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BERICHT/128: Kapitalismus final - Alles hat ein Ende ... (SB)


Götz Dieckmann - "Marx über die historischen Grenzen des Kapitalismus"



Veranstaltung am 2. Oktober 2012 in Hamburg-Ottensen

In der Reihe "Kapitalismus in der Krise" [1] lud die Antikapitalistische Linke Hamburg in der Partei Die Linke am 2. Oktober 2012 zu einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung in die Werkstatt 3 in Hamburg-Ottensen ein. Unter dem Thema "Marx über die historischen Grenzen des Kapitalismus" sprach der Historiker Prof. Dr. Götz Dieckmann unter Bezug auf die Grundrisse von Marx über das fehlende Kettenglied zur Überwindung des Kapitalismus. Dieckmann war der letzte Rektor der Parteihochschule Karl Marx beim ZK der SED und ist Mitglied des RotFuchs-Fördervereins.

Referent beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Götz Dieckmann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Götz Dieckmann gab eingangs einen kurzen Überblick über seine Vita und berichtete, daß er an der Humboldt-Universität Geschichte und Kunstgeschichte studiert und dort bei Walter Bartel, dem früheren Vorsitzenden des illegalen Lagerkomitees im KZ Buchenwald, promoviert hat. Ihm und anderen Genossen aus dem antifaschistischen Widerstand verdanke er unermeßlich viel. Thema seiner Dissertation war die Geschichte des KZ Dora Mittelbau, wo die V1 und V2 von Häftlingen gebaut werden mußte. Als er die Arbeit abgeschlossen hatte, liefen in Essen und Frankfurt am Main gerade zwei Nazi-Kriegsverbrecherprozesse, bei denen Friedrich Karl Kaul die Nebenkläger aus der DDR und anderen sozialistischen Ländern vertrat. Dieckmann nahm dort 1967/1968 als Experte wie auch am zweiten Euthanasieprozeß in Frankfurt teil.

Habilitiert zur Geschichte der Revolutionstheorie bewarb er sich an der Parteihochschule Karl Marx, an die man normalerweise nur berufen werden konnte. Dort leitete er mehr als ein Jahrzehnt das Ausländerinstitut, an dem Genossen aus sozialistischen und nationalrevolutionären Parteien aus aller Welt ausgebildet wurden. Diese Aufgabe war mit einer umfangreichen Reisetätigkeit verbunden, die ihn in zahlreiche Länder führte. 1973 besuchte er Vietnam, in Angola hielt er sich während des Krieges auf und er war längere Zeit in Kongo-Brazzaville. Später wurde Dieckmann Dekan der Historischen Fakultät und Prorektor für internationale Zusammenarbeit. Anfang November 1989 wurde er zum Rektor gewählt und hatte die Leitung bis zur Schließung "durch vorauseilenden Gehorsam der PDS" im Sommer 1990 inne. Danach sei er "Strafrentner", Ausbildungsleiter bei der größten Suchthilfeorganisation der BRD und schließlich Geschäftsführer eines deutsch-kanadischen Bauunternehmens gewesen.

Ausgehend von der Frage, wie Marx an die Analyse der heutigen Situation herangehen würde, unterstrich Götz Dieckmann, daß sich der Marxismus wie jede andere wissenschaftliche Theorie der Praxis stellen müsse, zumal nach der verheerenden Niederlage von 1989 und den Folgejahren viele Menschen zu der Überzeugung gelangten, daß die Grundlagen unzutreffend gewesen seien. Zu Marx' Zeiten lebten 1,5 Milliarden Menschen auf dem Erdball, während es heute bereits 7 Milliarden sind, so daß der Verbrauch der Ressourcen in sehr viel schärferer Form in Erscheinung tritt. Dieser qualitativen Entwicklung müßten sich Marxisten stellen, um zu tragfähigen Aussagen zu gelangen. Der Referent benannte bei der Entwicklung des Gedankengebäudes durch Karl Marx und Friedrich Engels zwei herausragende Einschnitte in der Fülle der von ihnen bearbeiteten Gebiete. Das ist zum ersten die Konzeption des historischen Materialismus, die Dieckmann im Kreis der Zuhörer als bekannt voraussetzte. Das Kommunistische Manifest von Ende 1847/Anfang 1848 lag zeitlich vor der Entwicklung der Mehrwerttheorie. Marx und Engels erachteten es jedoch als zeitgenössisches Dokument, weshalb sie es später nicht mehr umschrieben, sondern in den Vorworten Ergänzungen hinzufügten, die sie inzwischen für unverzichtbar hielten.

Der zweite große Pfeiler war die Entwicklung der Mehrwerttheorie und die sich daraus ergebenden Folgerungen, die ihre klassische Zusammenfassung im Kapital gefunden haben. Dabei gilt es zu berücksichtigen, daß Marx das Kapital als ein legales Buch veröffentlichen wollte. Nicht zuletzt deswegen sei es sehr umfangreich und in streng wissenschaftlichem Stil gehalten, um nicht der Zensur Vorwände zu liefern. Die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie hat Marx zunächst einmal als ein Selbstverständigungsmanuskript geschrieben. Sie widerspiegeln seinen Erkenntnisprozeß vor dem Hintergrund der ersten Weltwirtschaftskrise, die 1857 ausbrach. Marx lebte zu dieser Zeit unter elenden Verhältnissen in England, blühte aber dennoch auf, da er nun die Nagelprobe auf die Theorie gekommen sah. Man kann in diesem Manuskript nachvollziehen, wie Marx das Hauptproblem einkreist. In der ersten Hälfte des Dezembers 1857 stößt Marx zum Kern der Mehrwerttheorie vor, also zu der entscheidenden Erkenntnis, daß es nur eine Ware auf dem Markt gibt, die in der Lage ist, Mehrwert hervorzubringen, nämlich die menschliche Arbeitskraft. Er stellt dar, daß die Anhäufung von Geld zunächst nur eine Schatz- oder Reservebildung ist und erst dann zum Kapital wird, wenn sie für einen Produktionsprozeß mit dem Ziel der Erzeugung von Mehrwert und damit der Abschöpfung von Gewinn auf der Basis unbezahlter Arbeit eingesetzt wird. Der arbeitende Mensch wird in seiner unterschiedlichen Qualifikation vom Kapitalisten angemietet, wobei im Arbeitsvertrag eine Bezahlung vereinbart wird und sich der Kapitalist unentgeltlich aneignet, was im Arbeitsprozeß über die vereinbarte Zeit hinaus produktiv geschaffen wird.

Im Frühjahr 1858 gelingt es Marx zu zeigen, welche Sorten von Kapital es gibt: Fixes Kapital, das in Fabriken und Maschinerie über Abschreibung nur anteilig in den Wert der Waren eingeht, und zirkulierendes Kapital. Mehrwert wird aus lebendiger Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozeß durch Mehrarbeit generiert. Der Kapitalist erwartet nicht nur eine angemessene Entlohnung für seine Leitungstätigkeit, sondern darüber hinaus, daß das von ihm vorgeschossene Kapital einen Ertrag bringt. Andere Geldbesitzer möchten an diesem Mechanismus partizipieren, ohne selbst einen Betrieb leiten zu müssen. Sie kaufen Aktien oder die Bank stellt Geld zur Verfügung, wofür eine angemessene Profitrate erwartet wird. Bei Aktien handelt es sich um eine Rendite, bei Kapital, das zur Bank gebracht wird, um den Zinssatz. Daß die Höhe der Durchschnittszinssätze gegenwärtig gegen Null geht, verweist auf eine ungenügende Profitrate in der ursprünglichen Mehrwertproduktion. Der Profit setzt sich aus direktem Profit, dem Profit als Zins und der Grundrente zusammen, also dem Anteil, den der Grundbesitzer einfordert. Das Verständnis der Profitrate sei unverzichtbar für die Analyse der gegenwärtigen Situation, so Dieckmann. Wir haben es mit einem Absinken der Profitrate zu tun, während zugleich die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Marx schreibt in den Grundrissen einen Text, den Dieckmann in acht Abschnitte unterteilt und seinen Zuhörern als Leitfaden an die Hand gegeben hat. Dies diene dem Zweck, komplexe gesellschaftswissenschaftliche Zusammenhänge einerseits ohne unzulässige Vereinfachung, andererseits aber verständlich darzustellen. Ein Meister auf diesem Gebiet sei Hermann Duncker gewesen, der mit Rosa Luxemburg zusammengearbeitet hat und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands sowie der MASCH war. Zu DDR-Zeiten war Duncker Rektor der Gewerkschaftshochschule. Er geht von kurzen Marx-Zitaten aus, die er erläutert und mit Aktualisierungen versieht. Dunckers Spuren folgend hat Dieckmann seinen Leitfaden entwickelt.

Referent hinter Bücherstapel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Leitfaden zum Verständnis komplexer Theoriebildung
Foto: © 2012 by Schattenblick

Marx schreibt:

1) "Nimmt die Profitrate ab für das größere Kapital, aber nicht im Verhältnis seiner Größe, so wächst der Bruttoprofit, obgleich die Rate des Profits abnimmt. Nimmt die Profitrate ab im Verhältnis zu seiner Größe so bleibt der Bruttoprofit derselbe wie der des kleineren Kapitals, er bleibt stationär. Nimmt die Profitrate ab im größeren Verhältnis als seine Größe wächst, so nimmt der Bruttoprofit des größeren Kapitals ebenso ab als die Profitrate abnimmt. Es ist dies in jeder Beziehung das wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste um die schwierigsten Verhältnisse zu verstehen. Es ist vom historischen Standpunkt aus das wichtigste Gesetz."

Untersucht man die Entwicklung der wichtigsten Börsenkurse, so gab es ab 1986 kein Halten ihres Anstiegs mehr. Sie stiegen mindestens doppelt so schnell wie die Realproduktion. Auf diese Weise entstanden gewaltige Finanzblasen. Eine Familie von vier Personen hat allein an Schulden der öffentlichen Hand eine Last von mehr als 100.000 Euro. Griechenland kauft deutsche Panzer, obgleich es von verbündeten NATO-Staaten umgeben ist, und soll nun zum Bezahlen der Schulden gezwungen werden. Der griechische Durchschnittsbürger hat nichts von diesen Krediten, die ausschließlich zur Bedienung des Schuldendienstes verwendet werden. Der Bruttoprofit kann also wachsen und sich in enormer Vergrößerung des Reichtums an der Spitze der Gesellschaft niederschlagen, obwohl die Profitrate sinkt.

2) "Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Auf diesem Punkt angelangt tritt das Kapital, das heißt die Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei und wird als Fessel notwendig abgestreift."

Hier haben wir es mit einer gedrängten Zusammenfassung der in der Deutschen Ideologie und im Manifest der Kommunistischen Partei entwickelten Erkenntnisse des Historischen Materialismus zu tun.

3) "Die letzte Knechtsgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der anderen Seite wird damit abgehäutet, und diese Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise. Die materiellen und geistigen Bedingungen der Negation der Lohnarbeit und des Kapitals, die selbst schon die Negation früherer Formen der unfreien gesellschaftlichen Produktion sind, sind selbst Resultate seines Reproduktionsprozesses."

Der Referent wies darauf hin, daß die Zahl klassenbewußter Menschen auch im Osten Deutschlands dramatisch gesunken sei. Wenngleich er die Rolle des subjektiven Faktors keineswegs unterschätze, müsse man als Marxist hervorheben, daß die Annäherung an die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise ein Produkt der gesellschaftlichen kapitalistischen Reproduktion selbst ist. Das sei der primäre Prozeß, während es sich bei der Unzufriedenheit über die Lebensverhältnisse um eine Folgeerscheinung handle. Diese Schranken zeigen sich in zyklischen Krisen und in übergelagerten langfristigen Krisenprozessen, die mit ersteren nicht völlig identisch sind. Die meisten Krisen seit 1857 haben bekanntlich nicht zur Revolution geführt. Es gibt längerfristige Zyklen von Fäulnis, Stagnation, gesellschaftlicher Krise und revolutionären Aufschwüngen, aber auch Konterrevolution. Bei diesen Erläuterungen handle es sich im Kern um das Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise. Es entsteht in deren Verwertungsprozeß und spiegelt sich letzten Endes, wenn alle Schritte durchlaufen sind, in der Entwicklung der Profitrate wider. Das war Marx' zweite große Entdeckung, nämlich die Entschlüsselung der Geheimnisse des Mehrwerts.

4) "In schneidenden Widersprüchen, in Krisen und Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung ist die schlagendste Form, worin ihm der Rat gegeben wird, abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben."

Wenn beispielsweise jemand 100.000 Euro zur Bank bringt mit dem Ziel, einen entsprechenden Zins zu erwirtschaften, dann bekam er vor einigen Jahren 5 Prozent "für nichts": Kapital, das mit dem Ziel der Zinserwirtschaftung kapitalisiert wird, in der Erwartung, daß jemand mit diesem Geld etwas produziert und Mehrwert aus den Arbeitern herausholt, der dann wiederum anteilig verteilt wird. Wenn die Durchschnittszinsrate von angenommen 5 Prozent auf gegenwärtig 1,5 bis 1,7 Prozent sinkt, dann wird die angelegte Kapitalmasse von 100.000 Euro entwertet. Man dürfe daher die gewaltsame Vernichtung von Kapital nicht nur als Bankrott und Untergang von Unternehmen verstehen, sie finde vielmehr auch dadurch statt, daß die Profitrate nicht mehr ausreicht, um die Zinserwartungen der Geldanleger unterschiedlichster Art zu befriedigen. Es gehe jetzt politisch etwa bei der Bildung von Rettungsschirmen darum, eine lukrative Verzinsung oder gegebenenfalls eine Veräußerung der Staatsanleihen zu realisieren.

Marx räumt hier mit der idealistischen Illusion auf, eine neue ausbeutungsfreie Gesellschaft entstehe vor allem im Gefolge des Strebens nach mehr Gerechtigkeit. Wenngleich dieses eine starke gesellschaftliche Triebkraft sei, handle es sich doch um eine moralische Kategorie, die Klassencharakter hat. So empfindet es der Kapitalist es als eine schreiende Ungerechtigkeit, wenn sich sein Kapital nicht mehr so verzinst wie vor zehn Jahren. Die sozialistische Revolution ist aber im Kern ein Produkt der Verschärfung der Widersprüche des kapitalistischen Reproduktionsprozesses. Hier liegt im Kern die prinzipielle Absage des Marxismus an den Sozialreformismus. Etwas an den Verteilungsverhältnissen zu ändern, um womöglich eines Tages mit dem demokratischen Sozialismus aufzuwachen, sei ein fundamentaler Irrtum, warnt Dieckmann. Diese prinzipielle Abgrenzung vom Sozialreformismus dürfe jedoch nicht als eine prinzipielle Absage an den Kampf um Reformen verstanden werden, da dieser der Bildung von Bewußtheit den Boden bereite. Lenin zufolge entsteht Bewußtheit nie allein aus Agitation und Propaganda, vielmehr müßten die lebendigen Erfahrungen von Menschen schrittweise auf die Ebene der Einsicht gehoben werden. Zudem ist der Kapitalismus durchaus in Einzelbereichen reformfähig. Beispielsweise existieren in der Schweiz bestimmte Formen der Mitbestimmung in Gestalt der Volksbefragungen, die keineswegs zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen. Da er am heutigen Abend in den "bereits benutzten Bundesländern" und nicht in den neuen zu Gast sei, wolle er darauf hinweisen, daß in der Bundesrepublik, solange sie das Schaufenster der direkten Konfrontation mit der DDR war, nicht nur die Superreichen profitiert haben, so der Referent. Zugleich würde an dieser Stelle der revolutionäre Charakter aller Bestandteile des Marxismus und die wechselseitige Verflechtung dieser Bestandteile sichtbar. Es sei also Opportunismus, sich nur auf einzelne Marxsche Erkenntnisse zu berufen, andere aber gleichzeitig zu verwerfen.

5) "Es ist nicht nur das Wachsen der Macht der Wissenschaft, sondern das Maß, worin sie schon als fixes Kapital gesetzt ist, der Umfang und die Breite, worin sie realisiert ist und sich der Totalität der Produktion bemächtigt hat. Es ist ebenso die Entwicklung der Population, kurz aller Momente der Produktion, in dem die Produktivkraft der Arbeit ebenso wie die Anwendung der Maschinerie im Verhältnis zur Bevölkerung steht, deren Wachsen an und für sich schon die Voraussetzung wie das Resultat des Wachstums der zu reproduzierenden, also auch zu konsumierenden Verbrauchswerte ist."

Hier wird Marx' Blick in die Zukunft besonders deutlich, da er den Schlüssel zum Verständnis der wissenschaftlich-technischen Revolution liefert, die es zu seiner Zeit noch nicht gegeben hat. Marx gibt, wenngleich nur indirekt, damit auch einen Ansatz zur Lösung der ökologischen Probleme der Gegenwart. Er macht klar, daß die wachsende Population schrittweise anfängt, die Erde anders als bislang zu strapazieren. Dieckmann verwies an dieser Stelle in einem kleinen Exkurs auf einen Abschnitt im Kapital, der mit "Die Kolonisationstheorie" überschrieben ist. Marx beschäftigt sich darin mit dem Phänomen, daß es im 19. Jahrhundert eine große Auswanderungswelle in die USA und nach Australien gab. Das Herausnehmen von Überschußbevölkerung hat zu einer Linderung sozialer Gegensätze geführt. Heute sei die Welt jedoch klein geworden und könnte allenfalls im Zuge der Erderwärmung in einigen nördlichen Regionen neue Anbauflächen bieten, so Dieckmann.

6) "Da dieses Abnehmen des Profits gleichbedeutend ist mit der verhältnismäßigen Abnahme der unmittelbaren Arbeit zur Größe der vergegenständlichten Arbeit, die sie reproduziert und neu setzt, so wird alles vom Kapital versucht werden, um die Kleinheit des Verhältnisses der lebendigen Arbeit zur Größe des Kapitals überhaupt und daher auch des Mehrwerts, wenn als Profit ausgedrückt, zum vorausgesetzten Kapital zu bremsen, indem es die Zuwendung für notwendige Arbeit verringert und die Quantität der Mehrarbeit im Hinblick auf die gesamte Menge der angewandten Arbeit noch mehr erweitert."

Das heißt Verschärfung der Ausbeutung seitens der Kapitalisten und zwar nicht nur, weil sie "Schufte" sind, sondern aufgrund des Konkurrenzkampfs, zu dem sie sich gezwungen sehen. Man hat es also mit einer schrittweisen Veränderung des Verhältnisses von konstantem und variablen Kapital zu tun. Das variable Kapital ist der Teil, aus dem der Mehrwert gespeist wird, und dieser Teil schrumpft. Der Kapitalist müsse sehr reich sein, um es sich leisten zu können, ein guter Mensch zu sein, so der Referent.

7) "Folglich werden die höchste Entwicklung der Produktivkräfte und die stärkste Ausdehnung des vorhandenen Reichtums zusammenfallen mit Entwertung des Kapitals, Erniedrigung des Arbeiters und einer höchst unmittelbaren Erschöpfung seiner Lebenskraft. Diese Widersprüche führen zu Explosionen, Katastrophen und Krisen, in denen durch momentane Einstellung der Arbeit und die Vernichtung eines großen Teils des Kapitals das letztere gewaltig reduziert wird bis zu dem Punkt, von welchem aus es weiter kann, in der Lage ist, seine Produktivkräfte voll anzuwenden, ohne Selbstmord zu verüben. Jedoch diese regelmäßig wiederkehrenden Katastrophen führen zu deren Wiederholung auf höherer Stufe und schließlich zu seinem gewaltsamen Umsturz."

Hier erläutert Marx die Konsequenzen der Ausbeutung und unterstreicht, daß nicht jede Krise in die Revolution führt. Die Vernichtung überschüssigen Kapitals, die gegenwärtig auch das gehobene Kleinbürgertum schwer in Mitleidenschaft zieht, führt erfahrungsgemäß dazu, daß diese Schichten eher nach rechts rücken, so daß wir uns derzeit in einer Situation befinden, die der des Jahres 1931 gleicht. Die aktuelle Krise kann - muß aber nicht - in einen neuen Zyklus von Krise, Stagnation und Konjunktur münden, wofür es genug historische Beispiele gibt. Es kommt keineswegs zu ausweglosen Situationen, in denen der Kapitalismus automatisch zusammenbricht: Er muß vielmehr gestürzt werden. Besonders konfliktreiche Krisenverläufe befördern nicht nur revolutionäre, sondern auch faschistoide Bestrebungen. Das betrifft ebenso die Herausbildung revolutionärer Situationen, die Problematik der Hegemonie in der Massengesellschaft und maßgeblich Wesen und Verlauf der sozialistischen Revolution in all ihren Phasen, im Aufstieg wie auch in den Niederlagen.

8) "Es sind in der entwickelten Bewegung des Kapitals Momente, die diese Bewegung aufhalten anders als durch Krisen: Die Verwandlung eines großen Teils des Kapitals in fixes Kapital, das nicht als Agent der direkten Produktion dient, unproduktive Vergeudung einer großen Portion des Kapitals, usw."

Diese Momente, die dem Gesetz des Falls der Profitrate einen tendentiellen und nicht einen automatischen Charakter verleihen, behandelte Marx im Band 3 des Kapitals im 14. Kapitel, MEW Band 25, Seite 224 ff. Er nennt dort die Erhöhung des Ausbeutungsgrads der Arbeit, das Herunterdrücken des Arbeitslohns unter seinen Wert, die Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals, die relative Überbevölkerung, den auswärtigen Handel und die Zunahme des Aktienkapitals. Als ein Beispiel für fixes Kapital führt der Referent Bundesschatzbriefe an, die in Erwartung einer staatlichen Garantie auf Verzinsung gekauft werden. Dieses Geld gelangt aber nur zu einem minimalen Prozentsatz in den Produktionsprozeß, da der Löwenanteil bereits ausgegeben ist, wenn Bund oder Länder diese Schatzbriefe herausgeben, da es der Deckung zuvor entstandener Lücken, also der Bedienung der Schuldenberge dient.

Publikum von hinten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Marx läßt Köpfe rauchen ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

Abschließend stellt Dieckmann die aus seiner Sicht rhetorische Frage, ob man die gegenwärtige Krise und ihre Folgen anders als gestützt auf die Kerngedanken und die Methode von Marx und Lenin verstehen könne. Er habe in seinem Vortrag versucht, seinen Zuhörern deutlich zu machen, daß man in dieser veränderten Weltsituation über eine historisch und dialektisch materialistische Analyse verfügen müsse, die allein ein realistisches Bild vom Wechselverhältnis der verschiedensten Klassenkräfte der Gesellschaft und daraus abzuleitenden strategischen, taktischen und programmatischen Fragen herausarbeiten könne. Es gehe nicht ohne Marx und Lenin, wobei man freilich keinesfalls vergessen dürfe, daß man dabei auch neue marxistische Antworten auf jene Fragen finden müsse, die eine veränderte Weltsituation aufgeworfen hat.

An Götz Dieckmanns gehaltvollen Vortrag schloß sich eine ebenso konzentrierte wie ergiebige Diskussion an, in der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung die Gelegenheit wahrnahmen, am positionierten Wissensschatz des marxistischen Historikers teilzuhaben. Auf Fragen aus dem Publikum eingehend erläuterte er unter anderem, wie der Sozialismus durch eine langanhaltende Welle innovativer IT-Technologie bezwungen worden sei. Während er bis dahin hervorragend mithalten habe, sei es dem Kapitalismus rascher gelungen, diese neuen Technologien in die zivile Fertigung zu überführen. In der Sowjetunion hätten am Ende zwei getrennte Volkswirtschaften existiert: Für die Rüstung wurden alle Anstrengungen unternommen, doch habe die Entwicklung der Produktivkräfte für die Breite der Gesellschaft nicht funktioniert. Die Niederlage hätte wenn überhaupt wohl nur durch eine gewaltige gemeinsame Anstrengung mit China abgewendet werden können. Der Untergang der DDR habe seine Wurzeln in der Erdölkrise von 1973 und deren Folgen. Die Ölpreise im RGW-Bereich mußten letztlich an die Weltmarktpreise mit all den Schwankungen angebunden werden, womit der sozialistischen Planwirtschaft faktisch die Grundlage entzogen war.

In zahlreichen Diskussionsbeiträgen wurden insbesondere vertiefende Fragen nach dem Charakter des Finanzkapitals, der Vernichtung von Kapital und der Unterscheidung von fiktivem und realem Kapital aufgeworfen. Dieser thematische Komplex wird den weiteren Verlauf der Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" zweifellos begleiten, zumal es dank kontroverser Erklärungsansätze an Stoff für angeregte und weiterführende Erörterungen nicht mangeln sollte.


Fußnote
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

Banner der AKL - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gastgeber Antikapitalistische Linke
Foto: © 2012 by Schattenblick

1. November 2012