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NAHOST/1710: Israel - reaktionäre Kräfte nutzen ihre Chancen ... (SB)


Israel - reaktionäre Kräfte nutzen ihre Chancen ...


Drei Wahlen innerhalb eines Jahres (April und September 2019 sowie 2. März) hat es in Israel gegeben, und dennoch hat das nicht gereicht, den seit 11 Jahren im Amt befindlichen Premierminister Benjamin Netanjahu loszuwerden. "König Bibi" wird demnächst als neuer und alter israelischer Regierungschef eingeschworen - mehreren Anklagen wegen Bestechung und Betrug zum Trotz. Für diese erstaunliche Entwicklung gibt es vier Ursachen: die Corona-Virus-Pandemie, die Netanjahu in den letzten Wochen geschickt genutzt hat, um sich als verläßlicher Krisenbewältiger und "Vater der Nation" zu stilisieren, die politische Gerissenheit des 70jährigen Likud-Chefs, die Zaghaftigkeit des Oppositionsführers Benny Gantz und nicht zuletzt die rassistische Grundhaltung weiter Teile der israelischen Gesellschaft, welche die arabischen Mitbürger nicht als gleichrangig zu betrachten bereit sind.

Bei der letzten Knesset-Wahl war Netanjahus rechtsgerichteter Likud-Block mit dem Versprechen, entsprechend des "Nahost-Deals" von US-Präsident Donald Trump rasch die meisten jüdischen Siedlungen im Westjordanland zu annektieren, d.h. in das israelische Staatsgebiet einzugliedern, mit 36 Sitzen wieder stärkste Fraktion in der Knesset geworden. Nichtsdestotrotz war die Mitte-Links-Allianz Kahol Lavan (Blau und Weiß) um Ex-Generalstabschef Gantz, die 61 Abgeordnete in der 120sitzigen Knesset hinter sich bringen konnte, von Präsident Reuven Rivlin mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Doch da begannen schon die Probleme. 15 jener 61 Stimmen gehörten der Vereinigten Liste, die aus vier arabischen Parteien besteht. Innerhalb von Blau und Weiß gab es mindestens drei Abgeordnete, die partout nicht bereit waren, die Stimmen der arabischen Abgeordnetenkollegen bei der Schaffung einer Alternativregierung zu der bisherigen Netanjahus zu akzeptieren (ohnehin stand eine formelle Beteiligung der Gemeinsamen Liste, deren Vertreter Netanjahu vor und nach der Wahl als "Terroristen" beschimpft hatte, an der neuen Regierung niemals zur Debatte).

Deshalb hat sich Gantz zunächst um eine Zusammenarbeit von Blau und Weiß mit der säkular-nationalistischen Jisra'el Beitenu um Avigdor Lieberman, dem politischen Todfeind Netanjahus, bemüht. Doch während die bisherige Opposition an der Konstruktion einer neuen Administration bastelte, blieben Netanjahu und seine Getreuen nicht untätig. Unter Verweis auf die Corona-Krise weigerte sich Parlamentssprecher Yuli Edelstein vom Likud nicht nur sein Amt zu räumen, sondern verhängte am 18. März "aus hygienischen Gründen" für die Knesset ein Sitzungsverbot. Dadurch wurden die Pläne von Blau und Weiß, das eigene Mitglied Meir Cohen als Parlamentssprecher einzusetzen und unter dessen Regie im Eilverfahren ein Gesetz zu verabschieden, das Netanjahu jegliche Immunität vor seinem drohenden Strafrechtsverfahren verwehrt hätte, durchkreuzt. Ein Tag davor hatte Justizminister Amir Ohana, ebenfalls vom Likud, wegen der Ansteckungsgefahr von COVID-19 den Betrieb in den israelischen Gerichten auf Sparflamme gesetzt. Dadurch wurde der Termin für den Auftakt des Prozesses gegen den eigenen Parteivorsitzenden um zwei Monate von Mitte März auf Mitte Mai verschoben.

Gleichzeitig setzte Netanjahu Gantz mit ständigen Auftritten im Fernsehen und Radio unter enormen Druck, endlich die Parteipolitik beiseite zu legen, seine "patriotische Pflicht" zu tun und in die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit zur Bewältigung der Corona-Pandemie einzuwilligen. Gantz, dessen ideologische Position sich nicht besonders von der Netanjahus unterscheidet, knickte ein. Zur Überraschung und Enttäuschung Millionen von Wählern, denen er seit über einem Jahr immer wieder hoch und heilig versprochen hatte, "niemals" und "unter keinen Umständen" Bibi wieder zur Macht zu verhelfen, tat er am 26. März genau das. Nachdem zuvor der Oberste Gerichtshof die umstrittene Schließung der Knesset für nicht verfassungskonform erklärt hatte, wurde Gantz am 27. März zum Nachfolger Edelsteins als Parlamentssprecher mit 74 zu 18 Stimmen gewählt. Damit wurde auch das gegen Netanjahu geplante Immunitätsaufhebungsgesetz endgültig begraben.

Die 180-Grad-Kehrtwende von Gantz, der demnächst neuer Verteidigungsminister im neuen Kabinett Netanjahus werden soll, hat allen israelischen Politik-Beobachtern den Atem verschlagen. Das Parteienbündnis Blau und Weiß hat durch das Ausscheren der 15 Abgeordnete starken Gantz-Gruppierung Chosen LeJisa'el (Widerstandskraft für Israel) stark an Glaubwürdigkeit verloren. Die Anführer der anderen beiden Teilen der Allianz - Jair Lapid von der liberalen Jesch Atid und Mosche Jaalon von der Erneuerungsbewegung Telem - fühlen sich von Gantz düpiert, wollen jedoch unter der Marke Blau und Weiß weiterhin Oppositionsarbeit leisten. Vor allem für Israels Araber dürfte der Schulterschluß des ehemaligen Fallschirmjägers Gantz mit dem großen "Terrorismusbekämpfer" Netanjahu erneut Bestätigung für den Verdacht sein, daß Nicht-Juden in Israel niemals als gleichberechtigte Bürger behandelt werden.

Laut den Angaben von Eli Kowaz vom Israel Policy Forum, die vor kurzem in der liberalen Zeitung Ha'aretz publiziert wurden, sind in Israel 18 Prozent aller Ärzte, 24 Prozent aller Krankenschwestern und 47 Prozent aller Apotheker Palästinenser bzw. israelische Araber. Ohne diese Menschen würde das israelischen Gesundheitssystem nach Einschätzung des ehemaligen Mossadchefs Ephraim Halevy kollabieren. Mit Blick auf die Corona-Krise und die laufenden politischen Kungeleien von Gantz und Netanjahu hat Halevys Fazit am 25. März Philip Weiss auf der vielbeachteten, anti-zionistischen Website Mondoweiss.net zu der treffenden, aber traurigen Feststellung verleitet: "Die Palästinenser sind gut genug, um das Leben der Juden in Israel zu retten, aber nicht, um an deren Regierung teilzunehmen."

1. April 2020


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