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NAHOST/1687: Libanon - Fortsetzung der Konflikte mit allen Mitteln ... (SB)


Libanon - Fortsetzung der Konflikte mit allen Mitteln ...


Im Libanon haben die Massenproteste, die seit dem 17. Oktober das Land lahmlegen, am 29. Oktober Premierminister Saad Hariri zum Rücktritt veranlaßt. Inwieweit der drastische Schritt zu einer Lösung der enormen politischen und wirtschaftlichen Probleme führen kann, vor denen der Libanon steht, ist nicht ersichtlich. Allen Freuden über die gelungene Massenmobilisierung der einfachen Libanesen gegen ihre plutokratischen Herrscher zum Trotz ist die Gefahr eines erneuten Ausbruchs des Bürgerkriegs groß. Nicht ganz ohne Grund verdächtigt die schiitische Hisb-Allah-Bewegung, deren mächtige Miliz 2006 im Krieg gegen Israel ein Unentschieden herausholte und seit 2014 die Regierung des Nachbarlandes Syrien im Kampf gegen sunnitische, vom Ausland gesteuerte Dschihadisten militärisch unterstützt, die USA, Frankreich und Israel, die Wut der libanesischen Bevölkerung auf die politische Elite in Beirut für die eigenen Zwecke zu mißbrauchen.

Ausgebrochen waren die Proteste unter anderem aus Verärgerung darüber, daß die staatliche libanesische Feuerwehr Anfang Oktober nicht in der Lage war, mit eigenen Mitteln eine Reihe massiver Waldbrände zu löschen. Drei Transporthubschrauber, die der Staat extra für diesen Zweck vor Jahren teuer gekauft hatte, konnten wegen schlechter Wartung bzw. Funktionsuntüchtigkeit vom Beiruter Flughafen nicht abheben. Deswegen mußten Löschflugzeuge aus Griechenland, Jordanien und Zypern kommen und die Brände bekämpfen, die in weiten Teilen des Libanons den Himmel verdunkelt und den Menschen das Atmen schwer gemacht hatten. Nach Jahren der Mißwirtschaft, der Massenarbeitslosigkeit und der allgemeinen Misere - am deutlichsten durch die umweltpolitische Schande einer fehlenden Müllbeseitigung zu erkennen - führte das Hubschrauber-Fiasko den Bürgern des Libanons einmal mehr die Unfähigkeit der eigenen Politiker vor Augen.

Der Libanon gehört zu den am höchsten verschuldeten Ländern der Welt. Dem libanesischen Staat droht deshalb die Zahlungsunfähigkeit. Frankreich hat vor Monaten angeboten, Beirut elf Milliarden Dollar Notkredite zu gewähren, verlangt aber genauso wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds schwerwiegende Wirtschaftsreformen, die auf die Privatisierung der meisten staatlichen Betriebe - darunter begehrte Telekom- und Stromunternehmen - und eine Entlassungswelle bei den Beschäftigten hinausliefen. Hariri hatte mit der Umsetzung besagter Reformen deshalb gezögert, weil ihm klar war, daß diese den althergebrachten Klientelismus der politischen Parteien des Libanons durcheinander brächten und nur Widerstand bei verschiedenen Clanchefs und deren Anhängern auslösten. Statt dessen hat Hariri zunächst die Einführung einer Steuer von sechs Pfund pro Monat auf die Nutzung aller Mobiltelefondienste wie WhatsApp, Viber, Skype und Facebook Messenger angeregt, welche für die Benutzer normalerweise umsonst sind. Bei den sechs Millionen Libanesen, die im Ausland 14 Millionen Verwandte haben, löste das Vorhaben eine Welle der Empörung aus, die im Handumdrehen in blockierten Straßen, geschlossenen Schulen, Hochschulen, Betrieben und Banken ihren Ausdruck fand.

Libanons politische Führung, deren Angehörige ein sorgenfreies Leben im absoluten Luxus genießen, kam mit der neuen Situation nicht klar. Hariri, Chef der sunnitischen Zukunftspartei, nahm den mißratenen Vorschlag der sogenannten WhatsApp-Steuer zurück und regte an, die Bezüge aller Abgeordneten, Minister sowie des Präsidenten zu halbieren. Die Demonstranten haben die Notinitiative als völlig unzureichend abgelehnt. Der 84jährige Präsident Michel Aoun, Chef der christlichen Freien Patrioten, hielt eine zusammenhanglose Fernsehrede, mit der er sich der Sorgen des Volks scheinbar annahm, die Menschen zur Beendigung ihrer Proteste aufforderte und lediglich die eigene Altersschwäche bloßstellte. Am 25. Oktober richtete Hisb-Allah-Vorsitzender Hassan Nasrallah, der sich wegen möglicher israelischer Anschläge stets versteckt halten muß, eine Videobotschaft an alle Libanesen, in der er einen Rücktritt der Regierung der nationalen Einheit, an der die Hisb Allah selbst seit 2016 beteiligt ist, ablehnte. Nasrallah meinte, die Bildung einer neuen Administration würde kostbare Zeit und Mühe kosten, die anderweitig zur Bewältigung der aktuellen Krise notwendig seien. Zudem warnte er ausdrücklich vor der Instrumentalisierung der Proteste durch "fremde Mächte".

Mit seinem Verdacht dürfte Nasrallah nicht ganz Unrecht haben. Seit Jahren fordern die USA, zuletzt anläßlich des Besuchs von Außenminister Mike Pompeo im März in Beirut, den kompletten Ausschluß der "terroristischen" Hisb Allah aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben des Libanons. Das State Department in Washington hat deshalb schwere Sanktionen gegen zahlreiche Personen und Firmen im Libanon verhängt, die entweder der Hisb Allah zugerechnet werden oder mit ihr in Verbindung stehen sollen. Im vergangenen April behauptete der libanesische Fernsehsender Al Jadid, im Besitz von mit Israel abgesprochenen Plänen der Regierung von US-Präsident Donald Trump zu sein, den Libanon zu destabilisieren und notfalls mittels fingierter Anschläge in den Bürgerkrieg zu stürzen. Entsprechende Dokumente wurden in dem Bericht gezeigt. Am 28. Oktober berichtete das libanesische Nachrichtenportal Alahed News, bei den jüngsten Massenprotesten sei in exponierter Position eine dubiose Figur namens Robert Gallagher, der seit 2007 in Beirut zuerst in der US-Botschaft und danach als Professor an der American University arbeitete, beteiligt. Lücken und sonderbare Einträge im Lebenslauf Gallaghers bei LinkedIn lassen die Vermutung zu, daß dieser als politischer Provokateur für die CIA arbeitet.

Am 29. Oktober kam es im Herzen Beiruts zum Gewaltausbruch, als eine Gruppe mutmaßlicher Anhänger der Hisb Allah und der schiitischen Amal-Bewegung von Parlamentspräsident Nabih Berri das kleine Zeltlager, das die Anti-Korruptionsdemonstranten vor rund zehn Tagen als Protestzeichen errichteten, kurz und klein hauen wollte. Staatliche Ordnungskräfte sind jedoch dazwischen gegangen und haben mit passivem Widerstand die mit Stöcken bewaffneten Hisb-Allah- und Amal-Rowdys zum Abzug veranlaßt. Diese kleine häßliche Episode läßt erkennen, daß es nur eines Funken bedarf, und der Libanon versinkt wieder in den Bürgerkrieg. Selbst wenn sich die Protestierer durchsetzen sollten und die von ihnen geforderte Technokratenregierung bekommen, dürfte sich die Lage nicht allzu bald für die Menschen mittleren und kleinen Einkommens verbessern. Mit noch mehr Arbeitslosigkeit infolge einer Entlassungswelle bei den staatlichen Betrieben wäre dann zu rechnen. Der Verteilungskampf würde noch härter. Die Wahrscheinlichkeit, daß er in bewaffnete Gewalt ausartet, ist ziemlich hoch. Nicht umsonst, sondern ganz im Sinne des Teilen und Herrschens, haben die Franzosen dem Libanon in der Mandatszeit 1922-1943 ein politisches System verpaßt, das die Menschen nicht als gleichberechtige Bürger, sondern in erster Linie als Angehörige einer bestimmten Konfession oder Ethnie anerkennt. Nur wenn man dieses koloniale Erbe beseitigt, kann der Libanon wieder erblühen.

31. Oktober 2019


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