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USA/1326: Guantánamo-Häftlinge treten in Hungerstreik (SB)


Guantánamo-Häftlinge treten in Hungerstreik

Sonderinternierungslager erreicht neuen moralischen Tiefpunkt



Von der großen Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt, spielt sich derzeit auf dem Gelände des US-Marinestützpunktes Guantánamo Bay auf Kuba eine humanitäre und moralische Tragödie ab. Seit rund acht Wochen findet dort ein Hungerstreik statt, mit dem die Häftlinge gegen ihre aussichtslose Lage protestieren. Auslöser des Hungerstreiks sind Repressalien der Gefängnisleitung und die allgemeine Enttäuschung der Gefangenen über Barack Obama, der sein Versprechen beim Amtsantritt als US-Präsident im Januar 2009, die Sonderinternierungslager in Guantánamo zu schließen und die Gefangenen entweder freizulassen oder auf das amerikanische Festland zu verlegen, bis heute nicht eingelöst hat.

Seit der Errichtung des sogenannten Camp X-Ray in Guantánamo Bay im Januar 2002 und damit wenige Monate nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001, die den damaligen US-Präsidenten George W. Bush zur Ausrufung eines "globalen Antiterrorkrieges" veranlaßten, sind mehr als 800 Menschen in dem extraterritorialen Sondergefängnis untergebracht worden. Entgegen der ursprünglichen Behauptung des damals zuständigen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, wonach es sich bei den Insassen in Guantánamo Bay um die "Schlimmsten der Schlimmsten" handelte, stellte sich allmählich heraus, daß die meisten von ihnen keine "Terroristen", sondern unschuldige Personen waren, die nach dem NATO-Einmarsch in Afghanistan von der dortigen Nordallianz oder von den Behörden im benachbarten Pakistan festgenommen und gegen Kopfgeld in Höhe von mehreren tausend Dollar als mutmaßliche Taliban-Kämpfer oder Angehörige des Al-Kaida-"Netzwerkes" an das US-Militär und die CIA verkauft wurden. (Ein gutes Beispiel ist der Deutsch-Türke Murad Kurnaz, der nach der "außergewöhnlichen Überstellung" von Pakistan nach Guantánamo ohne jede Grundlage zum "Bremer Taliban" aufgebauscht wurde.) Wenngleich die Bush-Regierung alle Bemühungen dieser Männer, vor US-Zivilgerichten gegen ihre illegale Verhaftung zu klagen, durchkreuzte, mußte sie doch bis Ende 2008 die meisten von ihnen in ihre Heimatländer abschieben.

Mit dem ehrgeizigen und absolut lobenswerten Plan, den Schandfleck Guantánamo innerhalb seines ersten Amtsjahres als Präsident der Vereinigten Staaten zu beseitigen, ist der Demokrat Obama grandios gescheitert - und zwar am Widerstand der republikanischen Mehrheit im Senat und Repräsentantenhaus. Unglücklich über den Machtverlust sind die oppositionellen Republikaner gegen die anvisierte Schließung des Gefängnisses regelrecht auf die Barrikaden gegangen. Auf dem Kapitol und in den Medien haben sie den Plan von Obama und Justizminister Eric Holder, einen Hochsicherheitstrakt in Illinois - "Guantánamo North" - einzurichten, als unausgegoren angeprangert und behauptet, die Unterbringung mutmaßlicher Al-Kaida-"Terroristen" auf dem nordamerikanischen Festland käme einer durch nichts zu rechtfertigenden Gefährdung der nationalen Sicherheit gleich. Obama, der die Axiome des "Antiterrorkrieges" zu keinen Zeitpunkt ernsthaft in Frage stellte, hat sich der Lynchmob-Hysterie der Republikaner gebeugt und quasi kampflos auf die geplante Räumung Guantánamos verzichtet.

Gleichwohl hat der ehemalige Jura-Professor aus Harvard ein Expertengremium, bestehend aus Juristen des Justizministeriums, Agenten der CIA und Beamten des FBI, einrichten lassen, das die Beweislage gegen die noch verbliebenen Guantánamo-Häftlinge überprüfen und entscheiden sollte, ob gegen sie Anklage vor einem Militärtribunal erhoben wird oder sie freizulassen sind. Bis Ende 2009 hatte die Guantánamo Review Task Force ihre Arbeit - welche die 16 "hochwertigen" Häftlinge, die Männer um Khalid Sheikh Mohammed, den mutmaßlichen 9/11-Chefplaner, die im geheimnisvollen Camp 7 gesondert gefangengehalten werden, nicht tangierte - abgeschlossen. Von den 166 regulären Häftlingen in den "normalen" Camps 5 und 6 hieß es, gegen mehr als die Hälfte von ihnen - 86 - läge kein Grund vor, warum man sie weiterhin ihrer Freiheit berauben sollte.

Fast vier Jahre später sitzen diese Männer immer noch in der Karibik hinter Gittern und haben praktisch keinen Kontakt zu ihren Familien. Selbst Besuche von ihren Anwälten, die von Miami einfliegen müssen, finden nur unregelmäßig und dann unter drakonisch-einschüchternden Bedingungen statt. Wie existentiell bedrückend die Lage für die Insassen in Guantánamo sein muß, zeigt die Tatsache, daß mehr von ihnen - 10 - durch Selbstmord ums Leben gekommen sind, als vom Militärtribunal als "feindliche Kombattanten" im Sinne des "Antiterrorkrieges" verurteilt wurden - 6. Im vergangenen September nahm sich zuletzt Adnan Latif nach 10 Jahren 7 Monaten und 25 Tagen in Guantánamo das Leben. Der 1975 geborene Jemenit gehörte zu den Männern, die freigelassen werden sollten und dennoch weiterhin gefangengehalten wurden.

Offenbar hatte sich unter den Guantánamo-Häftlingen die Hoffnung verbreitet, Obama würde sie im Januar dieses Jahres anläßlich der Einführung zu einer zweiten Amtszeit als US-Präsident, der das Recht zur Begnadigung verurteilter Gesetzesbrecher hat, freilassen. Mitte März trat General John F. Kelly, Leiter des Sonderinternierungslagers in Guantánamo, vor den Kongreß, um die Volksvertreter über den geplanten, rund 150 Millionen Dollar teuren Ausbau der Anstalt in Kenntnis zu setzen. Bei diesem Anlaß wurden auch Fragen über das Motiv für den Hungerstreik im Februar gestellt. Dazu erklärte Kelly, die Gefangenen seien "sehr optimistisch" gewesen, daß Guantánamo geschlossen werden würde, daß sie aber "am Boden zerstört" waren, "als der Präsident davon Abstand nahm" und sich in seiner zweiten Antrittsrede und wenige Tage später in der alljährlichen Rede zur Lage der Nation mit keinem einzigen Wort dazu äußerte. Dies zusammen mit der Entscheidung, das Büro, das mit der geplanten Schließung des Gefängnisses beauftragt war, aufzulösen, habe alle Hoffnungen der Insassen zunichte gemacht, so Kelly.

In Verlauf der letzten Wochen ist die Zahl der Hungerstreikenden in Guantánamo beträchtlich gestiegen. Nach Angaben des Pentagons nehmen 39 Gefangene daran teil. Dagegen hat der Insasse Shaker Aamer über seinen Anwalt die Nachricht verbreiten lassen, daß bereits 130 der 166 Häftlinge in den Camps 5 und 6 die Nahrungsaufnahme verweigern. Dies berichtete am 1. April die Website antiwar.com. Der 44jährige Aamer, der ursprünglich aus Saudi-Arabien stammt und zuletzt in Großbritannien gelebt hat, sitzt seit mehr als 11 Jahren in Guantánamo, obwohl keine strafrechtlich relevanten Haftgründe gegen ihn vorliegen. Aamer gehört zu den Wortführern der Guantánamo-Häftlinge, was ihn in den Augen der Gefängnisleitung vermutlich zum Rädelsführer und Unruhestifter macht.

In einem Gastkommentar für die Washington Post, der am 28. März erschienen ist, hat Thomas Wilmer, der als Anwalt mehrere Guantánamo- Insassen vertritt, den Hungerstreik als "Hilfeschrei" der Gefangenen bezeichnet. Bei einem am 30. März ausgestrahlten Interview mit dem russischen Nachrichtensender Russia Today hat Wilmer für die Protestaktion der in Guantánamo Inhaftierten, gegen die die Anstaltsleitung mit Repressalien und dem Entzug von Privilegien reagiert hat, vollstes Verständnis geäußert. "Das sind unschuldige Leute, die weiterhin gefangengehalten werden. ... Sie stellen keine Gefahr dar. Diese Leute sind verzweifelt. Sie wollen sterben", so Wilmer. Leider sieht es tatsächlich so aus, als müßten sich die Guantánamo-Häftlinge zu Tode hungern, bevor Washington Gnade zeigt.

4. April 2013