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BERICHT/137: Kapitalismus final - Maskenball (SB)


Klassenfragen im Treibsand gesellschaftlicher Widersprüche

Vortrag von Werner Seppmann auf dem Symposium am 17. November 2012



Die Unzufriedenheit mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen scheint mit den Händen greifbar zu sein, doch liegt die Normalität des alltäglichen Betriebs wie Mehltau auf dem Land. Sechs Jahre offen manifeste Krise des Kapitalismus, doch die Formierung einer antikapitalistischen Bewegung könnte in Anbetracht objektiver Verschlechterungen nicht zäher verlaufen. Auf die Aufkündigung des Klassenkompromisses folgt nicht etwa das militante Aufbegehren der davon betroffenen Lohnabhängigen und Erwerbslosen. Vielmehr scheint die Logik des kleineren Übels selbst in den Randzonen europäischer Reichtumsproduktion so sehr bevorzugt zu werden, als sei die Doktrin des neoliberalen Trickle Down nicht nur Ausdruck sozialverächtlicher Herrschaftsräson.

Die Massenbewegungen in Spanien und Griechenland lassen auch hierzulande die Hoffnung auf ein Übergreifen des rebellischen Funkens aufkeimen, doch nehmen sie im fortschreitenden Verlauf eher die Gestalt von Buschfeuern an, deren heftiges Auflodern in längere Phasen der sozialen Verödung mündet. Noch düsterer sieht es um die arabischen Demokratiebewegungen aus, wurde ihnen der Zahn der sozialen Revolution doch frühzeitig gezogen, indem die Kämpfe in eine kulturalistische, von den Manipulationen äußerer Akteure aus den NATO-Staaten verschärfte Gemengelage manövriert wurden. Die Linderung der materiellen Not wird mit den altbewährten Mitteln eines durch Kreditzusagen des IWF erzwungenen neoliberalen Strukturwandels respektive der Fortsetzung einer als verlängerte Werkbank und Ressourcenlieferant fungierenden Peripheriewirtschaft betrieben. Selbst wenn sich neue Machthaber mit sozialen Zugeständnissen empfehlen, so sind diese weit entfernt von der Abschaffung der Ausbeutung durch neokolonialistische Akteure und die eigene Oligarchie.

Gleichzeitig greifen im europäischen Krisenszenario reaktionäre Tendenzen bis hin zu offenen faschistischen Bewegungen auf eine Weise um sich, die die Chancen auf eine friedliche Abschaffung des Kapitalismus nicht eben groß erscheinen lassen. Damit die Machtfrage gar nicht erst von unten gestellt wird, beantworten Staat und Kapital sie weit im Vorfeld offener Konfrontation auf unmißverständliche Weise. Vor diesem Hintergrund nach dem revolutionären Subjekt zu fragen erscheint denn auch als hoffnungsloses Unterfangen, und gerade deshalb ist die Frage nicht vergeblich. Sich nur dann in Bewegung zu setzen, wenn der Erfolg des eigenen Kampfes in Aussicht steht oder zumindest wahrscheinlich ist, heißt, in Reaktion auf positivistisch festgeschriebene Gegebenheiten die Verhältnisse zu bekräftigen, die es zu überwinden gilt. Gegen eine materiellen Reichtum, politischen Einfluß und physische Attribute der Stärke und Schönheit verherrlichende Gesellschaft der Sieger anzutreten heißt Ohnmacht, Schwäche und Vergeblichkeit nicht zu scheuen, sondern als immanentes Element der physischen Mobilisierung, strategischen Planung und geistigen Erkenntnis zur Anwendung zu bringen. Wo sonst als in den Abgründen und Untiefen sozialen Scheiterns liegen die Quellgründe solidarischen Handelns und revolutionären Mutes verborgen, wie sonst will man den herrschenden Verhältnisse nicht nur neue Kleider überwerfen, sondern sie gänzlich überwinden?

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Werner Seppmann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Den Begriff der Arbeiterklasse erweitern

So wurde auch auf dem Symposium der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] nicht darauf verzichtet, die Frage aufzuwerfen, ob die Arbeiterklasse trotz aller Veränderungen in Hinsicht auf ihre Zusammensetzung, den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft und die weitere Zunahme mechanisierter, automatisierter und digitalisierter Formen der Produktion noch das revolutionäre Subjekt sei. Der Soziologe Werner Seppmann, der sich in verschiedenen Publikationen und als Mitarbeiter des Projekts Klassenanalyse ausführlich mit den Veränderungen in der Arbeitswelt der Bundesrepublik auseinandergesetzt hat, stieg in seinen Vortrag mit der Feststellung ein, daß abhängige Beschäftigung und die Erzeugung materieller Güter nach wie vor Dreh- und Angelpunkt des wirtschaftlichen Geschehens in Deutschland seien. Dies hielt er der These entgegen, laut der die postindustrielle Gesellschaft vor allem auf Wissenschaft und Forschung, auf Dienstleistungs- und Kommunikationswirtschaft basiere. Zu behaupten, daß schwere körperliche Arbeit für immer mehr Menschen eine Sache der Vergangenheit sei, während die Arbeit am Rechner oder im Servicejob das Gros lohnabhängiger Tätigkeiten bestimme, unterschätzt die Asymmetrie einer gobalisierten Arbeitsteilung, für deren Wertschöpfung zahlreiche Menschen auf Feldern und Baustellen, in Fabriken und Manufakturen regelrecht verbraucht werden.

Nichts von diesen Thesen sei wirklich falsch, doch ihre Verabsolutierung und die sachfremde Kombination der einzelnen Elemente erzeuge einen falschen Eindruck, wandte Seppmann gegen die Deutungsmacht dieses Spektrums linker Theoriebildung zur Arbeitsgesellschaft ein. So zeigten genauere Untersuchungen, daß die Behauptung, zwei Drittel der abhängig Beschäftigten in der BRD seien im Dienstleistungssektor tätig, zu hoch gegriffen ist. Nicht zuletzt aufgrund statistischer Manipulationen, die Produktionsarbeiter als Dienstleister deklarieren, ergebe sich eher ein Anteil von 50 Prozent der Beschäftigten im materiell produzierenden Sektor. Zudem würden vorbereitete Stufen des Produktionsprozesses häufig umdeklariert, indem etwa Lagerarbeiter als Dienstleister geführt würden.

Hier wäre zu ergänzen, daß ein Großteil der als immateriell geführten Produktion im Bereich der Informations- und Telekommunikationsindustrie Zuarbeiten für die industrielle Güterproduktion darstellen. Zudem sind konventionelle Dienstleistungen in den Einzugsgebieten hochproduktiver Industriekomplexe und HighTech-Cluster unabdingbar für die dort erreichte Produktivkraftentwicklung. Die aus industrieller Arbeit gezogene Wertschöpfung ermöglicht nicht nur die Ausweitung des Dienstleistungssektors, sie ist für die Erwirtschaftung wettbewerbsfähiger Endabnehmerpreise auf die mit verbilligter Arbeit operierenden Servicestrukturen wie die immer noch unbezahlte Reproduktionsarbeit in den Familien der Lohnabhängigen angewiesen.

Gegen den angeblichen Bedeutungsverlust der Arbeiterklasse durch die fortlaufende Mechanisierung argumentiert der Referent, indem er auf die Unverzichtbarkeit lebendiger Arbeit verweist. So erschließe das Kapital immer neue Felder der Produktion, erweitere die Palette der produzierten Güter und, wie zu ergänzen wäre, diversifiziere das Angebot der Waren ganz im Sinne eines Bedürfnisse erzeugenden Konsumismus. Dieser betreibt eine umso mehr am individuellen Verbrauch orientierte Identitätsbildung als eine selbstbestimmte Entwicklung fördernde Individuation der der herrschaftsstrategischen Atomisierung des vergesellschafteten Menschen in ausschließender Weise entgegentritt.

Für Seppmann ist jede ökonomische Grundtendenz von Gegentendenzen begleitet, die die Grundtendenz zwar neutralisieren, sie aber nicht gänzlich aufheben. Dementsprechend verwirft er die Prognose der wertkritischen Schule vom Ende mehrwertproduzierender Produktion und diagnostiziert statt dessen eine Verlagerung der produktiven Arbeiterklasse etwa nach China. Dort bildeten Arbeiterinnen und Arbeiter die am stärksten wachsende Gruppe der Gesellschaft, deren Integration in konventionelle Arbeits- und Ausbeutungsstrukturen zahlreiche soziale Konflikte erzeuge. Auch in Deutschland sei der industrielle Bereich nach wie vor das Machtzentrum der bürgerlichen Gesellschaft. Wer in den großen Betrieben das Kommando hat, habe auch gesamtgesellschaftlich das Sagen. Allerdings sei dies nicht das einzige Feld, in dem Konflikte zwischen Kapital und Arbeit ausgetragen würden. So habe es die meisten Streiks in jüngster Zeit in den neuen Privatisierungszonen gegeben. Wer in Krankenhäusern, Pflegeheimen und anderen Einrichtungen der Sozialfürsorge arbeite, sei Privatisierungsstrategien besonders stark unterworfen und entwickle mit der Entwertung seiner Arbeit eine entsprechende Widerstandsbereitschaft. So gehöre eine Krankenschwester zwar nicht zur traditionellen Arbeiterklasse, sei aber Mitglied der Lohnabhängigenklasse zumindest im Gesundheitswesen und ähnlich aktionsfähig wie etwa die Mitarbeiter der Müllentsorgung oder öffentlicher Dienste.

Die besondere Bedeutung der Beschäftigten im Industriesystem erschließe sich aus dem großen Störpotential, das aus dort geführten Streiks resultiere. Da nicht alle Tätigkeitsfelder der traditionellen Arbeiterklasse wie etwa Energieversorgungsunternehmen ausgelagert werden könnten, bestehe dort noch eine starke Handlungsmacht, so die Analyse Seppmanns. Da inzwischen nur noch die Hälfte der Industriearbeiterinnen und -arbeiter regulär angestellt sei, während die andere Hälfte aus Zeitarbeiterinnen und -arbeitern wie anderen prekär bis informell Beschäftigten besteht, sei damit eine Art permanente Streikbrecheroption aufgebaut worden.

Dies sei schon deshalb erforderlich, weil die Ausbeutung der Arbeitskraft in der Industrie, wo sich Kapital und Arbeit unmittelbar gegenüberständen, nach wie vor besonders intensiv vollzogen werde. Die Menschen arbeiteten nicht nur am Rande ihrer Leistungsfähigkeit, sondern würden permanent über den Rand des gesundheitlich Vertretbaren getrieben. Ihr Bewußtsein sei davon geprägt, daß sie den gesellschaftlichen Grundwiderspruch als Ohnmacht gegenüber den sie verfügenden Hierarchien erlebten. Dies trage sich ebenso durch die angeblich neue Arbeitswelt, wo mit kooperativen Strukturen, flachen Hierarchien und einem großen Ausmaß an Eigenverantwortung auf das persönliche Erfolgsstreben des angeblichen Arbeitskraftunternehmers gesetzt wird, als partielle Pakte zwischen Kapital und Arbeit nicht in der Lage seien, die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Grundwiderspruchs aufzuheben. Die realistische Einschätzung der desolaten eigenen Lage sei zwar noch kein Klassenbewußtsein, aber eine Vorstufe zu seiner Entwicklung. Es hänge schließlich von den politischen Kulturen ab, ob sich aus dem klassenspezifischen Konfliktbewußtsein ein Bewußtsein gemeinsamer Interessen entwickle, wenn dies auch unter der Bedingung einer durch neue Formen der Zeit- und Leiharbeit entsolidarisierend ausdifferenzierten Lohnarbeit nicht eben leichter geworden ist.

Insgesamt sei eine Verschärfung des Verhältnisses von lebendiger Arbeit zur Mechanisierung und Digitalisierung nicht nur für Facharbeiter in der BRD, sondern auch die Lohnabhängigen in der Peripherie festzustellen. Im IT-Sektor selbst bilde sich ein neues Cyberproletariat heraus, würde dort doch zusehends versucht, die Produktionsprozesse zu standardisieren, zu rationalisieren und arbeitsteilig so zu organisieren, daß der einzelne Programmierer oder Sachbearbeiter einem ähnlichen Zeitdruck ausgesetzt ist wie sein Kollege am Fließband in der Fertigungshalle. Gleichzeitig rechne es sich durch das Absinken des Preisniveaus der Arbeit wieder, vermeintlich überkommene Maschinen und Technologien mit einem höheren Anteil an menschlicher Arbeit einzusetzen.

Die Frage eines Zuhörers nach einer positiven Perspektive, die auf eine positive Entwicklung und Veränderung der gesellschaftlichen Bedürfnisse anknüpfe, quittierte Seppman mit der Einschätzung, es an keiner Stelle mit einem irgendwie wünschenswert gearteten Fortschritt zu tun zu haben. Seiner Ansicht nach sei die Gesellschaft von soziokulturellen Regressionsprozessen dominiert. Die Menschen unserer Zeit wüßten so wenig über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse, wie es im Industriekapitalismus nie der Fall gewesen sei, daher finde auch kein dialektischer Prozeß von Produktivkraftentwicklung und positiver Bedürfnisartikulation statt. Was diese ausmache, werde von der Konsumindustrie bestimmt, daher müßten Linke viel intensiver darüber nachdenken, wie man die alte Frage der Arbeiterklasse nach der Verwirklichung eines selbstbestimmten Lebens wieder stellen könne.

Dennoch sei die sogenannten Bewußtseinsindustrie nicht in der Lage, die Widerspruchserfahrungen der Menschen zu verdrängen. Sie könne zwar verhindern, daß die Menschen Aufschluß über ihre Lebensverhältnisse erlangten, aber nicht die elementare Erfahrung gesellschaftlicher Widerspruchslagen zunichte machen. Dafür, daß dies nicht zu mehr Widerstand führe, sei die Linke selbst verantwortlich. Trotz der allgemeinen Unzufriedenheit mit der kapitalistischen Gesellschaft liefe die Kritik an ihr weitgehend ins Leere. Für Seppmann hat dies vor allem mit dem Mangel an Alternativen zu tun, die zu besprechen keinesfalls Utopismus sei. Die zukünftige Gesellschaft sei gerade vor dem Hintergrund des gescheiterten Sozialismus eine Frage von großer Aktualität, so der Referent, der die Arbeitszeitverkürzung als probates Mittel zur Artikulation von Übergangsforderungen nannte, betreffe dies doch nicht nur ökonomische, sondern auch Fragen der jeweiligen Lebensverhältnisse.

Man sei in dieser Hinsicht schon weiter gewesen, gestand Seppmann ein. Er warnte davor, sich der Illusion hinzugeben, daß der Kapitalismus schon am Ende sei. Um diesem Ziel näherzukommen, müsse man vor allem darauf hinweisen, daß der Preis für seine Fortdauer auf allen Gebieten - ökologisch, sozial, kulturell, individuell - immer höher werde. Dabei könnten die Lebensbedingungen heute schon anders sein, sei der Kapitalismus zwar hochgradig destruktiv, doch habe er weltweit auch die Voraussetzung für lebenswürdige Gestaltung der Lebensverhältnisse geschaffen. Wenn die Linke das Mögliche nicht realisieren könne, dann drohe die Dynamik des soziokulturellen Verfalls weiter um sich zu greifen, daher gebe viel zu tun, so Seppmanns Mahnung zum Abschluß des Symposiums.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Werner Seppmann, Moderator Uli Ludwig, Arnold Schölzel Foto: © 2012 by Schattenblick

Gesellschaftliche Widerspruchserfahrungen fruchtbar machen

Ist man unbescheiden genug, sich nicht auf den Kampf um die Rückgewinnung jener Zugeständnisse zu beschränken, mit denen der Rheinische Kapitalismus den realsozialistisch herausgeforderten sozialen Frieden in der BRD sicherstellte, hat man grundlegende Einwände gegen die Zurichtung des Menschen auf die tayloristischen Regimes der maschinellen Produktion, dann ist es kaum zweckmäßig, revolutionäre Subjektivität in der traditionellen Formation der Arbeiterklasse zu verorten. Auch wenn die Kernbelegschaften der industriellen Produktivität die wirksamste Kampfkraft entfalten können, bleibt eine Mobilisierung, deren Ziele über Lohnforderungen und Arbeitszeitbeschränkungen nicht hinausgehen, unterhalb der Schwelle eines Gesellschaftsentwurfs, der die Eigentumsordnung, den Zwang zum Verrichten fremdbestimmter Arbeit und die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur hinter sich läßt. Während nichts gegen das Erstreiten erreichbarer Ziele spricht, gilt es doch im Auge zu behalten, daß die Herrschaft des Menschen über den Menschen in jedem sozial noch so entwickelten System der Kapitalverwertung aufrechterhalten bleibt.

So erweist es sich heute kaum mehr als zweckmäßig, die überflüssig gemachten Menschen in der Kategorie des "Lumpenproletariats" als politisch unzuverlässig und sozial delinquent zu stigmatisieren. Ganz im Gegenteil erschließt sich die Vielfalt menschlicher Subjektivität gerade in den gesellschaftlichen Randbereichen notorischer Verweigerung, im prinzipiellen Widerstand gegen die Anpassungs- und Leistungsimperative der Kapitalmacht, in den Praktiken von der Warenzirkulation abgehängter Subsistenz und sich staatlichen Zugriffen verschließender "Parallelgesellschaften". Auch ist es abwegig, die großen Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion von den meist von Frauen gewährten "Dienstleistungen" affektiver Art über die sogenannte Care Economy, die informelle Nachbarschaftshilfe und kommunale Selbstorganisation bis zu den professionalisierten Diensten der Sozialen Arbeit von der gewerkschaftlich eingebundenen, in Hinsicht auf ihren mehrwertproduzierenden Ertrag als "produktiv" qualifizierten Arbeit abzugrenzen. Eine zuverlässig funktionierende Staatlichkeit und Rechtsordnung, gut ausgebaute Infrastrukturen und eine gut ausgebildete und allgemein zufriedene Bevölkerung sind gesamtgesellschaftliche, von der neoliberalen Standortlogik hochgeschätzte Leistungen, die nicht nur von der Industriearbeiterschaft und ihren Reservearmeen erbracht werden.

Wichtige soziale Kämpfe finden heute auch außerhalb des Systems der Lohnarbeit im Widerstand gegen die Verwertung der Natur, die Kommodifizierung essentieller Lebensmittel, die Privatisierung des Gesundheitswesens, die Verknappung des Wohnraums und die Spaltung der Menschen in Staatsbürger und Migranten statt. Die zentrale Frage danach, wie wir leben wollen, kann nicht außerhalb des Kapitalverhältnisses gestellt werden, geht in ihrer Entwicklung aber über den Widerspruch von Kapital und Arbeit hinaus. Diesem rigoros auf den Grund zu gehen, indem der warenförmige Charakter sozialer Beziehungen aufgedeckt wird, kann Quellen autonomer Handlungsfähigkeit erschließen, die sich nicht mehr dem letztlich biologistisch bestimmten Bann kreatürlicher Bedürftigkeit unterwirft, sondern Mangel und Not im Grundsatz negiert. Indem der Naturzwang als konstitutive Bedingung jeder Vergesellschaftung anerkannt wird, werden materielle Sachzwänge stark und die Bruchlinien des sozialen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit scharf gemacht. Lohnarbeiter gegen Erwerbslose, Facharbeiter gegen Hilfskräfte, Festangestellte gegen Leiharbeiter, Verwaltungskräfte gegen Fabrikarbeiter, Angestellte des öffentlichen Dienstes gegen die der Privatwirtschaft, die Belegschaften von Schließung bedrohter Fabriken des einen Standortes gegen den anderen, die materiell noch abgesicherten Bevölkerungen der hochproduktiven Zentralstaaten gegen die verarmten Massen in den krisengeschüttelten Zonen der Peripherie - der Sozialdarwinismus ist nicht nur Programm neoliberaler und neokonservativer Eliten, er artikuliert sich auf breiter Ebene in der Entsolidarisierung und Atomisierung des durch materiellen Mangel genötigten und kulturindustriell verfügten Subjekts der postmodernen Gesellschaft.

Wie also die Widerspruchserfahrungen, die alltäglich erlittene Ohnmacht und das in den Gewaltexzessen der sozialen Konkurrenz manifeste Scheitern für eine Gegenposition fruchtbar machen? Sicherlich nicht durch die Ausflucht in eine angeblich immateriell gewordene Produktivität und eine Multitude, deren amorphe Gestalt im unbestimmten Charakter poststrukturalistischer Machtdispositive das Arrangement mit den herrschenden Verhältnissen sucht. Ebensowenig durch die Affirmation eines Klassenbegriffs, der die Zwangslage, die sich aus dem Aufstieg des Bürgertums zu den Eigentümern der Produktionsmittel und das Hervortreten des doppelt freien - frei von eigener Subsistenz und freigestellt zum Verkauf seiner Arbeitskraft - Lohnarbeiters ergeben hat, in ein Mittel positiver Identitätsbildung und Sinnstiftung verwandelt. Von der calvinistischen Glorifizierung der Arbeit und einem Leistungsdarwinismus, der angeblich unproduktive Menschen wie in finstersten Zeiten klerikaler Herrschaft als vom wahren Glauben Abtrünnige stigmatisiert und ihnen bei nicht erfolgender Unterwerfung den Entzug letzter Überlebenschancen androht, sind auch Linke nicht frei, die die Entwicklung der Produktivkräfte zur Voraussetzung jeder menschlichen Emanzipation verabsolutieren.

Was bleibt, ist die Negation all dessen, was ohne besondere theoretische Vorbildung als inakzeptabel erkannt und verworfen wird. Daran besteht desto weniger Mangel, als die veränderte Klassenzusammensetzung auf Entwertungsprozessen beruht, die die Prekarisierung großer Bereiche der Erwerbsarbeit als bloßen Einstieg in eine fundamentale soziale Verelendung kenntlich macht. Die Rede ist von der in vielen Ländern des Südens längst alltäglichen millionenfachen Versklavung, die durch die technische Produktivkraftentwicklung nicht etwa aufgehoben wird, sondern in der Freisetzung von immer mehr Menschen für gering entlohnte Tätigkeiten neue Dimensionen physischer Ausbeutung erschließt. Während die Profitrate des überakkumulierten Kapitals drastisch verfällt, wird Mehrwertabschöpfung auch auf niedrigstem Niveau interessant, bestimmt sich der Wert einer Ware doch auch an der Verfügungsgewalt über Leib und Leben der Menschen, die sie erzeugen. Daß mit der Kommodifizierung von Organen und Geweben auch auf die physische Substanz selbst zugegriffen wird, belegt den unabgeschlossenen Prozeß der ursprünglichen Akkumulation, der Enteignung der Menschen von den Mitteln der Produktion und Subsistenz.

Geht man davon aus, daß sich eine Klasse erst im konkreten Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung konstituiert, dann bedarf es keiner soziologischen Festschreibung ihrer Zusammensetzung wie auch keiner staatlich anerkannten Institution, die sie vertritt. Auf unkorrumpierbare Weise revolutionär wäre die Klasse, wenn sie ihr Interesse negativ formuliert, anstatt sich im Ensemble gesellschaftlicher Akteure auf dem Tableau perspektivistischen Ausgleichs einzufinden. Die drohenden Konsequenzen ihrer sozialpartnerschaftlichen bis nationalistischen Einbindung nicht aus den Augen zu verlieren wäre in Anbetracht ihres historischen Scheiteren mehr, als die vermeintliche Erreichbarkeit im Krisenmodus erst recht bescheidener Ziele verheißt.

Fußnote:

[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/index.php/symposium


8. Januar 2013