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USA/1353: Cheney wirft Obama außenpolitisches Versagen vor (SB)


Cheney wirft Obama außenpolitisches Versagen vor

Ex-Vizepräsident wettert gegen isolationistische Tendenzen in der GOP



Die Blitzoffensive sunnitischer Rebellen unter der Leitung der Gruppe ISIS im Norden und im Zentrum des Iraks, vor allem die fast kampflose Einnahme der Millionenstadt Mossul am 10. Juni, hat eine schwere politische Krise in Bagdad ausgelöst. Durch diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse hat sich der Bürgerkrieg in Syrien, dessen Osten und Norden zu weiten Teilen seit über einem Jahr unter ISIS-Kontrolle stehen, zu einem regionalen Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten entwickelt. Im Ausland machen sich Medien und Politik große Sorgen, daß die Entstehung des von ISIS-Chef Abu Bakr Al Baghdadi am 29. Juni in Mossul ausgerufenen Kalifats namens Islamischer Staat (IS) zur blutigen Auflösung der Staaten Libanon, Syrien, Irak, Jordanien, Saudi-Arabien und Jemen führen könnte.

In keinem Land außerhalb des Nahen Ostens wird die Frage, wie es dort weitergehen soll, so hitzig diskutiert wie in den USA, die sich mit größeren Militärstützpunkten in der Türkei, Bahrain, Kuwait, Katar, Oman und den Vereinigten Emiraten als regionale Ordnungsmacht verstehen. Hinzu kommt, daß gerade der Vormarsch des sunnitisch-salafistischen IS im Irak den US-Neokonservativen, die nach der achtjährigen Präsidentschaft des Republikaners George W. Bush als diskreditiert galten, als Steilvorlage dient, den Demokraten Obama als außenpolitischen Versager zu geißeln, der durch seine angebliche Zaghaftigkeit die Früchte des angloamerikanischen Einmarsches in den Irak und des Sturzes des "Regimes" Saddam Husseins 2003 verspielt hätte. Zu den ehemaligen Mitgliedern der Bush-Regierung, die in den letzten Wochen mit Gastkommentaren in der Presse und Auftritten im Fernsehen den US-Bürgern eine neokonservative Interpretation der bedrohlichen Entwicklungen im Nahen Osten zu vermitteln versuchen, gehören unter anderem Ex-Vizepentagonchef Paul Wolfowitz und Ex-UN-Botschafter John Bolton. Der aktuelle Propagandafeldzug der Neocons gegen Obama wird aber von keinem geringeren als Dick Cheney angeführt, dem einst mächtigsten Vizepräsidenten der amerikanischen Geschichte.

Interessant ist hierbei die Tatsache, daß Cheney es nicht nur bei Breitseiten gegen Obama beläßt. Der frühere, langjährige Kongreßabgeordnete aus Wyoming hat stets einen zweiten politischen Gegner im Blick, nämlich den republikanischen Parteikollegen Rand Paul, der aus den Reihen der Tea-Party-kommt und sich vor allem aus Kostengründen für einen drastischen Abbau des Stützpunktimperiums der USA in Übersee stark macht. Zum Entsetzen der Neocons, deren Einfluß sich vor allem aus der Verbindung zur mächtigen US-Rüstungsindustrie ergibt, gilt der junge Senator aus Kentucky laut Umfragen derzeit als aussichtsreichster Bewerber um die Nominierung zum offiziellen Kandidaten der republikanischen Partei, auch Grand Old Party (GOP) genannt, für die Präsidentenwahl im kommenden Jahr. In der kriegsmüden US-Bevölkerung kommt Pauls Nein zum Dauerauslandseinsatz amerikanischer Soldaten gut an, weshalb ihn Cheney bei jeder Gelegenheit als geopolitisch ahnungslosen Isolationisten brandmarkt. In einem Interview für den konservativen Nachrichtensender Fox News tat Cheney die sicherheitspolitische Ideen Pauls am 19. Juni indirekt wie folgt ab: "Traditionell hatte die republikanische Partei den Ruf, bei ihr seien immer die richtigen Kerle zu finden, wenn es um die nationale Sicherheit ging. Und dieses Ansehen wollen wir für die Partei wiedererlangen."

Dessen ungeachtet bleibt Obama das Hauptziel im Visier des passionierten Hobbyjägers Cheney. Nach der Erstürmung von Mossul durch ISIS beschwor der Sicherheitsfanatiker die große terroristische Gefahr, die nun angeblich für Amerika vom sunnitischen Teil des Iraks ausgehe. Den USA stünde nun eventuell "etwas schlimmeres als 9/11 bevor"; mit der "Möglichkeit" müsse nun gerechnet werden, behauptet er im besagten Auftritt bei Fox News. Zwei Tage zuvor hatte Cheney zusammen mit seiner Politikertochter Lynn im neoconfreundlichen Wall Street Journal einen bitterbösen Gastkommentar veröffentlicht. Darin machten die Cheneys Obama für die angeblich drastisch angestiegene Anschlagsgefahr verantwortlich, weil er es nicht geschafft habe, die Regierung Nuri Al Malikis 2011 zur Unterzeichnung eines Abkommens zu nötigen, das die Dauerstationierung von mehreren tausend US-Truppen im Zweistromland gewährleistet hätte. Auch die Entscheidungen des Weißen Hauses, Verhandlungen mit dem Iran über eine Beilegung des Atomstreits zu führen, keine Raketenangriffe auf die syrischen Streitkräfte Baschar Al Assads durchführen zu lassen, Israel zu Friedensverhandlungen mit den Palästinensern zu zwingen, und den Putsch der Generäle in Ägypten nicht gleich gutzuheißen, wurden vom Vater-Tochter-Paar heftig attackiert. "Selten hat ein US-Präsident so viel auf Kosten von so vielen falsch gelegen", so das Resümee.

Es spricht für die veränderte Stimmungslage in den USA, daß Cheney bei seinen Fernsehauftritten, selbst bei Fox News, mit unangenehmen Fragen bezüglich der eigenen Verantwortung für den Schlamassel im Nahen Osten konfrontiert wird. Der frühere Vizepräsident, der zur Jahreswende 2000/2001 fast alleine das erste Kabinett von Bush jun. besetzen durfte und der später zusammen mit seinem alten Kumpel Donald Rumsfeld die treibende Kraft hinter dem Irakeinmarsch gewesen ist, will nichts auf sich sitzen lassen. Nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 hätte man geglaubt, daß Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen an "Terroristen" weitergeben könnte; nicht zu handeln wäre fahrlässig gewesen, behauptet er immer wieder, während er die eigenen illegalen Manipulationen der geheimdienstlichen Erkenntnislage natürlich verschweigt. Mit der von General David Petraeus beaufsichtigten Truppenaufstockungsstrategie 2007 habe man den Irak endlich befriedet und das Land auf den Weg Richtung Wiederaufbau und Demokratie gebracht, so Cheney.

Dabei läßt der Ex-Vizepräsident unerwähnt, daß es die USA selbst waren, die 2006 mittels gezielter Aktionen ihrer Spezialstreitkräfte - Stichwort "Salvador Option" - den konfessionellen Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten im Irak entfachten, um die Angriffe auf die eigenen Truppen zu verringern. Cheney ist auch derjenige, der nach der Niederlage Israels gegen die schiitische Hisb-Allah-Miliz im Libanonkrieg im August 2006 mit Prinz Bandar bin Sultan, dem früheren Botschafter Riads in Washington und damaligen Nationalen Sicherheitsberater Saudi-Arabiens, den Plan ausheckte, Syrien mit Hilfe sunnitischer Dschihadisten zu destabilisieren, um dem gestiegenen Einfluß des Irans in der arabischen Welt entgegenzuwirken. Das Chaos, das derzeit zwischen Levante und Persischem Golf herrscht, ist das Ergebnis dieses teuflischen Projekts.

Das alles - auch die über eine Million Iraker und mehr als 170.000 Syrer, die seit 2003 respektive 2011 getötet wurden -, läßt Cheney offenbar kalt. Der 73jährige, frühere Verteidigungsminister von George Bush sen. ist von seiner Politik des "Friedens durch Stärke" offenbar nicht mehr abzubringen. Anders sind die Äußerungen, die er laut Newsweek-Reporterin Leah McGrath Goodman am 14. Juli bei einer Rede hinter verschlossenen Türen vor Vertretern der Bank Goldman Sachs in New York gemacht hat, nicht zu deuten. Auf Twitter meldete McGrath unter Berufung auf einen verläßlichen Informanten noch am selben Abend, daß Cheney der Goldman-Sachs-Führung eröffnet habe, daß die Bush-Regierung eigentlich vorhatte, im Jahr 2003 "gleichzeitig in den Irak und den Iran einzumarschieren". Cheney hätte den Bankiers gesagt, sein "größtes Bedauern" aus seiner Zeit als Vizepräsident sei, "einen Doppelangriff nicht durchgeführt zu haben". Die heimliche Offenbarung soll die Anwesenden in "Sprachlosigkeit" versetzt haben.

17. Juli 2014