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BERICHT/098: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Vom südafrikanischen Befreiungskampf lernen? (SB)


Internationalistische Kapitalismuskritik aus südafrikanischer Sicht

Solly Mapaila - Foto: © 2012 by Schattenblick

Solly Mapaila von der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP)
Foto: © 2012 by Schattenblick
Der an der Universität Hamburg Anfang Februar durchgeführte Kongreß trug nicht von ungefähr den Titel "Die kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch". Organisiert von einem aus sechs kurdischen Organisationen bzw. Medien gebildeten Netzwerk ("Network for an Alternative Quest") hätte die dreitägige Konferenz auf einen kurzen Nenner heruntergebrochen auch als "Kurdenkongreß" bezeichnet werden können, was allerdings ihrer inhaltlichen, teils wissenschaftlichen bzw. wissenschaftskritischen wie auch bewegungssolidarischen Positionierung und Ausrichtung keineswegs gerecht geworden wäre. Der kurdische Aufbruch wird nicht (allein) aus Höflichkeit oder Bescheidenheit ans Ende des Titels gesetzt worden sein, bestand doch eine deutliche, sowohl vom Organisationsteam wie auch von den Referentinnen und Referenten vorgenommene und vollzogene Akzentuierung auf einen internationalistischen Ansatz unter Bezugnahme auf antikapitalistische Proteste und Protestbewegungen in aller Welt.

Die inhaltliche Strukturierung des gesamten Kongresses in vier Themenschwerpunkte, die in eigenen Blöcken, Sessions genannt, zeitlich hintereinandergeschaltet wurden, so daß sich für die über die drei Tage hinweg konstant gebliebene Teilnehmerschar von vielleicht 500 kurdischen und nicht-kurdischen Interessierten ein roter Faden verfolgen und ergreifen ließ, bestätigte, daß dies kein Kongreß nur für Kurdinnen und Kurden über spezifisch kurdische Fragen sein sollte. So hatte am ersten Abend "Die Suche nach einer neuen Sozialwissenschaft" im Vordergrund gestanden, während am zweiten Kongreßtag zunächst in Session 2 Vorträge zum Thema "Kapitalismus als Zivilisationskrise" mit anschließender Diskussion auf dem Programm standen, während der Nachmittag dem Thema "Der Mittlere Osten jenseits der Nationalstaaten" gewidmet war, bevor am letzten Tag "Ein neues Paradigma: Demokratische Moderne" vorgestellt und diskutiert wurde.

Dieser kleine Überblick über die inhaltliche Systematik sowie den zeitlichen Grobrahmen des Kongresses wurde hier vorangestellt, um nachvollziehbar zu machen, welchen Stellenwert der Vortrag des Südafrikaners Solly Mapaila zum Thema "Kapitalismus im 21. Jahrhundert" einnahm. Was hat Südafrika mit Kurdistan bzw. der kurdischen Befreiungsbewegung zu tun? Gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den viergeteilten kurdischen Siedlungsgebieten und dem südafrikanischen Befreiungskampf oder wurde Solly Mapaila vom Zentralkomitee der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP) seines Landes eingeladen, um ganz generell zu Fragen antikapitalistischer Proteste Stellung zu nehmen?

Solly Mapaila, Achin Vanaik und Felix Padel auf dem Podium - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kapitalismus als Zivilisationskrise - Solly Mapaila mit den
Mitreferenten Achin Vanaik und Felix Padel
Foto: © 2012 by Schattenblick
Solly Mapaila bekundete zunächst seine Solidarität bzw. die Solidarität seiner Partei mit der kurdischen Revolution. Offenbar hatte er selbst nicht genau gewußt, zu welchem Thema sein Beitrag erwünscht worden war, erklärte er doch, daß ihm, nachdem er sich mit dem Organisationskomitee abgesprochen hatte, klar geworden sei, hier über die Erfahrungen der südafrikanischen Revolution zu sprechen und diese eventuell in einen Vergleich zu der kurdischen zu stellen. Ob dieser Ankündigung war ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden sicher. Gleich zu Beginn seines Vortrags über die Geschichte des südafrikanischen Befreiungskampfes setzte der SACP-Repräsentant in gewisser Weise einen Kontrapunkt zu der auch im heutigen Südafrika bevorzugten Lesart, derzufolge dieser Befreiungskampf mit der hundertjährigen Geschichte des am 8. Januar 1912 gegründeten Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) im Grunde gleichzusetzen sei.

Während dieser Jahrestag erst vor wenigen Wochen in Südafrika feierlichst begangen wurde, sprach Solly Mapaila im eiseskühlen Hamburg von einer fast vierhundertjährigen Geschichte eines Befreiungskampfes, dessen Beginn er auf den Tag zurückdatierte, an dem die ersten Siedler in Kapstadt eingefallen waren. Am 6. April 1652 hatte ein erstes niederländisches Handelsschiff in Kapstadt eine Versorgungsstation errichtet, und da die dort lebenden Menschen weder Handel treiben noch für die Okkupanten arbeiten wollten, wurden sie vertrieben, nicht ohne daß "unsere Vorväter", wie Mapaila sagte, den Siedlern Widerstand entgegengebracht hätten. Rund zweihundert Jahre und viele, viele Kriege zwischen den weißen - niederländischen wie britischen - Kolonialherren und den schwarzen Völkern Südafrikas später war es dann zu einem Krieg zwischen den beiden Besatzungsmächten gekommen, der mit dem Sieg der britischen Krone, aber auch einer großen Einigung zwischen den Eroberern zu Lasten der schwarzen Bevölkerungsmehrheit der 1910 als Dominion dem britischen Commonwealth zugeschlagenen Union Südafrika endete.

Dem war kolonialer Terror vorausgegangen. Solly Mapaila erwähnte in diesem Zusammenhang die Zulu-Revolte gegen die britische Herrschaft und Besteuerung in Natal von 1906, genannt Bambatha-Rebellion, die militärisch niedergeschlagen wurde. Drei- bis viertausend Zulus wurden getötet, siebentausend inhaftiert. Ihr Anführer, Bambatha kaMancinza, wurde von den britischen Besatzern geköpft. Sein Kopf wurde noch während der Schlacht auf einen Stab gesteckt, um, so Mapaila, den Einheimischen zu demonstrieren, daß sie dasselbe Schicksal erleiden werden, wenn sie weiter Widerstand leisteten. Der mit diesem Terror beabsichtigte Zweck wurde allerdings nicht erreicht, hatte er doch die Menschen noch weiter aufgestachelt und ihnen klargemacht, daß sie sich für ein fortschrittliches Südafrika einsetzen müssen. Hieraus sei eine Befreiungsbewegung entstanden, deren Kampf verschiedene Phasen durchlaufen habe, die der Referent näher skizzierte.

In der ersten, einer gleich ganz schwierigen Phase seien die meisten Anführer nach Großbritannien gereist, um den britischen König um Unterstützung für die südafrikanische Freiheitsbewegung zu bitten. Viel später erst habe die Jugend des Landes - und Nelson Mandela sei einer dieser Jugendlichen gewesen - den Schritt zur Revolution vollzogen und ein Programm mit festen Zielen ins Leben gerufen. Freiheit noch zu unseren Lebzeiten, sei die Parole gewesen. Ältere, die sich lange Zeit nicht eingesetzt und nicht gekämpft hatten, hegten Befürchtungen. Nelson Mandela jedoch organisierte eine neue Kampagne, die der Bewegung frischen Mut und neue Stärke einbrachte. Schließlich kam der Tag, an dem der ANC, die Kommunistische Partei und weitere Organisationen den Kampf gegen die Kolonialmächte beschlossen, wofür Mandela die volle Verantwortung übernommen habe. Mandela, den Mapaila als "Chef der Befreiungsbewegung" und einen "Friedensstifter" bezeichnete, der "nie am Krieg oder am bewaffneten Kampf beteiligt" gewesen sei und gegen diesen gestanden habe, bereiste in dieser Phase den afrikanischen Kontinent, um Unterstützung und weitere Mitstreiter zu gewinnen.

Der Begriff "Terrorismus" wurde damals schon in derselben Funktion wie heute verwendet - des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer. Im heutigen Südafrika ist der 16. Dezember ein Feiertag. In den Jahren des bewaffneten Kampfes, den Umkhonto we Sizwe, das wiederauferstandene Schwert der Zulu-Krieger, wie die bewaffnete Organisation des ANC sich nannte, vor über 50 Jahren am 16. Dezember 1961 aufgenommen hatte, war dieser Tag der Befreiungsbewegung stets ein Kampftag gewesen. Heute gilt er als Tag der Versöhnung. In einem Flugblatt hatte Umkhonto we Sizwe erklärt, der Speer der ganzen unterdrückten südafrikanischen Nation zu sein und nicht eher aufzuhören, als bis der Sieg errungen sei. Erklärtermaßen hatte der ANC und mit ihm Nelson Mandela Umkhonto gegründet, um gegen den Staatsterror des Apartheidsregimes vorzugehen, die internationale Öffentlichkeit auf das Unrecht in Südafrika aufmerksam zu machen und politische Verhandlungen mit der Regierung durchzusetzen [1].

Solly Mapaila am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

400 Jahre Befreiungskampf in Südafrika - auch das kurdische
Volk kann frei werden
Foto: © 2012 by Schattenblick
Solly Mapaila erklärte, daß die Revolution in Südafrika schließlich erfolgreich war und 1994 nach vierhundertjährigem Befreiungskampf zu den ersten freien Wahlen in Südafrika geführt hatte. Er verlieh seiner Überzeugung Ausdruck, daß auch das kurdische Volk eines Tages frei sein werde, thematisierte jedoch auch die Frage, was dieser Sieg für sein Land tatsächlich bedeutet habe. Bekanntlich hatte es in dieser Zeit sehr viele Verhandlungen gegeben auf der Grundlage dessen, daß die Befreiungsbewegung bereit war, den Kampf einzustellen. Mapaila sagte, daß es in dieser Phase eine Kriegführung gegen die (kommunistische) Bewegung und Massaker gegeben habe. Viele Menschen, die sich in die Verhandlungen eingebracht hätten, seien umgebracht worden. Es sei versucht worden, seine Organisation zu zerstören und durch Infiltration zu schwächen. Der heutige SACP-Repräsentant sprach von einem Krieg gegen diejenigen, die sich für den Frieden eingesetzt hätten und erklärte, daß jede Revolution irgendwann zu Friedensverhandlungen führen werde.

Diese historische Darstellung der Umbruchphase, in der das Apartheidsregime beendet und die heutige Regenbogennation Südafrikas aus der Taufe gehoben wurde, stimmt nicht unbedingt mit der vorherrschenden Geschichtsschreibung überein. Es wird zwar nicht bestritten, daß es Anfang der 1990er Jahre zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen "politisch uneinigen" Organisationen der Schwarzen gekommen war, doch werden diese zumeist als ethnisch begründet dargestellt, etwa als Konflikt zwischen der überwiegend Zulus repräsentierenden Inkatha unter Buthelezi und dem von den Xhosa dominierten ANC Mandelas. Die Annahme, daß die verschiedenen Völker Südafrikas, nachdem sie über eine so lange Zeit einen gemeinsamen Befreiungskampf gegen das Apartheidsregime organisiert hatten, in der Stunde der Befreiung aus ethnischen Gründen in Todfeindschaft zueinander traten, ist nicht eben plausibel.

Solly Mapaila machte keine der beteiligten Organisationen oder Persönlichkeiten direkt verantwortlich, er sprach in eher allgemein gehaltenen Worten von den schweren Kämpfen innerhalb der Befreiungsbewegung seines Landes, das bis zum heutigen Tag von einer Allianz zwischen dem ANC, der kommunistischen SACP und dem Gewerkschaftsverband COSATU als dem Dritten in diesem im Anti-Apartheidskampf verwurzelten Bunde regiert wird. Mapaila sprach, ebenfalls ohne andere und seien es ehemalige Mitstreiter und Mitstreiterinnen anzuklagen, von schweren Fehlern und Irrtümern, die in dieser Phase gemacht worden seien. Dennoch sei es eine Tatsache, daß sich Südafrika nach dem demokratischen Durchbruch von 1994 eine Verfassung gegeben hat, die heute als eine der besten der Welt anerkannt ist.

Wir haben aber, so Mapaila, einen Sieg ohne große Macht errungen. Die Macht, so erläuterte er, wurde lediglich von einer weißen zu einer schwarzen Gruppierung verschoben. Am Kapitalismus wurde nichts geändert, die Produktionsbedingungen blieben unverändert mit der Folge, daß sich die soziale Unterdrückung bis heute fortsetze. Die Revolution sei "nicht kapitalistisch, aber auch nicht sozialistisch" gewesen. Eine revolutionäre Bewegung müsse weiterdenken und auf alles gefaßt sein, auch auf Fragen wie: Wohin wollen wir in einer neuen Gesellschaft? Wie wollen wir die Produktionsfrage lösen? Der Referent bezeichnete es als einen Fehler innerhalb der Befreiungsbewegung, über das Problem, daß eine demokratisch gewählte Regierung in einem kapitalistischen System nicht wirklich bestimmen könne, nicht genügend nachgedacht zu haben.

Solly Mapaila sprach auch über die Befreiung der Frauen innerhalb der Befreiungsbewegung und später innerhalb der Gesellschaft als einem sehr wichtigen Thema. "Als wir nach unserem Kampf an die Macht kamen, haben wir gesehen, daß Frauen irgendwie immer am Rande der Gesellschaft lebten", sagte er. Der Kampf gegen die Unterdrückung der Frau wurde in die Revolution integriert, weil er als mit dieser zusammenhängend erkannt worden sei. Die Befreiung der afrikanischen Bevölkerung von der weißen Vorherrschaft hänge zusammen mit der Befreiung der Frau von sozialer Unterdrückung im Patriarchat sowie in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Nach dem demokratischen Wandel seien Institutionen geschaffen worden, die sich speziell darauf konzentrierten, die Befreiung der Frauen in dem demokratischen Veränderungsprozeß zu stärken - doch auch dabei seien, so Mapaila, Fehler gemacht worden, Riesenfehler, wie allerdings erst später erkannt worden sei.

Niemand im vollbesetzten Hörsaal des Pädagogischen Instituts der Universität Hamburg hätte sich zu diesem Zeitpunkt noch die Frage stellen können oder auch nur wollen, warum denn wohl ein Referent aus Südafrika auf einen Kurdenkongreß eingeladen worden war. Solly Mapaila hat, stellvertretend für die mit dem Widerstand gegen die weiße Terrorherrschaft wie auch dem Bemühen um den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ebenso tief wie der in der internationalen Öffentlichkeit weitaus bekanntere ANC verbundene Kommunistische Partei Südafrikas, eine internationalistische Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung zum Ausdruck gebracht.

Beruhend auf den langjährigen und vielfältigsten Erfahrungen und Lernprozessen, die in der südafrikanischen Befreiungsbewegung bzw. heutigen Regierungsallianz gemacht werden konnten und noch immer werden, kam Mapailas Vortrag einer politischen Inspiration gleich, die niemanden im Saal unberührt ließ gerade deshalb, weil er einen so großen Respekt gegenüber allen Menschen offenbarte, die sich heute solchen Herausforderungen stellen. Der möglichen Versuchung, ihnen Ratschläge zu erteilen, konnte er mit Leichtigkeit widerstehen, ließ er seine Zuhörer und Zuhörerinnen doch um des Fortschritts in Fragen der Befreiung willen teilhaben an der Erkenntnis eigener Fehler und Fehleinschätzungen, wie er sie sich auch in der historischen Würdigung des südafrikanischen Freiheitskampfes zu eigen gemacht hat.

Referenten und Referentin auf dem Podium hören einer Teilnehmerin aufmerksam zu - Foto: © 2012 by Schattenblick

Reimar Heider, Fadile Yildirim, Jon Andoni Lekue, Solly Mapaila, Achin Vanaik und Felix Padel (v.l.n.r.)
während der Diskussion
Foto: © 2012 by Schattenblick

Anmerkung:

[1] Vom Blood River nach Pretoria. Der bewaffnete Kampf des ANC. Südafrika begeht den 40. Gründungstag von Umkhonto we Sizwe, von Roswitha Reich, junge Welt, 15.12.2001

(Fortsetzung folgt)


22. Februar 2012