangserfolg verdankte sich jedoch weniger der Kampfkraft der LNA als vielmehr einer gelungenen Bestechung der verschiedenen Stammesführer in den Wüstenregionen Südlibyens. Am 4. April nahm die LNA die Erstürmung von Tripolis in Angriff. Hifter begründete diesen Schritt mit dem Argument, daß Al Sarradsch eine "Marionette" der islamistischen Milizen in der Hauptstadt sowie der Nachbarstädte wie Misurata sei. Der Vorwurf ist nicht aus der Luft gegriffen. Tatsächlich stehen die wichtigen Milizenführer, welche die GNA "unterstützen", wegen Kriegsverbrechen oder "Terrorismus" auf den entsprechenden Listen der Vereinten Nationen.

Die tiefe Feindschaft gegen den CIA-Verbindungsmann und ehemaligen Gaddhafi-Vertrauten Hifter, die Libyens Islamisten verbindet - auch wenn sie sonst wenig gemeinsam haben - erklärt, warum diese dem anfänglichen Ansturm der LNA standhalten konnten. Hinzu kommen umfangreiche Lieferungen an schweren Waffen und Munition, welche die Al-Kaida- und IS-nahen Gruppen in Tripolis seit Mai per Schiff aus der Türkei erhalten. Ende Juni ist es den "Regierungstruppen" Al Sarradschs sogar gelungen, den Belagerungsring um Tripolis zu durchbrechen und die knapp 100 Kilometer südlich gelegene Berberstadt Garian, wo die LNA drei Monate zuvor ihre wichtigste Kommandostelle aufgeschlagen hatte, einzunehmen. Nicht nur die Eile, mit der Hifters Soldaten Garian geräumt haben, war peinlich. Auch die Bergung mehrerer Boden-Luft-Raketen vom Typ Javelin aus den USA, die laut Markierungen 2008 an die VAE geliefert worden waren, hat im Washingtoner Kongreß eine lebhafte Debatte entfacht.

Seit Monaten versuchen Repräsentantenhaus und Senat den Rüstungsexport an Saudi-Arabien und VAE wegen des laufenden Völkermords, den die Streitkräfte Riads und Abu Dhabis seit 2015 im Jemen verüben, zum Erliegen zu bringen. Doch mit dem Verweis auf seine präsidiale Macht hat Donald Trump dagegen ein Veto eingelegt und seine Amigos in der amerikanischen Rüstungsindustrie weitermachen lassen. Wegen des Funds der emiratischen Javelin-Raketen - eine Gemeinschaftsproduktion von Raytheon und Lockheed Martin - in Garian hat der demokratische Senator von New Jersey, Bob Menendez, von Außenminister Mike Pompeo nun eine offizielle Untersuchung verlangt. Währenddessen hat die Niederlage von Garian Hifter in Rage versetzt und ihn dazu veranlaßt, der Türkei praktisch den Krieg zu erklären. Seit dem 29. Juni behält sich die LNA vor, jedes türkisches Schiff in libyschen Hoheitsgewässern und jedes türkische Flugzeug im libyschen Luftraum anzugreifen und zu versenken bzw. abzuschießen.

Noch im Mai haben UN-Vertreter vergeblich auf die Verlegung jener Flüchtlinge gedrängt, deren Inhaftierungslager sich in der Nähe des Kampfgeschehens befanden. Das Lager, das in Tagiura, einem östlichen Vorort von Tripolis, liegt und das gestern von zwei Raketen getroffen wurde, steht auf einem Industriegelände unmittelbar neben einem großen Waffendepot der Regierungstruppen, das offenbar das eigentliche Ziel gewesen ist. Deswegen werfen Hifter und die LNA ihren Gegnern vor, die Flüchtlinge als "menschliche Schutzschilde" zu mißbrauchen. Die Situation der Migranten stellt sich sogar noch schlimmer dar. In einem Artikel, der in der heutigen Ausgabe der New York Times erschienen ist, berichtete die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Sally Hayden, die nach eigenen Angaben in geheimem Telefonkontakt mit einigen der Gestrandeten in Tagiura steht, die arabischen Milizionäre würden die Flüchtlinge dazu zwingen, Munitionskisten hin- und herzuschleppen, Wache zu stehen und gelegentlich sogar an der Front mit dem Gewehr in der Hand mitzukämpfen. Wer sich weigere mitzumachen werde schwer gefoltert oder gleich getötet, so Hayden.

Die Chancen, daß die Kämpfe in Libyen bald abflauen, sind gering. Wegen des Vorfalls von Tagiura sieht sich Hifter nun des Vorwurfs eines begangenen Kriegsverbrechens ausgesetzt. Dieser Umstand und die aktuelle militärische Schwäche der LNA dürften bei ihm keine Neigung zu verhandeln wecken. Im Gegenteil werden Hifter und seine Förderer in Kairo, Riad, Abu Dhabi und Washington ihre Bemühungen auf dem Schlachtfeld verstärken. Auch die UN-Sanktionen gegen die verschiedenen Milizenchefs dürften deren Einbindung in eine wie auch immer geartete Friedenslösung nicht gerade einfacher machen. Vor diesem Hintergrund steht den Menschen in Libyen im allgemeinen und den Einwohnern von Tripolis im besonderen ein blutiger Sommer bevor.

4. Juli 2019


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