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BERICHT/111: EU-Grenzhüter fassen "illegale" Migranten ins Visier (SB)


EU-Grenzhüter fassen "illegale" Migranten ins Visier

Fachkonferenz "Zwischen(t)räume - Transkontinentale Migration nach den Umbrüchen in Nordafrika", Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 24.05.2012

Barbara Unmüßig eröffnet die Migrationskonferenz - Foto: © 2012 by Schattenblick

Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Von einem "dunklen Tag für Europa" sprach am 29. März in Brüssel der Rapporteur des Europarats, Tineke Strik, bei der Vorstellung seines Untersuchungsberichts zu den Umständen, bei denen im vorigen Jahr die Streitkräfte der NATO im Mittelmeer trotz mehrerer, bei der italienischen Küstenwache eingegangener Notrufe mehr als zwei Wochen lang ein seeuntüchtiges Boot mit 72 afrikanischen Flüchtlingen ignorierten und dadurch 69 von ihnen, darunter zwei Säuglinge, an Verdurstung, Hitzeschlag und Erschöpfung ums Leben kommen ließen. Wahrscheinlich, um den Verantwortlichen eine Verurteilung wegen ihres kriminellen Handelns zu ersparen, weigert sich die NATO bis heute, die Satellitenbilder des fraglichen Zeitraums und Meeresabschnitts freizugeben.

Das Desinteresse der NATO am Schicksal jener in Seenot geratenen Bootsflüchtlinge stand im krassen Widerspruch zur damaligen Umtriebigkeit der selbsternannten "Wertegemeinschaft", griff sie doch ab den 17. März 2011 in Libyen unter dem Vorwand, die angebliche Tötung "unschuldiger Zivilisten" durch die Truppen Muammar Gaddhafis verhindern zu müssen, militärisch ein. Daß der "Regimewechsel" in Tripolis und nicht der Erhalt menschlichen Lebens das eigentliche Motiv der NATO für die Unterstützung libyscher Moslemextremisten à la Al Kaida im Kampf gegen Gaddhafi war, zeigte sich am 4. August erneut, als die italienische Küstenwache ein nur 20 Meter langes Flüchtingsboot barg, das mit defektem Motor eine Woche lang in der Meeresenge zwischen der Insel Lampedusa und Libyen getrieben war. Von den ursprünglich 400 Bootsinsassen waren rund 100 gestorben und ihre Leichen von den anderen über Bord geworfen worden. Nach Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) starben während des Libyenkrieges mindestens 1500 Flüchtlinge im Mittelmeer.

Der rund sechsmonatige Anti-Gaddhafi-Feldzug der NATO brachte für die EU erhebliche Schwierigkeiten mit sich, hatte sich doch zuvor Libyen als verläßlicher Partner bei der Bekämpfung des "Problems" der "illegalen" Migration erwiesen. Nach Staatsbesuchen der damaligen britischen, deutschen und italienischen Regierungschefs Tony Blair, Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi hatten sich die Libyer bereit erklärt, arbeits- oder asylsuchende Migranten und Kriegsflüchtlinge aus Schwarzafrika vor der Bootsfahrt über das Mittelmeer abzufangen und sie entweder in Lager zu stecken oder in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Zu diesem Zweck bekam Tripolis umfangreiche finanzielle und technische Hilfe von der EU. Ähnliche Vereinbarungen wurden auch zwischen der EU und Tunesien getroffen.

Das rassistische Konstrukt fiel jedoch wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als die Tunesier im Frühjahr 2012 ihren langjährigen Präsidenten Ben Ali zum Teufel jagten, die Ägypter den "Pharaoh" Hosni Mubarak stürzten und in Libyen zum Aufstand gegen den Gaddhafi-Klan aufgerufen wurde. Italien und die anderen EU-Mitgliedsstaaten reagierten mit Panik und Fremdenfeindlichkeit auf den "demokratischen Aufbruch" in Nordafrika und die Landung mehrerer tausend Bootsflüchtlinge auf Lampedusa. Dänemark und Frankreich drohten sogar mit dem Austritt aus dem Schengen-Abkommen. Auf ihrem halbjährlichen Gipfeltreffen Ende Juni 2011 einigten sich die EU-Regierungschefs schließlich auf die Einführung drastischer Maßnahmen, um Europa vor unerwünschter Einwanderung aus Afrika und Asien abzuschotten.

Gruppenfoto der Teilnehmer der ersten Podiumsdiskussion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Migrationskonferenz - Workshop I mit Fabian Didier Yene, Fethi Rekik, Layla Al-Zubaidi und Prof. Ibrahim Awad Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein Jahr später schreitet der Ausbau von "Fortress Europe" mit Riesenschritten voran. Die angebliche Lösung der Europäischen Kommission in Brüssel für das Migrantenproblem sind zwei Initiativen, das Europäische Grenzkontrollsystem EUROSUR und die Einrichtung eines Entry-Exit System (EES), die beide demnächst vom EU-Parlament in Strasbourg abgesegnet werden sollen. EUROSUR sieht eine lückenlose, per Drohne, Flugzeug, Schiff, Radarstation und Satellit zu gewährleistende Überwachung aller Bewegungen im Mittelmeer und in der Atlantikregion entlang der iberischen Halbinsel und Westafrikas vor. Unter Einsatz von Einheiten der EU-Grenzagentur Frontex sollen potentielle Immigranten am Erreichen des EU-Territoriums, einschließlich der Marokko vorgelagerten, zu Spanien gehörenden kanarischen Inseln, gehindert werden. Während sie sich noch in internationalen Gewässern befinden, sollen Flüchtlingsboote einfach aufgebracht und die Insassen festgenommen werden (Die Tatsache, daß das Entern eines fremden Schiffs auf hoher See unter Gewaltandrohung nach internationalem Seerecht als Piraterie definiert wird, scheint die EU-Entscheidungsträger nicht sonderlich zu kümmern). Was mit den Betroffenen anschließend passiert, ist nicht ganz klar. Vermutlich werden sie kaserniert und sobald wie möglich abgeschoben.

Nach dem Einreise-/Ausreisesystem EES sollen alle Nicht-EU-Bürger bei der Einreise in ein Mitgliedsland der Europäischen Union - derzeit wären das 100 Millionen Menschen pro Jahr - biometrisch erfaßt werden. Auf diese Weise sollen später diejenigen, die ihre erlaubte Aufenthaltsfrist überschreiten, ermittelt werden, um sie ausweisen zu können. Wie jene Personen in einem solchen Fall gefunden werden sollen, geht aus den Plänen der EU-Kommission nicht hervor. Man kann aber davon ausgehen, daß das System über kurz oder lang entsprechende Kontrollmechanismen im EU-Innern - RFID-Chips im Visumsstempel wäre vorstellbar - nach sich ziehen wird.

Gegen den polizeitechnologischen Ansatz der EU in der Migrantenpolitik regt sich bei der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz (Grüne/EFA) im Strasbourger Parlament Widerstand, der am 24. Mai mit der Fachkonferenz "Zwischen(t)räume - Transkontinentale Migration nach den Umbrüchen in Nordafrika" in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin einen konkreten Ausdruck fand. Im Mittelpunkt der Konferenz stand die Vorstellung der Studie "Borderline - EU Border Surveillance Initiatives", die letztes Jahr von der EU-Parlamentsfraktion Grüne/EFA in Auftrag gegeben wurde und in der die beiden Autoren, Dr. Ben Hayes aus England und Mathias Vermeulen aus Deutschland, das geplante Grenzkontrollregime der EU als technokratischen Fehlschuß und extrem teueren Subventionsschwindel zugunsten der europäischen Rüstungs- und Sicherheitsindustrie entlarvten.

Dazu kamen zwei Workshops, "Aufbrüche aus Westafrika" und "Aufbrüche vom Horn von Afrika" für Berliner Gymnasiasten, sowie zwei gutbesuchte und lebhafte Diskussionsrunden. An der ersten mit dem Titel "Umbrüche in Nordafrika: 'Neue Eliten, neue Regeln?'", die von Layla Al-Zubaidi vom Südafrikabüro der Heinrich-Böll-Stiftung moderiert wurde, nahmen Prof. Ibrahim Awad vom Zentrum für Migrations- und Flüchtlingstudien an der American University in Kairo, der aus Kamerum stammende, in Marokko lebende Schriftsteller und Flüchtlingsaktivist Fabien Didier Yene und Dr. Fethi Rekik vom Institut für Soziologie an der Universität Sfax in Tunesien teil. Bei der zweiten, die "Europäische Migrationspolitik: 'Bewegung in den Beziehungen?'" hieß und die Mekonnen Mesghena von der Heinrich-Böll-Stiftung moderierte, saßen auf dem Podium Ska Keller, die als grüne Abgeordnete im EU-Parlament Stellvertreterin im dortigen Ausschuß für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres ist, der Norweger Urs Frühauf vom Hohen Kommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Italiener Gabriele del Grande, der im Internet den vielbeachteten, mehrsprachigen Blog "Fortress Europe" betreibt.

Musikalische Darbietung auf der Migrationskonferenz - Foto: © 2012 by Schattenblick

Souleymane Touré und Nasser Kilada
Foto: © 2012 by Schattenblick

Darüber hinaus stand auf dem Programm die Ausstellung "Clandestine" des dänischen Fotographen Christian Vium über die Strapazen, die junge Westafrikaner auf sich nehmen, um in die EU zu gelangen, und das, was sie als Lumpenproletariat im industriestaatlichen "Paradies" erleben, Musik von Souleymane Touré aus der Elfenbeinküste und Nasser Kilada aus Ägypten, das Theaterstück "Asylmonologe" der Berliner Gruppe Bühne für Menschenrechte und die Vorführung des Dokumentarfilms "Like a Man on Earth" aus dem Jahr 2008 über die grausamen Erfahrungen eines Flüchtlings auf dem Weg von Äthiopien über Libyen nach Italien samt anschließenden Gesprächs mit dem in Rom lebenden, äthiopischen Regisseur Dagmawi Yimer.

In einer Voraberklärung Barbara Unmüßigs vom Vorstand der Heinrich- Böll-Stiftung zur Konferenz hieß es in Bezug auf den derzeitigen Brüsseler Kurs in der Migrationspolitik folgerichtig: "Die Pläne der Kommission sind zynisch, inhuman und dokumentieren letztlich das Nachgeben gegenüber Hardlinern, die Schengen unterlaufen wollen, wie es [Bundes]Innenminister [Hans-Peter] Friedrich kürzlich forderte. Die Kommission muss sich zur Einhaltung von Grundrechten und Hilfe bekennen. Der Europäischen Asylbehörde nur ein Zehntel der Mittel zu geben, die Frontex erhält, widerspricht dem Gedanken einer humanen EU."

Man muß die Grünen wegen ihres humanistischen Einsatzes für die Menschen, die in Europa als "illegale Migranten" für minderwertig erklärt und entsprechend behandelt werden, loben und möchte ihnen viel Resonanz und Zuspruch für ihre Kampagne gegen EUROSUR und das geplante System der "intelligenten Grenzen" (sic.) wünschen. Zu befürchten ist jedoch, daß sich die einstigen Koalitionspartner von Bundeskanzler Schröder und dessen Innenminister Otto Schily von der SPD, der 2004 auf EU-Ebene die Einrichtung erster Internierungslager in Nordafrika für Flüchtlinge durchsetzte, am Ende mit lediglich symbolträchtigen Zugeständnissen werden abspeisen lassen. Dessen ungeachtet hat der Schattenblick die facettenreiche und höchst informative Fachkonferenz als Gelegenheit genutzt, um mit Ben Hayes und Mathias Vermeulen zu ihrem Bericht, mit Prof. Ibrahim Awad zur aktuellen politischen Lage in Ägypten der Nach-Mubarak-Ära und mit Gabriele del Grande zur menschenfeindlichen Abschottung der EU-Grenzen Interviews zu führen, die in den kommenden Tagen erscheinen werden.

Außenansicht der Heinrich-Böll-Stiftungszentrale - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hauptsitz der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, Schumannstraße
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31. Mai 2012