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USA/1317: Polizeiliche Telefonüberwachung nimmt drastisch zu (SB)


Polizeiliche Telefonüberwachung nimmt drastisch zu

Thomas Drake sieht die USA bereits im Zustand einer "sanften Tyrannei"



In den letzten Jahren ist in den USA die Anzahl der polizeilichen Anfragen bei den größten Telekommunikationsunternehmen, um die Verbindingsdaten von Mobiltelefone zu erfahren und Mitteilungen von deren Besitzern zu überwachen, regelrecht explodiert. Das hängt damit zusammen, daß die meisten Fälle der polizeilichen Telefonüberwachung inzwischen ohne richterliche Genehmigung erfolgen. Über das bedenkliche Phänomen berichtete Eric Lichtblau am 9. Juli in der New York Times unter der Überschrift "More Demands on Cell Carriers in Surveillance". Bereits im Dezember 2005 hatte Lichtblau zusammen mit seinem Kollegen James Risen in einem NYT-Artikel die illegale, vier Jahre zuvor von der Regierung George W. Bush angeordnete Telefonüberwachung durch die National Security Agency (NSA) publik gemacht und damit einen erbitterten politischen Streit ausgelöst, der zweieinhalb Jahre lang den Kongreß beschäftigte.

Anlaß des neuen Lichtblau-Artikels war eine Studie des Kongresses zu diesem Thema, die sich auf Nachfragen bei den größten neun amerikanischen Telekommunikationsunternehmen stützt. Daraus geht zum Beispiel hervor, daß AT&T täglich auf 700 Anfragen der verschiedenen polizeilichen Behörden - 230 davon ohne richterliche Genehmigung - reagiert. Dies stellt bei AT&T eine Verdreifachung der täglichen Anfragen seit 2007 dar. Bei Sprint gab es mit 1500 die durchschnittlich höchste Anzahl der täglichen Nachfragen der Polizei um Kundeninformationen.

Im NYT-Artikel hieß es, die wichtigsten amerikanischen Telekommunikationsunternehmen würden seit 2007 eine jährliche Zunahme der täglichen Informationsanfragen der Polizei zwischen 12 und 16 Prozent verzeichnen. Für 2011 betrug die Gesamtzahl offiziell 1,3 Million; die Dunkelziffer dürfte um ein vielfaches höher liegen. Lichtblau zitierte den demokratischen Kongreßabgeordneten aus Massachusetts, der den Kovorsitz des Bipartisan Congressional Privacy Caucus im Repräsentantenhaus innehat, mit dem Worten, er habe "niemals erwartet", daß die Zusammenarbeit der Mobiltelefonanbieter mit der Polizei "so massiv" sei. Gegenüber Lichtblau spricht Markey von "digitalen Schleppnetzen" und äußerte die Befürchtung, daß der Kampf um den in der US-Verfassung verbrieften Schutz der Privatsphäre des Bürgers bereits verloren sei.

Für diesen Umstand kann sich Markey bei den eigenen Parteikollegen bedanken. Im Sommer 2008 hatte die damalige demokratische Mehrheit im Repräsentantenhaus der umstritten Ergänzung des Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) aus dem Jahr 1978, das Telefonüberwachung ohne Genehmigung durch ein Sondergericht unter Strafe stellte und gegen das Bush jun. mit seiner Anweisung 2001 an die NSA verstoßen hatte, zugestimmt. Mit Hilfe von einigen demokratischen Senatoren - unter anderem mit der Stimme des damaligen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama - wurde das FISA-Amendment-Act auch durch das Oberhaus des US-Parlaments gebracht. Gesetzeskraft erlangte es kurz darauf durch die Unterschrift des scheidenden Präsidenten Bush, der mit einem Federstrich die von ihm begangenen Verstöße legalisieren und sich rechtliche Immunität verschaffen konnte.

Als Obama in Januar 2009 ins Weiße Haus einzog, hat er alle Forderungen eines Teils seiner Anhängerschaft, die Vorgängeradministration um Bush jun., Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Condoleezza Rice und John Bolton wegen Kriegsverbrechertum und Folter zur Verantwortung zu ziehen, zurückgewiesen. Amerika sollte nach vorne und nicht nach hinten blicken, erklärte der frühere Juraprofessor seine Haltung in dieser Frage. Bezeichnenderweise hat Obama dieses Argument für Personen, die Mißstände im zivilen Regierungsapparat oder beim Militär der USA publik machten, nicht gelten lassen. Tatsächlich ist das Justizministerium während der Obama-Ära gegen mehr sogenannte Whistle-Blower wegen der unerlaubten Weitergabe von vertraulichen behördlichen Informationen juristisch vorgegangen als unter allen Vorgängerregierungen.

Zu den Verfolgten des Obama-"Regimes" gehört auch der frühere NSA-Analytiker Thomas Drake, der Mitte des vergangenen Jahrzehnts enthüllte, daß Amerikas größter Geheimdienst rund eine Milliarde Dollar für ein digitales Datenverwaltungsprogramm namens Trailblazer ausgegeben hatte, das nicht funktionierte. Darüber hinaus machte Drake seine Bedenken über das Ausmaß der von Bush jun. initiierten Überwachung des Telefon- und Internet-Verkehrs in den USA durch die NSA publik. Wegen der öffentlichen Preisgabe von NSA-Interna wurde Drake gefeuert und wegen Spionage angeklagt. Ihm drohten 35 Jahre Freiheitsstrafe. Aufgrund der Publizität des Falls knickte das Justizministerium im vergangenen Jahr ein und schloß mit Drake einen Deal. Dieser bekannte sich daraufhin zu einem minderen Anklagepunkt, dem unzulässigen Umgang mit einem NSA-Rechner, für schuldig und kam dafür mit einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung davon.

In einem Interview, das am 10. Juli auf der Website des englischsprachigen Nachrichtensenders Russia Today erschienen ist, bestätigte Drake, der jahrelang eine führende Position bei der NSA belegte, die Befürchtung des Kongreßabgeordneten Markey. Er erklärte, in den USA herrsche seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September eine "sanfte Tyrannei". Amerika hätte "die Sicherheit zur Staatsreligion" erhoben und jeder, der sie in Frage stelle, mache sich verdächtig. Wegen der großen Datenmenge im Netz sei es für die US-Geheimdienste ein leichtes, ein umfangreiches Personenprofil von jedem zu erstellen. Deswegen breite sich in den USA immer mehr ein Gefühl der Angst aus. Inzwischen müsse jeder damit rechnen, durch unüberlegte Äußerungen in der Öffentlichkeit oder in Internet-Foren oder selbst am Telefon beim Sicherheitsapparat unangenehm aufzufallen.

Als Beispiel nannte Drake die Kritiker des Einsatzes von Drohnen, mit denen die Obama-Regierung Raketen auf "militante" Moslems in Afghanistan, Pakistan, Somalia und in Jemen feuern und dabei auch unschuldige Zivilisten töten läßt. Wer in den USA die Drohnen-Politik Washingtons ablehne, werde als jemand diffamiert, der "Terroristen" schützen wolle, so Drake. Der Ex-NSA-Mann äußerte Verständnis für die Lage des Wikileaks-Gründers Julian Assange, der vor wenigen Wochen aus Angst vor der drohenden Auslieferung in die USA in die ecuadorianische Botschaft in London flüchtete. Nach Einschätzung Drakes werden die US-Behörden Assange das Leben zur absoluten Hölle machen, um vor der ganzen Welt an ihm ein abschreckendes Beispiel zu statuieren.

11. Juli 2012