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BERICHT/078: Petersberg II - Proteste gegen den Krieg in Afghanistan (SB)


Demonstration "Truppen raus aus Afghanistan" am 3. Dezember 2011 in Bonn

Demonstrationszug - Foto: © 2011 by Schattenblick

Demonstrationszug in Bonner Innenstadt
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Auf den Tag genau luden der deutsche Außenminister Guido Westerwelle und sein afghanischer Kollege Zalmai Rassoul, den an zweiter Stelle zu nennen der realpolitischen Subordination Afghanistans unter die Hegemonialpolitik der NATO-Staaten entspricht, zehn Jahre nach der ersten Petersberger Afghanistan-Konferenz wieder nach Bonn ein. Als Versöhnungs- und Friedenskonferenz weithin ins Licht bester Absichten gerückt sollte der am 5. Dezember 2001 nach der Eroberung Afghanistans durch die USA und ihre Verbündeten inszenierte Petersberg-Prozeß nicht etwa der kritischen Fehlerkorrektur unterworfen, sondern sein Geist opportunistischer Willfährigkeit erneut beschworen werden. Kurz gesagt, Petersberg II war, wie Friedensbewegte im Vorfeld nicht müde wurden zu prognostizieren, ein symbolpolitischer Aufguß der sattsam bekannten geostrategischen Logik und neokolonialistischen Doktrin, militärisch durchgesetzte wie provozierte Gewaltverhältnisse im Gewand einer pseudodemokratisch legitimierten, von handverlesenen Statthaltern der Besatzungsmächte geführten autoritären Staatlichkeit fortzuschreiben.

So können auch keine völlig unverbindlichen Hilfszusagen, die sich, wenn man anderen Szenarios vollmundiger Krisenbewältigung folgt, höchstwahrscheinlich als weit übertrieben herausstellen werden, darüber hinwegtäuschen, daß die Bundeswehr eben nicht die größte Friedensbewegung Deutschlands ist, wie der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck einst zu behaupten wagte. Diese traf sich am Sonnabend in Bonn zu einer Demonstration gegen den Afghanistankrieg und die ihn flankierende und fortschreibende Konferenz nicht zuletzt deshalb, um einen kräftigen Akzent gegen das offiziöse Friedensschwadronieren zu setzen.

 Erster Block mit Fronttransparent - Foto: © 2011 by Schattenblick

Internationale Gäste und die Organisatoren führen den Zug an
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Auf der Suche nach der Friedensbewegung

Die von unterschiedlichen Quellen genannte Zahl von 4500 bis 5000 Demonstrantinnen und Demonstranten, die sich vom Kaiserplatz aufmachten, um dort nach rund zwei Stunden, in denen sich der Zug durch die Bonner Innenstadt bewegte, wieder zur Abschlußkundgebung einzutreffen, wirft die Frage auf, wo all die Menschen blieben, die laut diversen Umfrageergebnissen mehrheitlich gegen den Afghanistankrieg eingestellt sind. Ein möglicher Schluß lautet, daß diese immer wieder gern zur Legitimation des friedenspolitischen Anliegens herangezogene Mehrheit eher eine Funktion der jeweiligen Fragestellung und nicht Ausdruck einer fundierten Antikriegseinstellung ist. Natürlich will niemand, daß am Hindukusch oder woanders Menschen durch Waffengewalt sterben. Würde jedoch die bereits vom ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler angesprochene Ratio, daß die Bundesrepublik militärisch auch deshalb in aller Welt Präsenz zeigen müsse, um den Nachschub an unverzichtbaren Ressourcen wie den Zugang zu ausländischen Märkten sicherzustellen, auf die Spitze des Problems der persönlichen Überlebenssicherung getrieben, dann könnte das Ergebnis einer solchen Umfrage auch ganz anders aussehen.

Gegen die Existenz einer breiten bürgerlichen Antikriegsstimmung spricht auch die Zusammensetzung des Demonstrationszuges. Während dieser von den Organisatoren der Demo, ausländischen Gästen und Vertretern friedensbewegter Gruppen aus dem gewerkschaftlichen und bürgerlichen Lager angeführt wurde, umfaßte der internationalistische Block, zu dem das Revolutionäre Bündnis gemeinsam mit der Interventionistischen Linken (IL) und weiteren Gruppen aufgerufen hatte, mindestens ein Drittel des Zuges. Die Partei Die Linke stellte mit ihren Parteiorganisationen insgesamt ein weiteres Drittel, hinzu kamen diverse Delegationen ausländischer Friedensorganisationen. Bürgerinnen und Bürger, die keiner bestimmten Organisation angehören, blieben demgegenüber in der Minderzahl.

Seitentransparent 'Für die soziale Revolution!' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Krieg und Kapitalismus sind nicht voneinander zu trennen
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Damit sind seit der Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre, für die Hunderttausende etwa gegen den NATO-Doppelbeschluß mobilisiert werden konnten, und der heutigen Antikriegsbewegung nicht nur 30 Jahre vergangen. Die grundlegende Veränderung der weltpolitischen Lage scheint das Kriegsthema im öffentlichen Bewußtsein ebenso an den Rand gedrängt zu haben wie das Schwinden jener Generationen, die den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt haben, und die kapitalistische Globalisierung, die den Fokus des politischen Interesses auf soziale Fragen gelenkt hat. Eine Verbindung zwischen diesen und der imperialistischen Kriegführung der NATO zu ziehen scheint jüngeren Generationen zusehends schwer zu fallen. Von daher ist die linke Gewichtung, die die Bonner Antikriegsdemo auszeichnete, gleichzeitig Ausdruck für die Marginalisierung des Themas als der Relevanz antikapitalistischer Positionen für die Frage von Krieg und Frieden. Die große Beteiligung jugendlicher wie migrantischer Demonstrantinnen und Demonstranten am internationalistischen Block legt den Schluß nahe, daß Politisierung im Zeichen mehrerer synchron verlaufender globaler Krisen vor allem dort gelingt, wo die Zukunftsaussichten nicht düsterer sein könnten.

Transparent Solidarity Party of Afghanistan - Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Sicht der afghanischen Besatzungsgegner
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Die im Protestbündnis gegen "Petersberg II" vertretenen Friedensbewegten und Antikriegsaktivisten und -aktivistinnen aus 17 Ländern forderten in einer "Bonner Erklärung" den Abzug aller ausländischen Soldaten aus Afghanistan. Nach mehr als 30 Jahren Krieg sei die Voraussetzung für Frieden und einen eigenständigen Entwicklungsweg der sofortige Waffenstillstand und der Abzug aller Interventionstruppen. Freiheit und Selbstbestimmung der Afghanen seien nur ohne ein Besatzungsregime und dessen Förderung von Warlords und autoritären Strukturen möglich. Die Menschen in dem leidgeprüften Land müßten ohne fremde Einmischung über ihre Zukunft entscheiden können. Statt Milliarden für den Krieg zu verschleudern müßten die Interventionsländer entsprechende Summen für die Entwicklung auf Jahrzehnte zur Verfügung stellen.

Die Konferenz der 90 Regierungen am 5. Dezember diente nicht dem Frieden, sondern legitimierte die Verlängerung des Krieges. Für die NATO stehe der Abzug nicht auf der Tagesordnung, die Truppen würden nur verringert. So sei geplant, an mindestens fünf Stützpunkten 25.000 Soldaten bis 2014 zu stationieren. Der Krieg der Interventionsarmeen werde fortgesetzt und regional ausgeweitet, man rüste afghanische Söldnertruppen gegen das eigene Volk auf. Die Besatzungsmächte etablierten einen geostrategischen Vorposten, beuteten die Ressourcen des Landes aus und sicherten die Transportwege. Zugleich werde die kriegsmüde Bevölkerung an der Heimatfront, deren soziale Verhältnisse sich rapide verschlechterten, beschwichtigt und getäuscht.

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Deutsche Kriegspolitik im Visier
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Krieg löse kein Problem zugunsten der Mehrheit, sondern verschärfe Konflikte und eine krisenhafte Zuspitzung der Verhältnisse. Das gelte für den Krieg in Afghanistan ebenso wie für jenen in Libyen oder den drohenden im Iran. Notwendig seien Verhandlungen und friedliche Konfliktlösungen: "Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden", heißt es in der gemeinsamen Abschlußerklärung des Protestbündnisses. Da Kriege von Menschen gemacht werden, können sie auch von Menschen beendet und künftig verhindert werden.

Diese Kernpositionen wurden von allen Rednern auf den Kundgebungen vor und nach der Demonstration durch die Bonner Innenstadt am 3. Dezember vertreten und bekräftigt. Die Schwerpunkte der einzelnen Redebeiträge sollen in der Folge in kurzen Ausschnitten wiedergegeben werden, um dem Leser einen Überblick zu gewähren. Ausführlicher behandelt werden die Besetzung der GIZ als exemplarische Aktion gegen einen konkreten Aspekt deutscher Kriegsbeteiligung sowie die Reden der Interventionistischen Linken und des Jugendbündnisses Bonn, erstere wegen ihrer Verknüpfung des Krieges mit den Folgen kapitalistischer Globalisierung, letztere als Beispiel für Problemlage und Engagement des Nachwuchses in der Antikriegsbewegung.

Transparent gegen zivilmilitärische Zusammenarbeit - Foto: © 2011 by Schattenblick

Komfortable Falle für humanitäre Organisationen
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Gegen zivilmilitärische Zusammenarbeit - Besetzung der GIZ

Einige Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner beließen es nicht bei der Artikulierung ihres Protests im Demonstrationszug und auf der Kundgebung, sondern rückten einem Akteur imperialistischer Okkupation näher auf die Pelle. Aktivistinnen und Aktivisten der Initiative NO-CIMIC besetzten den Sitz der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), da sie der Auffassung waren, daß der Krieg dort beendet werden müsse, wo er beginnt. "Wir möchten mit dieser Besetzung unmittelbar vor der Kriegskonferenz am 5. Dezember ein Zeichen gegen jede Form zivilmilitärischer Zusammenarbeit setzen. Die Indienstnahme der Entwicklungshilfe als aktive Kriegshilfe muss sofort beendet werden", unterstrich Lutz Wehring von NO-CIMIC. [1]

Während Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner eine Kundgebung vor der Kantine des Verwaltungscampus der GIZ abhielten, besetzten 25 andere das Afghanistanbüro im 4. Stock. Ein Großtransparent an der Außenfassade "Krieg beginnt hier" markiert die GIZ als Ort, an dem kriegerische Entwicklungspolitik staatlicherseits betrieben wird. Aus dem besetzten Büro ertönen Kriegsgeräusche unterlegt mit Zitaten von Niebel und Merkel. Die Reaktionen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reichen von vehementer Ablehnung bis offener Unterstützung der Aktion. Viele bekunden ihre Unzufriedenheit mit der Politik der GIZ, deren Leitung die Militarisierung der Entwicklungshilfe unterstützt. Etwa eineinhalb Stunden nach Beginn der Besetzung beginnt die Polizei, mit einem Großaufgebot die besetzten Büros zu räumen. [2]

Transparent 'Krieg beginnt hier' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Gegner steht im eigenen Land
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In Umsetzung des Konzepts einer umfassenden "vernetzten Sicherheit", wie sie auf dem Lissaboner NATO-Gipfel im Herbst 2010 als Doktrin der Indienstnahme ziviler Strukturen und Organisationen für die weltweite Kriegsführung konkretisiert und beschlossen wurde, mutiert deutsche Entwicklungsarbeit zu einem Dienstleister der Militärs. Stramm angeführt vom verkappten Vizeverteidigungsminister Dirk Niebel hat das Bundesministerium für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) im vergangenen Jahr die Vergabe von Entwicklungshilfegeldern in Afghanistan an zwei Bedingungen geknüpft: Die Wahl der Projektstandorte ist mit der Bundeswehr abzustimmen und die konkrete Hilfeleistung in Kooperation mit dem Militär durchzuführen.

Zentrale Planungsstelle des Ministeriums für diese erzwungene zivil-militärische Zusammenarbeit ist die GIZ, die aus der Fusion der ehemaligen GTZ, dem DED und InWent hervorgegangen ist. Über die finanzielle Förderung und die inhaltliche Konzeption von Entwicklungshilfeprogrammen stellt sie die Schnittstelle zu den Hilfsorganisationen auch in den Kriegsgebieten dar. Im Juni diesen Jahres haben die GIZ und die Bundeswehr eine Vereinbarung zur weiteren Intensivierung der Zusammenarbeit unterzeichnet. Entwicklungshelfer sollen Unterstützung der Bundeswehr in Anspruch nehmen, während die Bundeswehr Zugriff auf Erkenntnisse der Entwicklungshilfe erhält.

Mit der Besetzung der GIZ forderten die Aktivistinnen und Aktivisten alle Nichtregierungsorganisationen auf, die Einladung der Bundesregierung zur gemeinsamen Konferenz auszuschlagen und jegliche Kooperation mit der Bundeswehr zu verweigern. Es gelte der Etablierung eines zivil gefärbten, permanenten Kriegszustands eine klare Absage zu erteilen. Darüber hinaus müßten sich die NGOs die Frage stellen, ob sie den Aufbau eines repressiven Staatsapparats in Afghanistan legitimieren und fördern wollen. Das Entwicklungsgeschäft ist Teil des Kriegstrosses, der mit der militärischen Intervention ins Land kam. So stieg die Zahl internationaler NGOs in Afghanistan seit 2001 von 49 auf fast 2000. Als soziale Dienstleistungsagenturen geraten sie immer wieder in den Konflikt, legitimatorische Funktionen für das repressive Regime in Kabul zu übernehmen. Sie sind Teil des inzwischen gescheiterten Staatsaufbaus, indem sie Verwaltungsstrukturen von oben und außen implementieren. Ihre Forderung nach einer klareren Arbeitsteilung zwischen Militärs und Entwicklungspolitik ändert nichts an dieser Verstrickung, solange sie dem Ziel, eine von den Besatzungsmächten dominierte Ausbeutungsstruktur zu schaffen und diese sicherheitspolitisch durchzusetzen, nicht entschieden entgegentreten.

Fuhrpark der Polizei - Foto: © 2011 by Schattenblick

Staatsmacht vor Kirche ...
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Redebeiträge auf den Kundgebungen vor und nach der Demo

Angelika Claußen von der Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) prangerte an, daß die afghanische Bevölkerung ihrer sozialen Grundrechte auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Wohnung und Kleidung beraubt werde. NATO-Soldaten, die Militäroligarchie in Kabul und Warlords nähmen die Menschen in Geiselhaft. Krieg und Besatzung seien im Sinne ihrer Vorwände gescheitert. Humanität hänge von intakter Empfindsamkeit, vom Mitgefühl für alle Menschen weltweit ab. Frauen würden in besonderem Maße unterdrückt, woran das Regime Karsais in Kabul nicht das geringste geändert habe.

Monty Schädel, Politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), bezeichnete den Krieg als Verbrechen an Afghanistan und den dort lebenden Menschen. Unter ständigem Rechtsbruch und entufernder Gewalt gäben sich "zivilisiert" nennende Länder des Westens vor, mit ihren Bomben, Kampfhubschraubern, Drohnen und nächtlichen Überfällen eine zivile und demokratische Gesellschaft zu schaffen. Jeder einzelne Soldat der Bundeswehr sei freiwillig und mit erhöhten Bezügen in diesen Krieg gegangen. Die Bundesrepublik müsse ihre Truppen abziehen und endlich der Opfer des Krieges und nicht der Täter gedenken.

Malalai Joya - Foto: © 2011 by Schattenblick

Malalai Joya im Mittelpunkt des Medieninteresses
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Malalai Joya, Friedensaktivistin aus Afghanistan, berichtete über die aktuelle Situation in ihrem Land: In all den Jahren der Besatzung hätten die NATO-Truppen nur Krieg, Terror, Armut, Brutalität und Unsicherheit gebracht. "Das einzige Geschenk, das sie uns mitbrachten, war die Installierung der berüchtigten Warlords und Kriminellen in den höchsten Rängen der Macht, die ihre brutalen Verbrechen gegen das afghanische Volk, insbesondere gegen Frauen fortsetzen." Die Obama-Administration weite ihre Kriege in Afghanistan, dem Irak, im Jemen, in Pakistan und Libyen aus und unterstütze das zionistische Regime in Israel. Sie betrüge zugleich ihre eigenen Landsleute, deren Steuergelder sie verschwende und deren Jugend sie in den Tod schicke.

Der amerikanische Friedensaktivist Joseph Gerson stellte den Afghanistankrieg in den Kontext umfassender geostrategischer Angriffspläne auf Rußland und China, die unter Präsident Bush vorangetrieben wurden und von Barack Obama ausgeweitet werden. Ungeachtet der schweren Wirtschaftskrise im eigenen Land und gewisser Einsparungen beim Militärhaushalt werde die Präsenz der Streitkräfte im pazifischen Raum verstärkt. Erzürnt über die extreme Kluft zwischen Arm und Reich habe die Occupy-Bewegung die soziale Frage auf die Tagesordnung gestellt und den nationalen Diskurs verändert. Sie inspiriere ähnlich wie einst die Bürgerrechtsbewegung und der Kampf gegen den Vietnamkrieg viele Menschen in den USA, gegen Unterdrückung im eigenen Land und Kolonialismus in aller Welt einzutreten.

Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, dokumentierte die verheerende Entwicklung in Afghanistan mit folgenden Daten der UNO: Die Zahl der Menschen, die in Armut leben, ist in den letzten zehn Jahren von 33 auf 42 Prozent gestiegen; unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent sondern 39 Prozent der Afghanen. Zugang zu sanitären Einrichtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölkerung, sondern nur noch 5 Prozent. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen Menschen, sondern 4,5 Millionen. Soviel zur Erfolgsgeschichte von zehn Jahren Afghanistankrieg. Daraus leitete Gysi die Forderungen ab: "Schluß mit der Beteiligung Deutschlands am Krieg in Afghanistan und anderswo. Deutschland muß ein entschiedener Kriegsdienstverweigerer werden - das wäre die richtige Lehre aus der deutschen Geschichte."

Auch Wolfgang Uellenberg vom verdi-Bundesvorstand, dessen Organisation zum ersten Mal seit langem wieder zu einer Friedensdemo aufgerufen hatte, forderte den sofortigen Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan und verlangte von der Bundesregierung, weitaus mehr Maßnahmen als bisher zu unterstützen, die tatsächlich zur Verbesserung des Lebens der Menschen in diesem Land beitragen wie etwa den Ausbau der medizinischen Versorgung und der Infrastruktur. Unverzichtbar sei eine Regierung in Kabul, die demokratisch gewählt und von der Bevölkerung anerkannt wird. Die einfachen Menschen seien seit jeher Opfer von Landbesitzern, korrupten Beamten, Drogenbaronen und Warlords, unter denen sich ausländische Mächte ihre Handlanger suchten. Die internationale Rüstungsindustrie profitiere von diesem Krieg, dessen Preis die Afghanen, die darin verheizten Soldaten und Millionen Drogentote in aller Welt bezahlten.

Rednerin DIDF - Foto: © 2011 by Schattenblick

Cigdem Ronaesin ... gegen rassistische Strategie des Teilens und Herrschens
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Cigdem Ronaesin aus dem Bundesvorstand der Föderation der demokratischen Arbeitervereine (DIDF) kam darauf zu sprechen, daß Krieg nach außen mit Repression nach innen verbunden sei. Insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund würden seit dem 11. September 2001 in zunehmendem Maße verdächtigt und diskriminiert. Der Rassismus nehme zu, Islamfeindlichkeit greife um sich. Unter dem Vorzeichen angeblicher Terrorgefahr seien auch in Deutschland neue Versammlungsgesetze und Einbürgerungsgesetze verabschiedet worden. Die Politik der Spaltung erreiche eine neue Dimension. Die Antiterrorkampagne schüre Haß und Angst in der Bevölkerung, während eine Scheindebatte um Integration auf dem Rücken der Migranten geführt werde.

Siggi Happe und Ursula Quack, die in der Interventionistischen Linken organisiert sind, ordneten den Afghanistanfeldzug in die Strategie der NATO ein, staatliche Strukturen zu zerschlagen und von ökonomischen Zerfallsprozessen zu profitieren. Aus nationalen und zwischenstaatlichen Verteilungskämpfen geborene kriegerische Konflikte wie im ehemaligen Jugoslawien, in Somalia, dem Sudan und anderen Regionen böten Anlaß, militärischen Einfluß zu nehmen. Die Probleme verarmter Gebiete dieser Welt hätten einen Namen: kapitalistische Globalisierung. Dies führte bereits in den 1980er Jahren zu sogenannten Brotrevolten auf der arabischen Halbinsel und in Afrika und setzte sich fort mit der Ausweitung von Hungergebieten in zahlreichen Weltregionen. Das Äquivalent zu Sonderwirtschaftszonen für den Weltmarkt seien die Zonen permanenten Krieges, gebe es doch keine Wohlstandsinseln ohne das sie umgebeende Meer dauerhafter sozialer und ökologischer Zerstörung. Um die dadurch aufbrechenden Widersprüche in Schach zu halten, bedürfe es militärischer Überlegenheit wie auch der Bereitschaft zu direkter Intervention.

Überall auf der Welt hätten die Menschen die Nase voll von der Gier der Besitzenden, die noch die letzte soziale Sicherheit aussaugten und sich als Rendite einverleiben wollten. Die Massenbewegungen in den arabischen Ländern hätten im Bruch mit dem bisherigen Verlauf solcher Auseinandersetzungen Erfrischung in die politische Landschaft gebracht: "Als Selbstbehauptung der Würde und der Freiheit eines und einer jeden ist die Revolte zugleich die direkte gemeinsame und unmißverständliche Antwort der Menschen auf die fortlaufende Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, auf die fast täglich steigenden Preise für die nächsten Mittel des Überlebens wie auf den lebenslangen Vorenthalt von Arbeits- und Lebensperspektiven.

Jugendvertreterin Liselotte Crater - Foto: © 2011 by Schattenblick

Lisa ... für eine Jugend, die sich Merkel, NATO und BDI nicht wünschen
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Liselotte Crater vom Bonner Jugendbündnis wies in ihrer couragierten Rede auf die zunehmende Militarisierung der Schule hin. Unterrichtsinhalte verschleierten die Realität des Krieges und die daran beteiligten deutschen Wirtschaftsinteressen. In Schule und Medien werde das falsche Bild einer humanitären Hilfe gezeichnet. Jugendoffiziere der Bundeswehr erschienen im Unterricht, um deutsche Soldaten als Aufbauhelfer in Sachen Demokratie darzustellen und offensiv für den Soldatenberuf zu werben. Selbst in der Krise würden Karriereversprechen gemacht, und arbeitslose Jugendliche locke man mit der Aussicht auf sichere Einkünfte. "Wir wollen Perspektiven" - aber nicht als Nachwuchs für den Krieg angeworben werden. Die Präsenz der Bundeswehr in vielen Schulen diene darüber hinaus dem Zweck, die wachsende Ablehnung des Krieges in der Bevölkerung zu bremsen. "Wir sind gegen Krieg und Bundeswehr in den Schulen!" "Ich denke an die vielen tausend Opfer des Krieges, an Korruption und Unterdrückung. Ich denke auch an die vielen Milliarden Euro, die bei der Bildung besser aufgehoben wären." Überall im Bildungsbereich fehle es an Geld, die Verhältnisse in den Schulen seien katastrophal. Daher fordere man "Bildung statt Bomben!"

Viele Menschen glaubten, sie könnten ja doch nichts ändern. Um so mehr gelte es Widerstand zu leisten, wo immer man sich befinde, ob in der Schule, im Betrieb oder in der Familie. Was die Eierwürfe auf Ströbele betreffe, sprächen zwar einige Grüne gegen den Krieg, doch seien das nur schöne Worte. Die Grünen seien als Partei für den Krieg und wo sie Frieden redeten, meinten sie Krieg: "Wir sollten uns nicht verarschen lassen!"

Hans-Christian Ströbele - Foto: © 2011 by Schattenblick

Für die Grünen auf der Friedensbühne ...
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Bundesregierung rechts überholt - Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert

Es hätte des Eierwurfs nicht bedurft, um deutlich zu machen, daß der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele sich als Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen nicht nur eine politische Ambivalenz von geradezu dissoziativer Qualität leistet, sondern auch seine eigene Position an antimilitaristischer Konsequenz zu wünschen übrig läßt. Die Gefahr, daß der Politiker dadurch zum Märtyrer wird, wie von einigen Vertretern der Friedensbewegung befürchtet, sollte angesichts dessen, was Afghaninnen und Afghanen unter anderem durch die Besatzungstruppen der Bundeswehr tagtäglich zu erleiden haben, nicht überbewertet werden. Dem Zynismus, mit dem dieser Staat Kriege führt, ist durch Kontroversen dieser Art keinesfalls das Wasser der besseren Gesinnung zu reichen, zumal dann nicht, wenn das Opfer der Attacke seinen Teil dazu beiträgt, in dieser Kontroverse nicht etwa den zu Unrecht Beschuldigten zu geben, sondern den Part der affirmativen Befriedung im Kern unvereinbarer Positionen übernimmt.

Protest gegen Ströbele - Foto: © 2011 by Schattenblick

... hat Widerstand zwingend zur Folge
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Den Zorn, mit dem einige Demonstrantinnen und Demonstranten Ströbele mit Parolen wie "Blut, Blut, Blut an deinen Händen" oder "Dieser Krieg, das wart ihr" übertönten, als Ausdruck eines von Dritten aufgeputschten, indoktrinierten, geradezu sektiererischen Verhaltens zu bewerten, grenzt an Verschwörungstheorien, die immer dann aufgeboten werden, wenn rationale Argumente nicht mehr greifen. Der Protest aus den Reihen der Demonstrantinnen und Demonstranten entzündete sich nicht an der Person Hans-Christian Ströbele, sondern an dem Politiker, der als Bundestagsabgeordneter den friedfertigen Ruf einer im Kern kriegstreiberischen Partei aufpoliert. An seiner persönlichen Integrität als Kriegsgegner, die in den Debatten um die Aktionen der Ströbele-Gegner immer wieder angeführt wurde, sind schon von daher Zweifel anzumelden.

Warum hat er nicht als sichtbares Zeichen seiner Solidarität mit der afghanischen Bevölkerung den spektakulären Akt des Austritts aus dieser Kriegspartei auf offener Bühne vollzogen, um einmal ein hypothetisches Beispiel für eine mutige und produktive Antikriegsaktion zu geben? Ströbele hätte als Kriegsgegner zudem allen Grund dazu, kommt er in der Fraktion doch gerade bei diesem Thema nicht zum Zuge. Wann immer es um die von den Grünen mitgetragene Mandatsverlängerung geht, darf Ströbele, der dagegen stimmt, im Bundestag nicht dazu reden: "Seit zehn Jahren möchte ich dazu im Bundestag sprechen", sagt er, "aber die Fraktion lässt mich nicht." [3] Was also will Ströbele in einer Partei, in der ein Fraktionsvorsitzender Jürgen Trittin, der Außenminister Guido Westerwelle scharf dafür anging, im UN-Sicherheitsrat nicht für den Libyenkrieg gestimmt zu haben, an seiner statt zu Wort kommt? Rot-grün hat in diesem Fall die liberalkonservative Bundesregierung rechts überholt und damit den Kriegskurs besiegelt, den sie mit der deutschen Beteiligung am NATO-Überfall auf Jugoslawien 1999 und der Besetzung Afghanistans 2001 eingeschlagen hat.

Seitentransparent internationalistischer Block -  Foto: © 2011 by Schattenblick

"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"
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Schon damals sorgte Ströbeles Funktion des pazifistischen Feigenblatts dafür, daß sich die Zahl der Parteiaustritte nach dem Bielefelder Kriegsparteitag am 13. Mai 1999 in Grenzen hielt [4]. Die legendäre Farbbeutelattacke auf Joseph Fischer hatte durchaus zukunftsweisenden Charakter, ist dieser Politiker doch mit Lobbyistenposten in der Energieindustrie und als unternehmensstrategischer Berater für Großkonzerne wie BMW und Siemens aktiv für den deutschen Imperialismus im Einsatz. Insbesondere sein Engagement als Berater seiner früheren Kollegin Madeleine Albright, deren international operierende Investmentfirma unter anderem an privaten Sicherheitsunternehmen beteiligt ist, dokumentiert die Instinktsicherheit seiner frühen Kritikerinnnen und Kritiker in den Reihen der Grünen [5].

Ströbele machte sich in Bielefeld für Fischer, der den Überfall auf Jugoslawien zum Anlaß nahm, deutsche Kriegsbereitschaft als aktive Aufarbeitung deutscher Schuld an der Judenvernichtung im NS-Staat zu propagieren, stark und behauptete, weiter in der Partei bleiben zu wollen, damit "die Grünen eine Antikriegspartei, eine Partei der Friedensbewegung" bleiben. Davon kann zwölf Jahre später keine Rede sein, doch Ströbele erweckt als treuer Parteisoldat wider besseren Wissens diesen Eindruck. Daß er gegen den Afghanistankrieg stimmen konnte, war Ergebnis eines Kompromisses, der im Kern zum Gegenstand hatte, den Fortbestand der durch die Vertrauensfrage des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder bedrohten Koalitionsregierung durch ihre Zustimmung zur Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan zu sichern. Die acht entschiedenen Kriegsgegner der grünen Bundestagsfraktion mußten per Los darüber entscheiden, welche vier Abgeordneten die Aufgabe übernehmen, die Regierungsmehrheit und damit auch den Kriegsbeschluß herzustellen [6].

Ströbele erklärte dieses Taktieren gegenüber der taz [7] damals unter anderem damit, daß er die Politik des grünen Außenministers Fischer, der für den Fall der Ablehnung des Bundeswehreinsatzes seinen Rücktritt angedroht hatte, schätze und weiterhin unterstützen wolle. Im Oktober 2011 trug Ströbele einen Antrag der grünen Bundestagsfraktion für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Bundeswehr mit, in dem unter anderem gefordert wurde, den Anteil der 17.500 Soldatinnen von derzeit 9 auf 15 Prozent zu erhöhen [8]. Den Krieg durch mehr Frauen angeblich zu zivilisieren, anstatt die Bundeswehr als institutionalisiertes Bollwerk patriarchalischer Gewalt zu verwerfen, entspricht jener von den US-Streitkräften propagierten Logik, umweltfreundliche Kriege zu führen, indem man die Bomber mit Agrosprit anstatt fossilem Treibstoff betankt.

Von daher bleibt zu fragen, wie es zu dem Auftritt Ströbeles auf dem Bonner Kaiserplatz kam, und was sich die Friedensbewegung davon verspricht, Bündnisse mit Mitgliedern ausgesprochener Kriegsparteien zu schließen, anstatt diese aufzufordern, es prinzipientreuen Kriegsgegnern gleichzutun und diesen Parteien den Rücken zu kehren. Die zur Verteidigung Ströbeles aufgebotene Kritik, man hätte einen Gregor Gysi, der ebenfalls nach dem Abschluß der Demo eine Rede hielt, mit gleicher Elle messen müssen, sprich mit Eiern bewerfen sollen, weil auch in der Linkspartei Gegner des strikten Antikriegskurses der Partei säßen, sticht nicht, weil der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linkspartei diesen Kurs mitträgt. Bei allen Aufweichungstendenzen, die in seiner Partei mit Blick auf künftige Regierungsbeteiligungen in dieser Sache vorangetrieben werden, sollte Die Linke an ihrer politischen Praxis gemessen werden, und die unterscheidet sich in der Kriegsfrage von der der Grünen und Sozialdemokraten bislang aufs elementarste.

Block Linkspartei - Foto: © 2011 by Schattenblick

Block der Partei Die Linke
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Da Parteien eine zentrale Stellung in der politischen Willensbildung der Bundesrepublik einnehmen, sollten ihre Repräsentanten in erster Linie an deren Stimmverhalten in den Parlamenten zu messen sein. Auch die Bedeutung Hans-Christian Ströbeles, der sein Bundestagsmandat als Direktkanditat erlangte, als politischer Akteur von Rang und Namen ist einer Partei geschuldet, der er eine Glaubwürdigkeit in friedenspolitischer Hinsicht verschafft, die sie nicht verdient hat.

Flankiert von zahlreichen Hundertschaften der Polizei, unter ihnen ausgesprochen martialisch wirkende Einsatztruppen, erlebte die Bonner Bevölkerung eine Demonstration, die daran erinnert, daß das relative Wohlleben hierzulande in direktem Zusammenhang zu den Nöten und Schmerzen anderer Bevölkerungen steht. Eventuelles Ungemach über die Behinderung des Straßenverkehrs war zwei Tage später, als aufgrund der Konferenz Petersberg II praktisch der Ausnahmezustand über Bonn verhängt wurde, allemal angebracht. Wenn sich politische Macht schon in der Zivilgesellschaft waffengewaltig präsentiert, wie wird es wohl in den Ländern aussehen, in denen die Kampftruppen der NATO freies Schußfeld haben?

Fußnoten:

[1] http://de.indymedia.org/2011/12/321168.shtml

[2] http://www.dazwischengehen.org/story/2011/12/offensiver- protestauftakt-zentrale-der-deutschen-gesellschaft-f-r-internationale

[3] http://www.taz.de/!64988/

[4] http://joachim-voigt.de/

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1614.html

[6] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,druck-167964,00.html

[7] http://www.stroebele-online.de/show/1096.html?searchshow=afghanistan

[8] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1530.html

Auf der Abschlußkundgebung - Foto: © 2011 by Schattenblick

Christine Hoffmann, Malalai Joya, Joseph Gerson, Said Mahmoud Pahiz
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9. Dezember 2011