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BERICHT/178: Karawane der Richtigstellung - Der Staat ist gekommen, Paragraphen schlagen aus ... (SB)


Wo Solidarität fehlt, ist sie unverzichtbarer denn je

Karawane "Freiheit für alle politischen Gefangenen" am 21. März 2014 in Hamburg



Dieser Tage reiste eine Gruppe migrantischer Aktivistinnen und Aktivisten durch die Bundesrepublik, die bei ihren öffentlichen Auftritten durch rote Regenjacken auffielen, auf denen "Freiheit für alle politischen Gefangenen!" gefordert wird. Es handelte sich um Mitglieder der Anatolischen Föderation, die die Öffentlichkeit über die Inhaftierung fünf ihrer Mitglieder aufklären wollten und zu diesem Zweck mit einer Karawane der Solidarität innerhalb von zehn Tagen durch 22 deutsche Städte zogen.

Auf dem zweisprachigen Flugblatt, das während ihrer Kundgebungen verteilt wurde, konnten die Passanten erfahren, daß diese Vereinsmitglieder festgenommen wurden, "weil sie ihr Recht auf Vereinigungsfreiheit und Meinungsfreiheit wahrgenommen haben". Die sich zur antiimperialistischen und antifaschistischen Linken zählenden Aktivistinnen und Aktivisten forderten die Bevölkerung daher zur tätigen Solidarität mit den Gefangenen auf, etwa durch die Beteiligung an einer Unterschriftenaktion oder eine individuelle Stellungnahme bei den zuständigen Behörden.

Warum es in der Bundesrepublik politische Gefangene gibt, die aufgrund eines Strafrechts inhaftiert wurden, das grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Garantien in Frage stellt, läßt sich auf einem Flugblatt allerdings nicht hinreichend erklären. Um die Beweggründe dieser keineswegs nur Migrantinnen und Migranten, sondern alle politisch oppositionellen Menschen bedrohenden Praxis staatlicher Repression greifbar zu machen, ist ein Überblick über die Geschichte und Anwendung des im Mittelpunkt der Kritik der Karawane stehenden Strafrechts nach § 129a+b unerläßlich.

Auf dem Bahnhofsvorplatz mit Transparenten - Foto: © 2014 by Schattenblick

Karawane "Freiheit für alle politischen Gefangenen" in Hamburg-Altona
Foto: © 2014 by Schattenblick

Wertegemeinschaft und Staatenkonkurrenz

Bürgerliche Freiheitsrechte werden immer dann hochgehalten, wenn sie in Ländern verletzt werden, die dem Hegemonialstreben Deutschlands und der EU eher ablehnend gegenüberstehen. So läuft kein Journalist Gefahr, sein Ansehen zu beschädigen, wenn er staatsautoritäre Praktiken in Rußland oder China anprangert. Im eigenen Land mit gleicher Elle zu messen, erfordert hingegen schon etwas mehr Mut, wie die eher randläufige Kritik an Einschränkungen des Versammlungsrechts durch Demonstrationsverbote und Gefahrengebiete belegt. Freiheit und Demokratie in der Ukraine zu bejubeln, war täglich Brot vieler deutscher Zeitungen und Sender auch zu einer Zeit, als längst klar war, daß neofaschistische Gruppen die militante Speerspitze des "Euromaidan" bilden.

Politisch motivierte Unterdrückung im NATO-Staat Türkei zu kritisieren, geht nicht so leicht von der Hand wie die Glorifizierung einer deutsche Wirtschafts- und Hegemonialinteressen befeuernden Aufstandsromantik, arbeiten deutsche Staatsschützer doch eng mit türkischen Repressionsbehörden zusammen. Zwar wurde der Gezi-Park-Bewegung einige Sympathie auch in deutschen Mainstreammedien entgegengebracht, doch fiel die Kritik an der Aufrüstung der türkischen Polizei mit Tränengas und anderen Gewaltinstrumenten durch die Bundesrepublik eher verhalten aus. Hier bewährte sich eine lange Tradition, wurde die Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat doch weder durch Militärputsche noch durch den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, in dem auch deutsche Rüstungsgüter auf seiten türkischer Streitkräfte zum Einsatz kamen, gestört.

Ging es gegen die Sowjetunion, erhielten die afghanischen Mujahedin Waffenhilfe auch aus Deutschland. So grausam und rückständig, daß er nicht zum antikommunistischen Freiheitskämpfer getaugt hätte, konnte kein Jihadist sein. Erst als die Taliban die Auslieferung Osama bin Ladens verweigerten, wurden sie zu legitimen Zielen einer bis heute andauernden neokolonialistischen Kriegführung. Galt jeder Islamist nach dem 11. September 2001 als potentieller Terrorist, der nach Belieben verschleppt und gefoltert werden konnte, so erhielt seine Reputation als Freiheitskämpfer in Libyen oder Syrien auf der Seite von EU und USA unterstützter Regierungsgegner neue Glaubwürdigkeit. Der kosovoalbanischen UCK wurden kriminelle und terroristische Vergehen aller Art nachgesehen, solange sie sich bei der Zerschlagung Restjugoslawiens bewährte. Unter den Augen der NATO wurden Zehntausende Roma und andere ethnische Minderheiten aus jenem Kosovo vertrieben, den zu erobern deutsche Politiker sich mit dem humanitären Ziel verschrieben hatten, den multiethnischen Charakter der serbischen Provinz sicherzustellen.

Die Liste der Ereignisse, an denen der widersprüchliche Charakter zwischen demokratischem Schein und machtpolitischem Sein hervortritt, ließe sich noch um einiges verlängern. Die angeführten Beispiele reichen jedoch aus, um die Mär vom wertegebundenen Charakter deutscher Außenpolitik als probates Mittel zur Legitimation kriegerischer Hegemonialpolitik zu durchschauen. Tatsächlich wird in Zeiten verschärfter Konkurrenz der Staaten um Rohstoffe und Einflußsphären immer weniger Mühe auf das Errichten legitimatorischer Fassaden verwendet. Nach der Ankündigung der Bundesregierung und des Bundespräsidenten, deutsche Interessen in Politik und Wirtschaft verstärkt auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen, hat auch die Notwendigkeit, beim Einsatz der Bundeswehr Freiheit, Demokratie und Menschenrechte vorzuschützen, deutlich abgenommen.

Transparent 'Anti-Rassismus ist kein Verbrechen, sondern Pflicht' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Zeichen setzen gegen Rassismus und Repression
Foto: © 2014 by Schattenblick

Mit Gesinnungsjustiz kriminalisieren, was auf demokratische Weise nicht zu unterdrücken ist

Nichtsdestotrotz würde das Gros deutscher Politiker den Vorwurf, die Rechtsprechung ihres Staates beuge sich politischen Zwecken, brüsk von sich weisen. Daß es jedoch gute und valide Gründe dafür gibt, eben dies zu behaupten, wissen vom politischen Strafrecht nach § 129a betroffene Menschen nicht erst seit der Verschärfung der inneren Sicherheit im Zuge der Terrorismusbekämpfung nach 2001. 1976 eingeführt, erweitert der 129a den lediglich die "Bildung krimineller Vereinigungen" betreffenden, schon 1871 gegen die damals noch klassenkämpferische SPD eingesetzten § 129, indem er die "Bildung einer terroristischen Vereinigung" unter Strafe stellt. Dies statuiert schon aufgrund der Tatsache, daß damit organisatorische Zusammenschlüsse per se kriminalisiert werden, eine Art Gesinnungsstrafrecht. In den 1990er Jahren wurde unter Inanspruchnahme des § 129a gegen etwa 1500 Personen ermittelt, die in etwa 95 Prozent der Fälle linken Gruppierungen angehörten. Obwohl rund 100 Todesopfer neonazistischer Gewalt für diese Zeit belegt sind, richteten sich durchschnittlich etwa drei Ermittlungsverfahren nach 129a im Jahr gegen rechts, während linke Bewegungen mit durchschnittlich 155 Verfahren im Jahr traktiert wurden. So wird diese Form des politischen Strafrechts seit jeher nicht nur gegen die revolutionäre Linke, sondern auch sozial emanzipatorische oder antifaschistische Gruppen angewandt, deren politische Arbeit in aller Öffentlichkeit stattfindet.

Die weitaus meisten 129a-Verfahren gegen Linke kamen über das Ermittlungsstadium nicht hinaus, und in nur etwa fünf Prozent der abgeschlossenen Fälle kam es überhaupt zu einem Urteil. In Anbetracht der weitreichenden Befugnisse, die diese Kollektivstrafbestände den Sicherheitsbehörden im Unterschied zum konventionellen Tatstrafrecht zubilligen, liegt es auf der Hand, daß sie als universales Instrument zur Ausforschung und Einschüchterung linker Bewegungen eingesetzt werden. Die umfassende Überwachung der Telekommunikation auch in Form von Rasterfahndungen, Großrazzien, Fahrzeugkontrollen und Durchsuchungen selbst bei Unverdächtigen, der Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern, die Abschöpfung von Kronzeugen und die Verwendung von Geheimdienstmaterial stehen den Repressionsorganen des Staates ebenso zur Verfügung wie die Anordnung von Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen einer Fluchtgefahr, die langfristige Inhaftierung unter Isolationsbedingungen und die Einschränkung der Verteidigungsrechte der Betroffenen. Die Durchführung bundesweiter Hausdurchsuchungen und Telefonüberwachung im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007 ist ein Beispiel für die Anwendung des § 129a als Mittel der Unterdrückung politischen Protestes, mußten doch alle in diesem Zusammenhang anberaumten Verfahren ergebnislos eingestellt werden.

Kundgebung im Hamburger Schanzenviertel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Karawane macht Station bei der Roten Flora
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Globalisierung politischer Justiz

Im Dezember 1998 einigten sich die Justiz- und Innenminister der damals 15 EU-Staaten auf eine Gemeinsame Maßnahme, die die Mitgliedstaaten verpflichtete, den Straftatbestand der "kriminellen Vereinigung" in ihr Strafrecht aufzunehmen. Um die länderübergreifende Zusammenarbeit von Polizei und Justiz bei der Verfolgung politisch radikaler Organisationen zu verbessern, legten sich die EU-Staaten darauf fest, gegen mutmaßliche Mitglieder krimineller Vereinigungen unabhängig von ihrem Standort oder ihrer Operationsbasis vorzugehen. Durch die Kriminalisierung der bloßen Zugehörigkeit wurden die Strafverfolgungsbehörden der Pflicht enthoben, einen konkreten Tatverdacht zum Ausgangspunkt ihrer gegen eine Person gerichteten Ermittlungen zu machen, durch die Aufhebung eines zwingenden Inlandsbezugs wurden sie in die Lage versetzt, gegen politische Aktivisten vorzugehen, die in ihrem Land nichts Rechtswidriges getan hatten.

Das Vorhaben, das in der Bundesrepublik erprobte Gesinnungsstrafrecht auf die ganze EU auszudehnen, um nicht nur eventuell in Europa operierende militante Gruppen, sondern auch politische Bewegungen, die zu Aktionsformen wie Streiks und Blockaden griffen, unter Terrorismusverdacht zu stellen, wurde zu einer Zeit angeschoben, als NATO und EU mit aller Macht versuchten, die Bundesrepublik Jugoslawien zu so weitgehenden Zugeständnissen zu nötigen, daß sie als eigenständiger politischer Akteur ausgeschaltet worden wäre. Da sich deren Regierung nicht darauf einließ, etwa den Streitkräften der NATO unbegrenzte Bewegungsfreiheit im eigenen Land zuzugestehen, wurde mit dem Überfall der NATO auf Jugoslawien am 24. März 1999 eine neue Ära deutscher und europäischer Kriegführung eingeläutet. Die Verkopplung der deutschen Zustimmung zum Maastricht-Abkommen 1991 mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens durch die führenden EU-Staaten legte die Axt an die Wurzel des Vielvölkerstaates. Nach blutigen Sezessionskriegen, in denen sich EU und NATO gegen die Belgrader Regierung als Jugoslawien bis zum Schluß repräsentierende Instanz stellten, wurde die Zerschlagung des einstigen sozialistischen Vorzeigestaates und führenden Mitglieds der Blockfreienbewegung finalisiert. Selbst die rudimentäre Möglichkeit, daß das in vielerlei Hinsicht auf vorbildliche Weise eingelöste Zusammenleben verschiedener Ethnien und die Idee der Arbeiterselbstverwaltung einen Gegenentwurf zur neoliberalen EU hätte bilden können, stand einem Integrationsprozeß, der den größten Kapitalkonzentrationen Europas neue Akkumulationsmöglichkeiten und politische Macht verschaffen sollte, auf inakzeptable Weise entgegen.

Der Ausbau des nationalen Sicherheitsstaates auf supranationaler Ebene war die logische Konsequenz nicht nur der Kriegführung gegen sich der Hegemonie der EU nicht unterwerfende Staaten, sondern auch der Unterdrückung eines sozialen Widerstands, der sich zu dieser Zeit erfolgreich gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) formiert hatte. Was heute in einem zweiten Anlauf mit dem Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) versucht wird, wurde damals schon als Angriff auf die demokratische Selbstbestimmung und ökonomische Daseinsvorsorge durch die maximale Freisetzung von Kapitalinteressen durch Deregulierung, Privatisierung und Investitionsschutz erkannt und verhindert. Im September 1998 wandten sich 450 Vertreter transnationaler Konzerne mit einer Erklärung gegen die "Entstehung von Aktivistengruppen", die angeblich "die öffentliche Ordnung, die rechtmäßigen Institutionen und den demokratischen Prozeß zu untergraben" versuchten.

Die durch den erfolgreichen Widerstand gegen das MAI beflügelte Antiglobalisierungsbewegung konnte bei den Protesten gegen die WTO-Konferenz in Seattle im Dezember 1999, gegen Weltbank und IWF im September 2000 in Prag, gegen den EU-Gipfel in Göteborg im Juni 2001 und gegen den G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 ihre größten Erfolge feiern. Es kann daher nicht erstaunen, daß die Anschläge des 11. September 2001 dazu genutzt wurden, durch die massive Aufrüstung des staatlichen Gewaltmonopols nicht nur den sogenannten islamistischen Terrorismus, sondern jegliche Form des antikapitalistischen Widerstands in die Schranken zu weisen. Dabei bediente sich die EU prinzipiell der Möglichkeit, nationale Unterschiede in der Strafverfolgung anhand vergemeinschafteter Rechtsnormen einzuebnen und sich auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners bürgerrechtlicher Garantien gegen den Mißbrauch der Staatsgewalt zu treffen.

So wurde mit dem Europäischen Haftbefehl (EuHB) laut Rahmenbeschluß vom Juni 2002 der Schutz gegen Auslieferung wirksam ausgehebelt, indem sich die Mitgliedstaaten auf einen Straftatenkatalog einigten, der eine Auslieferung an den anfragenden Staat auch dann erzwingt, wenn die geltend gemachte Straftat nach dem Recht des ausliefernden Staates nicht strafbar ist. Mit der Einführung von EU-Terrorlisten wurde ein weiteres Instrument zur Entrechtung und Verfolgung politischer Organisationen und Einzelpersonen geschaffen, die von einem geheim tagenden Gremium des EU-Ministerrats als Terrorverdächtige oder mutmaßliche Unterstützer aufgelistet und dadurch schwerwiegenden Sanktionen ausgesetzt werden. Deren Auswirkungen kommen in den Worten des ehemaligen Ermittlers des Europarats, Dick Marty, einer "zivilen Todesstrafe" gleich. Der Menschenrechtsanwalt Rolf Gössner brachte diese Maßnahme 2009 in Zusammenhang mit dem sogenannten Feindstrafrecht, das sich unter staatsautoritären Juristen wachsender Beliebtheit erfreut:

"Die EU greift mit ihrer Terrorliste im 'Kampf gegen den Terror' gewissermaßen selbst zu einem Terrorinstrument aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts - eines menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche "Staatsfeinde", die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ihre drakonische Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien Raum exekutiert - ohne Gesetz, ohne fairen Prozess, ohne Beweise, ohne Urteil und ohne Rechtsschutz. Ein Serienkiller habe mehr Rechte, so Dick Marty, als ein Mensch, der auf einer Terrorliste steht." [1]
Kundgebung auf dem Hamburger Rathausmarkt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ruf der Solidarität gegen schweigende Mauern
Foto: © 2014 by Schattenblick

Politisches Strafrecht als legalistisches Instrument der Exekutive

Im Zuge dieses Aufschwungs staatlicher Ermächtigung trat am 1. September 2002 der § 129b des Strafgesetzbuches in Kraft. Er gibt den Staatsschutzbehörden ein weitreichendes Mittel an die Hand, Mitglieder ausländischer Organisationen, die sich häufig als politische Flüchtlinge in der Bundesrepublik aufhalten, nach Maßgabe der Länder, aus denen sie aus politischen Gründen geflohen sind, auch hierzulande mit Freiheitsentzug zu bedrohen. Da in der Bundesrepublik bis dahin galt, daß es zumindest einer Teilorganisation der inkriminierten ausländischen Vereinigung auf deutschem Boden bedurfte, um Anklage zu erheben, wurde die Gültigkeit der § 129 und 129a auf "Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland" ausgedehnt.

Da die kontroversen Verhältnisse internationaler Staatenkonkurrenz weiterhin dafür sorgten, daß des einen Terrorist des anderen Befreiungskämpfer ist, wurde der § 129b unter Regierungsvorbehalt gestellt. Weil sich die rot-grüne Bundesregierung etwa mit der militärischen Unterstützung der kosovoalbanischen UCK oder der Aufnahme für Israel arbeitender Folterschergen aus dem Libanon in Deutschland zumindest in den Augen der davon Betroffenen mit Terroristen gemein gemacht hatte, sollte der Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung derartiger Akteure vorgebaut werden. Das Bundesjustizministerium ist bei Taten, die nach § 129b verfolgt werden, gegenüber der Bundesanwaltschaft weisungsbefugt, sofern die zu verfolgende "Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union" zurückgeht. In einem solchen Fall "wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz verfolgt". So gönnte sich die Exekutive ein Instrument der politischen Strafverfolgung, das - angeblich im Einklang mit einer als werteorientiert propagierten Außenpolitik - in den Dienst bündnispolitischer und geostrategischer Interessen gestellt werden kann. So werteorientiert der Wortlaut dieser Strafnorm, so offen ist sie für die Instrumentalisierung in jede nur erdenkliche Richtung:

"Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen." [2]

So wurden mit dieser weitgefaßten Definition mehrere Ermittlungsverfahren gegen die Kommunistische Partei der Türkei (TKP/ML) auf den Weg gebracht. Strafprozesse nach § 129b wurden neben einigen Verfahren gegen sogenannte islamistische Terroristen, vor allem gegen angebliche Mitglieder der in Deutschland wie der Türkei verbotenen Parteien Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKP-C), eingeleitet. Diese Organisationen der Linken in der Türkei waren am Hungerstreik gegen die Einführung des sogenannten Typ-F-Gefängnisses, der im Oktober 2000 aufgenommen wurde, beteiligt. Mit dieser Maßnahme versuchte die türkische Regierung, den Zusammenhalt politischer Gefangener zu zerschlagen und die Inhaftierten dauerhaft zu isolieren.

Der Widerstand gegen die Isolationshaft in der Türkei dauerte mehr als sechs Jahre. Er wurde von der DHKP-C, die an dem Hungerstreik auch nach dem Mai 2002 festhielt, als er von den meisten daran beteiligten Gruppierungen aufgegeben wurde, bis 2006 beibehalten. Bei dem Todesfasten innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern kamen mehr als 130 Menschen ums Leben. Mindestens 30 Gefangene fielen der Erstürmung ihrer Gefängnisse am 19. Dezember 2000 durch die türkische Polizei, die den Hungerstreik gewaltsam unterbinden wollte, zum Opfer. Zwar kam es letztendlich zu einigen Verbesserungen der Kontaktmöglichkeiten zwischen den Insassen, diese werden von den Behörden jedoch immer wieder unterlaufen.

Vor diesem Hintergrund ergänzen die in Deutschland geführten Ermittlungen und Prozesse gegen angebliche Mitglieder oder Unterstützer linker Parteien in der Türkei deren Justiz auf eine Weise, die zeigt, daß das politische Strafrecht der Bundesrepublik komplementärer Bestandteil eines Systems der politischen Repression in Ländern ist, die schwerlich das Kriterium einer "die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung" erfüllen. Nicht umsonst wurde und wird die Einhaltung menschenrechtlicher Standards im Umgang mit der politischen Opposition durch die türkische Regierung immer wieder von deutschen Parlamentariern als ungenügend kritisiert. So erweist sich die im Vorfeld eines EU-Beitritts von der Türkei geforderte Etablierung verläßlicher Menschenrechtsstandards als Drehtür einer politischen Verfolgung, der Menschenrechtsverletzungen wie die Aussageerpressung durch Folter, die massenhafte Inhaftierung der politischen Opposition oder rechtsstaatswidrige Praktiken wie die Verwertung von Geheimdienstinformationen in Strafprozessen nichts Fremdes sind.

Die große Bedeutung, die der NATO-Staat Türkei für EU und USA besitzt, hat mit den Umwälzungen in der arabischen Welt und dem Krieg im Nachbarland Syrien weiter zugenommen. Das Ausbrechen sozialer Kämpfe in der Türkei selbst wird, bei aller Anerkennung der Legitimität der vom Gezi-Park und Taksim-Platz ausgehenden Protestbewegung gegen die AKP-Regierung und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, durch deutsche Parteien und Medien als Bedrohung der Stabilität dieses südöstlichen Eckpfeilers des Bündnisgebiets der NATO verstanden. Die der Türkei zugedachte Rolle, als vermeintlich gelungenes Beispiel für die staatliche und marktwirtschaftliche Organisation einer mehrheitlich islamischen Gesellschaft ein Bindeglied von NATO und EU zur islamischen Welt darzustellen, bedarf der Neutralisierung respektive Unterdrückung des gesellschaftsverändernden Potentials der zahlenmäßig starken türkischen Linken. Dieses Interesse spiegelt sich in der von deutschen Staatsschutzbehörden entworfenen Zweifrontentheorie, derzufolge es im Ausland eine "terroristische Front" gäbe, die von Deutschland aus durch Personen unterstützt werde, die eine "Rückfront" bildeten. Beide Fronten ergäben zusammen die terroristische Vereinigung, weshalb im Ausland begangene Straftaten auch den Aktivisten im Inland in einer Weise zuzurechnen seien, die ihre Kriminalisierung nach deutschem Strafrecht ermögliche. [3]

Veranstaltungsplakat für Grup Yorum aus dem Jahr 2013 - Foto: © 2014 by Schattenblick

Spuren verwehter Klänge
Foto: © 2014 by Schattenblick

Grup Yorum - sozialem Widerstand eine Stimme geben

Das Schweigen zu durchbrechen und die Stimme zu erheben gegen Rassismus und staatliche Repression, ist seit ihrer Gründung im Jahre 1985 das zentrale Anliegen der türkischen Bandformation Grup Yorum. Daß bisweilen Hunderttausende Menschen zu ihren Konzerten pilgern, kommt nicht daher, daß sie Träume vermarkten oder mit gefälligen Rhythmen kurzweilige Gefühle von Zufriedenheit und Glück aufleben lassen. Die Mitglieder von Grup Yorum sind politische Aktivistinnen und Aktivisten aus dem sozialistisch-revolutionären Spektrum, deren Lieder Menschen bewegen, weil sie ihre Sprache sprechen und erkennen lassen, daß Mißstände und Ungerechtigkeiten kein unabweisliches Schicksal sein müssen, sondern im gemeinsamen Kampf überwunden werden können. Grup Yorum vereinigt klassische Elemente der anatolischen Musikkultur mit der Tradition des politischen Liedguts und dem Indie- und Folk-Rock. Die Melodien ihrer Lieder reiben sich an den gesellschaftlichen Widersprüchen, bis Töne und Texte entstehen, die bei all denjenigen Furcht auslösen, deren Herrschaft durch sie in Frage gestellt wird.

Immer wieder wurden ihre Konzerte und Alben verboten. Über 400 Verfahren leitete der türkische Staat gegen die Band ein, viele ihrer Mitglieder wurden verhaftet, über Jahre eingesperrt und gefoltert, ohne daß dies zum erwünschten Ergebnis führte, daß Grup Yorum der Streitbarkeit ihrer Musik und ihres Aktivismus entsagte. Im September 2012 wurden die Sängerin Selma Altin und die Violinistin Dilan Balci während einer Protestkundgebung vor dem gerichtsmedizinischen Institut in Istanbul verhaftet und in Polizeigewahrsam so schwer mißhandelt, daß Altin das Trommelfell platzte und Balci der Arm gebrochen wurde. Ganz offensichtlich sollten die Karrieren der Musikerinnen auf diese Weise zerstört werden. Ihsan Cibelik, Saz-Spieler der Band, beteiligte sich während seiner Haftzeit am Gefängniswiderstand und Todesfasten. Er gehörte zu den über 600 Gefangenen, die der Zwangsernährung ausgesetzt wurden und dabei am Wernicke-Korsakow-Syndrom erkrankten.

Der türkische Staat unternimmt alles, um den politischen Protest der Band durch Repression zu ersticken. So wurde das Album "Feda" (Aufopferung) drei Wochen nach der Veröffentlichung 2001 landesweit konfisziert. Bereits im Album "Boran Firtinasi" von 1998 widmete sich Grup Yorum dem Gefangenenwiderstand und Todesfasten in der Türkei. Die Brisanz ihrer Songtexte, die nicht nur in türkischen Dialekten, sondern auch in arabischer, kurdischer und lasischer Sprache gesungen werden, sorgt für so viel Unruhe, daß die Band von den türkischen Sicherheitsbehörden und Gerichten als Staatsfeind betrachtet wird. Um juristisch gegen Grup Yorum vorgehen zu können und damit eine gut vernehmliche Stimme der linken Opposition in der Türkei mundtot zu machen, wird sie der propagandistischen Arbeit für die verbotene DHKP-C bezichtigt und mit Haftstrafen drangsaliert.

Im Februar 1988 wurde die Gruppe nach einer Solidaritätsveranstaltung für Palästina in Haft genommen. Im September desselben Jahres sang die Band aus Protest gegen das Halepce-Massaker Lieder in kurdischer Sprache auf einem Konzert in Istanbul-Besiktas, was ein Ermittlungsverfahren zur Folge hatte. Im Juli 1989 wurde ein Konzert der Band in Mersin mit einem Verbot belegt. Dennoch sang die Gruppe ihre Lieder gemeinsam mit den Konzertbesuchern, woraufhin es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Im August 1994 besetzte die Gruppe das Parteigebäude der Republikanischen Volkspartei CHP aus Protest gegen die Schließung des Idil-Kulturzentrums in Istanbul, in dem die Gruppe aktiv war. Verhöre, Verhaftungen und Gefängnisstrafen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Biographie der Band, die, nachdem sie internationales Renommee erlangte und auch in Deutschland mehrere Konzerte mit hohen Besucherzahlen absolvierte, verstärkt ins Fadenkreuz des türkischen Sicherheitsapparates geriet. So trat die Musikgruppe dieses Jahr auf dem Konzert "Lieder gegen den Krieg" im Rahmen der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in der Berliner Urania auf.

Projektion mit Bildern der fünf Gefangenen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Fünf Opfer politischer Justiz
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Kriminalisierung eines migrantischen Kulturvereins

Am 2. Juni 2012 konnte Grup Yorum in der Mitsubishi Electric Halle in Düsseldorf mehr als zehntausend Menschen unter dem Titel "Eine Stimme und ein Herz gegen den Rassismus" zusammenbringen. Das Konzert, das von der Anatolischen Föderation mitorganisiert wurde, besuchten Menschen aus ganz Europa. Im Juni 2013 gab Grup Yorum in Oberhausen ein Konzert gegen Rassismus und für Gerechtigkeit für die NSU-Opfer. Kurz darauf wurde auf Rechtshilfeersuchen seitens der deutschen Generalbundesanwaltschaft am 26. Juni und später nochmals am 17. Juli in Österreich eine großangelegte Durchsuchung von Einrichtungen der Anatolischen Föderation durchgeführt, an der auch deutsche Polizeibeamte beteiligt waren. Bei diesen Aktionen wurden Yusuf Tas und Özgür Aslan verhaftet und später an die deutschen Behörden ausgeliefert. Tas und Aslan sitzen seitdem in Untersuchungshaft in Stuttgart-Stammheim. Zeitnah fanden weitere Razzien in den Niederlanden und in Belgien statt.

Ebenfalls am 26. Juni 2013 kam es in mehreren demokratischen Vereinen - im Kölner Kunstatelier, Angehörigen- und Jugendverein in Duisburg, Kulturhaus in Dortmund und Yorum Kulturhaus in Berlin - und bei Personen, die mit der Anatolischen Föderation in Deutschland zusammenarbeiten, zu Hausdurchsuchungen, bei denen vier Menschen verhaftet wurden. Ihnen wird unter anderem die Teilnahme an Konzertvorbereitungen und Verkauf von Tickets der Grup Yorum, Unterstützung des Gezi-Park-Widerstands und anderer Proteste in der Türkei als auch der Informationsaustausch mit den Anwälten politischer Gefangener vorgeworfen. Im Kern drehen sich die Anschuldigungen um den Vorwurf der "Unterstützung" bzw. "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland" nach § 129b. Laut Bundesanwaltschaft sollen die verhafteten Mitglieder der Anatolischen Föderation "Sympathiewerbung" betrieben sowie Spendengelder für die DHKP-C gesammelt haben.

Die Anatolische Föderation Deutschland wurde 2004 als Dachverband zahlreicher migrantischer Vereine gegründet. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Freiheiten und demokratischen Rechte von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei zu schützen. Sie setzt sich für die inzwischen gealterte erste Generation der türkischen Gastarbeiter ein und will der jungen migrantischen Generation die anatolische Kultur nahebringen, als deren Kernprämisse sie den moralischen und kollektiven Zusammenhalt der Menschen versteht. Zum Selbstverständnis der Föderation gehört, den türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten gegen Diskriminierung und eine Assimilation, die sich als verordnete Integration negativ auf die kulturelle Zugehörigkeit der Betroffenen auswirkt, beizustehen und ihre anatolischen Traditionen auf sozio-kultureller Ebene zu erhalten.

Angesichts der rassistischen Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten, der vielen Fälle von Brandstiftung, der Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und der unwürdigen Wohnbedingungen in sogenannten Ghettovierteln begreift sich die Anatolische Föderation auch als Plattform der türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten für politische Partizipation. Eckpunkte dieser Programmatik sind eine gerechtere Einkommensverteilung, die Vereinfachung des Einbürgerungsprozesses sowie Chancengleichheit in Schule und Ausbildung. Ferner setzt sich der Dachverband für die Abschaffung des diskriminierenden Ausländerrechts, für die uneingeschränkte Organisationsfreiheit und die Aufhebung der politischen Isolation von Migrantinnen und Migranten ein.

Obschon diese Organisation aus den Mängeln und Zumutungen erwachsen ist, die türkischstämmige Menschen in der Bundesrepublik seit gut 50 Jahren zu erdulden haben, werden Ferienlager der Anatolischen Föderation, die dazu dienen, den Jugendlichen ihre eigene Kultur und soziale Werte nahezubringen, als Terrorcamps gebrandmarkt, Solidaritätskonzerte als Veranstaltungen für die Finanzierung von Waffen für illegale Organisationen verunglimpft und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgrund zweifelhafter Vorwürfe kriminalisiert. Yusuf Tas, Özgür Aslan, Özkan Güzel, Muzaffer Dogan und Sonnur Demiray - im Namen dieser Gefangenen zog die Karawane dieses Jahr durch die Bundesrepublik.

Rote Jacke mit Aufschrift 'Freiheit für alle politischen Gefangenen!' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Roter Wille auf grauem Asphalt
Foto: © 2014 by Schattenblick

Der 40jährige Yusuf Tas ist in der Provinz Hatay als letztes von vier Kindern zur Welt gekommen. Seine Familie gehört der christlich-orthodoxen Kirche an. Schon als Kind mußte Tas die Erfahrung machen, daß Menschen nicht-muslimischen Glaubens in der Türkei einer staatlichen Assimilations- und Repressionspolitik ausgesetzt sind. Aufgrund dessen beantragte er 1992 Asyl in Österreich und setzte sein Studium der Computerwissenschaften in Wien fort. Weil er die Augen nicht davor verschließen konnte, daß türkische Migrantinnen und Migranten in Österreich weitreichenden Diskriminierungen unterworfen sind, engagierte er sich in Vereinen für die Rechte migrantischer Flüchtlinge und Gastarbeiter und gegen rassistische Gewalt. Tas versteht sich als Antifaschist und setzt sich seit Jahren für die Rechte und Freiheiten von Migrantinnen und Migranten in Europa ein.

Özgür Aslan wurde 1981 als Kind einer Arbeiterfamilie in der Provinz Bingöl im Südosten der Türkei geboren. Im Zuge der Familienzusammenführung reiste er 1997 nach Österreich aus und studierte in Wien. In Solidarität mit den politischen Gefangenen in der Türkei nahm er an Hungerstreiks und Protestaktionen teil und engagierte sich innerhalb der Anatolischen Föderation gegen Rassismus und Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten. Darüber hinaus war er an der Ausrichtung des Grup Yorum-Konzerts in Oberhausen beteiligt. Laut Haftbefehl soll Aslan 2007 eine Busreise für über 40 Personen zu einem Sommercamp in Frankreich organisiert haben, das angeblich als Schulungsveranstaltung der DHKP-C diente. Der Anatolischen Föderation zufolge verbrachten jedoch im Camp lediglich Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern die Sommerferien.

Kurios nehmen sich auch die Haftgründe für die in der JVA Vechta einsitzende Sonnur Demiray aus. Sie und ihr Mann Haydar verbrachten im Sommer 2012 ihren Urlaub auf einer griechischen Insel. Aus dem Umstand, daß sie allein von der Urlaubsreise in die Bundesrepublik zurückkehrte und am selben Tag mit anderen Personen in der Nähe des Anatolischen Vereins in Köln ein Picknick veranstaltete, schloß die Polizei laut Haftbefehl, daß Sonnur Demiray die Arbeit für eine verbotene Partei über ihre Ehe stelle. Daß ein Picknick in einem öffentlichen Park in den Augen der Sicherheitsbehörden als Schulungsveranstaltung erscheint, wiewohl ein konspiratives Treffen eigentlich heimlich vonstatten gehen sollte, ist eines der vielen Fragezeichen der gegen sie geführten Ermittlung. So wird ihr vorgeworfen, kein Mobiltelefon benutzt und statt dessen ihre Anrufe aus Internetcafés und öffentlichen Telefonzellen getätigt zu haben, was als Versuch der Verschleierung einer konspirativen Kommunikation gedeutet wird.

In der JVA Mönchengladbach inhaftiert ist Özkan Güzel, was besonders tragisch anmutet, da er infolge des Todesfastens in der Türkei am Wernicke-Korsakow-Syndrom leidet und nun in Isolationshaft besonderen Qualen ausgesetzt ist. Der gegen ihn angeführte Haftgrund besagt, daß er Ecevit Alisan Sanli kannte und dabei beobachtet wurde, wie er gemeinsam mit ihm Kartons in dessen Fahrzeug einlud, in denen sich den Polizeiakten zufolge mutmaßliches Propagandamaterial für eine Protestaktion vor dem türkischen Konsultat befunden haben soll. Sanli hat später ein Selbstmordattentat verübt. Das Strickmuster der Verdachtskonstruktion wiederholt sich: Veranstaltung eines Konzerts, Verkauf von Eintrittskarten und Sammeln von Spendengeldern, die zwar für den Duisburger Familien- und Jugendverein bestimmt waren, dessen Mitglied er ist, aber aus Sicht der deutschen Strafverfolgungsbehörden keinem anderen Zweck dienten, als die DHKP-C finanziell zu unterstützen.

Zu den Verhafteten des 26. Juni 2013 gehört auch Muzaffer Dogan, der im Hochsicherheitstrakt der JVA Wuppertal-Vohwinkel auf seinen Prozeß wartet. Dogan hat gegen die Polizeiübergriffe im Gezi-Park und anderswo in der Türkei protestiert, die weltweite Empörung hervorriefen und der AKP-Regierung massive Menschenrechtsverletzungen bescheinigten. Er ist für sein Recht auf freie Meinungsäußerung in Wuppertal auf die Straße gegangen und sitzt aus Sicht der Anatolischen Föderation dafür jetzt in Isolationshaft, da alle für seine Festnahme vorgebrachten Gründe die Wirklichkeit ins Lächerliche verzerren. Dogan hat sich in Wuppertal für die Belange von Migrantinnen und Migranten eingesetzt und die rassistischen Morde der Terrorzelle NSU als das angeklagt, was sie sind: ein Verbrechen an türkischen Migranten.

Seine Verhaftung erfolgte, weil er in die Organisation des Konzerts der Grup Yorum am 15. Oktober 2011 in Wien und die Konzerte der Musikgruppe in Düsseldorf und in Oberhausen maßgeblich eingebunden war. Der lapidare Haftgrund besagt, daß die Konzerte dieser Musikgruppe der Erzielung von Finanzmitteln für den bewaffneten Kampf der DHKP-C dienten. Daß die Kosten für die beiden Konzerte laut der Anatolischen Föderation in Deutschland über 200.000 Euro betrugen, die Eintrittskarten aber gerade einmal die Hälfte davon einbrachten, wird bei der Haftbegründung absichtsvoll verschwiegen.

Feier in einem Park im Hamburger Schanzenviertel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Newroz im Gedenken an Berkin Elvan
Foto: © 2014 by Schattenblick

Solidaritätsarbeit auf den Straßen Hamburgs

Am 22. März machte die Karawane der Anatolischen Föderation in Hamburg Station. So wenig dieser regnerische Freitag zum längeren Aufenthalt auf der Straße einlud, so wenig ließen sich die Aktivistinnen und Aktivisten von den widrigen Wetterbedingungen abschrecken. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Altona, vor der Roten Flora im Schanzenviertel und auf dem Rathausmarkt waren Kundgebungen angemeldet worden, bei denen Flugblätter verteilt, Parolen gerufen, Musik gespielt und getanzt wurde. Beeindruckend für die Redakteure des Schattenblicks, die die Karawane an diesem Tag begleiteten, war die scheinbar keiner besonderen Koordination bedürfende und insgesamt unproblematische Zusammenarbeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Karawane.

In dem gemeinsamen Vorgehen von jung und alt, von Frau und Mann, war etwas von der Solidarität zu spüren, die zu demonstrieren Sinn und Zweck dieses bereits dritten Marsches für politische Gefangene in der Bundesrepublik ist. So wurde ein Zeichen gesetzt gegen das verbreitete Desinteresse, auf das Menschen, die in aussichtslose Situationen geraten oder systematisch ausgegrenzt werden, in der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft häufig stoßen. Wer arm, obdachlos, behindert ist oder als Migrantin und Migrant sozial stigmatisiert wird, hat unter Personen, für die nur das Starke und Schöne attraktiv ist, nichts verloren. Fensterreden politischer oder klerikaler Prediger über menschliches Mitgefühl sind zwar fester Bestandteil des gesellschaftlichen Legitimationsgetriebes. Doch wo es wirklich eng wird, wo Menschen unter härtesten Bedingungen überleben müssen oder unterdrückt werden, da erst erweist sich die Haltbarkeit einer Solidarität, die aus dem Streit um eine gleichberechtigte und humane Welt erwächst.

Was bei den häufig dem alevitischen Kulturkreis entstammenden Migrantinnen und Migranten vor allem auf Unverständnis stößt, ist die Nachgiebigkeit, mit der rechte Gewalttäter von deutschen Staatsschutzbehörden behandelt werden. Während es bei revolutionären Linken ausreicht, alltägliche Ereignisse wie den Kontakt zu anderen Genossinnen und Genossen oder angebliche Meinungsdelikte zum Anlaß strafrechtlicher und geheimdienstlicher Verfolgung zu nehmen, genießen Rechte aus neonazistischen Parteien oder faschistischen Kameradschaften einen ungleich größeren Freiraum. Obwohl ihren Aktionen zahlreiche Menschen zum Opfer fielen, haben nicht einmal die unzureichenden Ermittlungen der Mordserie der NSU daran viel geändert. So ist die NSU-Angehörige Beate Zschäpe wesentlich weniger Restriktionen in der Haft wie im Gerichtssaal ausgesetzt als die Gefangenen der migrantischen Linken.

Es ist also nicht erstaunlich, daß die Aktivistinnen und Aktivisten der Anatolischen Föderation die Mehrheitsgesellschaft der Bundesrepublik als rassistisch und sozialchauvinistisch erleben. Als Thilo Sarrazin den seiner Ansicht nach ökonomisch "unproduktiven" türkischstämmigen Markthändler bezichtigte, zu viele "Kopftuchmädchen" in die Welt zu setzen, stieß er auf so viel positive Resonanz, daß man nicht den Eindruck hatte, daß sich Deutschland abschafft, sondern dabei ist, längst überwunden geglaubte Verhältnisse menschenfeindlicher Diskriminierung wiederherzustellen.

Um nicht nur die aus wettertechnischen Gründen eher spärlichen Passanten zu erreichen, sondern auch in der Politik der Hansestadt ein Zeichen zu setzen, wurde versucht, die Fraktionen der SPD, Linken und Grünen in der Hamburgischen Bürgerschaft zur Annahme einer Akte zu bewegen, in der die Haftgründe und -bedingungen der fünf Gefangenen ausführlich dargestellt und der Willkürcharakter des Vereinigungsstrafrechts nach § 129a+b kritisiert wird. Während die SPD laut Aussage der Karawane dafür nicht zur Verfügung stand und im Fraktionsbüro der Grünen kein Abgeordneter zugegen war, so daß die Akte einer Sekretärin übergeben wurde, erklärte sich die stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion, Christiane Schneider, zu einem Treffen mit einer Delegation der Karawane bereit.

Drei Aktivistinnen, ein Aktivist und die Abgeordnete der Partei Die Linke - Foto: © 2014 by Schattenblick

Delegation der Karawane trifft Christiane Schneider (rechts) im Büro der Hamburger Linksfraktion
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die auch als innen- und rechtspolitische Sprecherin fungierende Parlamentarierin ließ sich vom bisherigen Verlauf der Karawane berichten und stimmte mit der Kritik, die die Anatolische Föderation am politischen Strafrecht übt, prinzipiell überein. Da sie selbst im Landeswahlkampf 2011 Ziel eines linke Gesinnung stigmatisierenden Anwurfs der Redaktion des TV-Magazins Report Mainz war, dürfte ihr die Situation, aus politischen Gründen angeprangert zu werden, nicht fremd sein. Für eine Abschaffung der § 129a und b, die die Grünen noch 1998 vor der Regierungskoalition mit der SPD und der massiven Verschärfung der politischen Repression durch deren Justizminister Otto Schily in Aussicht gestellt hatten, dürfte das politische Gewicht der parlamentarischen Linken auf Bundesebene jedoch in absehbarer Zukunft nicht ausreichen.

Am frühen Abend nutzten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Karawane einen kleinen Park im Schanzenviertel zu einer Newroz-Feier, die insbesondere dem Gedenken des am 11. März nach 269 Tagen im Koma verstorbenen Jugendlichen Berkin Elvan gewidmet war. Der 15jährige war während der Proteste in Istanbul im Juni 2013 von einer Gaskartusche am Kopf getroffen worden, die laut jüngsten Zeugenaussagen gezielt von einem Polizisten auf ihn abgefeuert wurde. Zwei Millionen Menschen gingen nach Bekanntwerden seines Todes in der Türkei auf die Straße, was zeigt, daß die aus dem Kampf um den Gezi-Park und Taksim-Platz hervorgegangene soziale Bewegung keineswegs beendet ist.

Eine Informationsveranstaltung im internationalen Zentrum B5 auf St. Pauli schloß den ereignisreichen Tag ab. Dabei betonte ein Vertreter der Anatolischen Föderation noch einmal, wie wichtig seiner Organisation der Kampf gegen Rassismus ist. Die tägliche Auseinandersetzung mit rassistischen Praktiken und Bezichtigungen, denen Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik ausgesetzt sind, sei ein wichtiges Motiv für die Gründung dieses Dachverbandes zahlreicher migrantischer Vereine gewesen. Seitdem betreibe die Organisation Öffentlichkeitsarbeit gegen Ausländerfeindlichkeit und unterstütze die ökonomischen und demokratischen Rechte der in Deutschland lebenden Ausländer. Gegenüber dem Schattenblick betonte der Vertreter der Anatolischen Föderation, daß seine Organisation keinerlei Verbindungen zur DHKP-C unterhalte und diese Vermutung deutscher Behörden jeder Grundlage entbehre.

Die Karawane, die am 18. März in Köln vor dem Verfassungsschutz begann, endete am 27. März vor der JVA Stuttgart-Stammheim, wo Yusuf Tas und Özgür Aslan inhaftiert sind. Im Kern soll die gegen den Verein gerichtete Repression andere Menschen davor abschrecken, ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen, und eine Solidarisierung der Betroffenen verhindern, so der Vertreter des Vereins. Daß die Anatolische Föderation trotz ihres legalen Status und offenen Betriebs derart drangsaliert wird, lasse ihn daran zweifeln, daß in Deutschland wirklich Demokratie und Menschenrechte respektiert würden.

Sänger mit Saz und Mikrofon - Foto: © 2014 by Schattenblick

Lieder zerbrechen Isolation
Foto: © 2014 by Schattenblick

Im rechtlichen Ausnahmezustand der Staatsräson

Ob liberaler Bürgerrechtsschutz oder linke Antirepressionsarbeit, der zum Regelfall gewordene Ausnahmezustand politischer Strafverfolgung bedarf des Widerstands zur Verteidigung der demokratischen Rechte aller Menschen. Das den grundgesetzlich vorgesehenen Ausgleich zwischen dem Gewaltmonopol des Staates und den Rechten seiner Bürgerinnen und Bürger aufhebende Sonderstrafrecht der Terrorismusbekämpfung unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von der auch unter konventionellen strafrechtlichen Bedingungen möglichen Kriminalisierung außerparlamentarischer Oppositionsbewegungen. Indem die politischen Motive Oppositioneller - und nicht nur von ihnen möglicherweise begangene Straftaten - zum Anlaß staatlicher Repression geraten, wird die Rechtsordnung als solche auf den Kopf antidemokratischer Ermächtigung gestellt.

Wie insbesondere die Erweiterung des Kollektivstraftatbestandes § 129a+b dokumentiert, reagiert der Staat bei der Terrorismusbekämpfung nicht mehr auf eine akute Bedrohung, sondern postuliert anhand virtueller, Gesinnung oder Assoziation betreffender Vergehen einen Feind, der als negativer Gegenentwurf zu den herrschenden Interessen in Erscheinung tritt. Das Recht entfaltet seine sanktionierende Gewalt nicht mehr aufgrund beweisbar zu belegender Strafttatbestände, sondern unterstellt diese als bloßes Verdachtsmoment mit der Begründung, umfassende Sicherheit sei nur durch Prävention zu erlangen. Wer im einzelnen als "Gefährder" oder "Terrorverdächtiger" mit Mitteln traktiert wird, die üblicher rechtstaatlicher Logik zufolge erst nach gerichtlich festgestellter Schuld Anwendung finden dürften, ist für die Betroffenen kaum nachvollziehbar und soll es auch nicht sein, wie die Intransparenz datenelektronischer Observation und geheimdienstlicher Manipulation zeigt.

So verwandelt sich das Politische als von allen Menschen im demokratischen Streit zu bestimmender Wille gesellschaftlicher Gestaltung in einen Ausdruck der Staatsräson, die von ihr abweichende und sie in Frage stellende gesellschaftliche Interessen schlichtweg negiert. Dies betrifft insbesondere Formen ziviler Organisation abseits alldurchdringender Marktförmigkeit. Wo die Verwandlung sozialer Verhältnisse in warenförmige Beziehungen und eine dem Weltmarkt unterworfene Verwaltung der Arbeit behindert wird, wo die Menschen sich weigern, sich der Konkurrenz der kapitalistischen Marktwirtschaft zu unterwerfen und ihr Leben unter immer elenderen Bedingungen zu fristen, da setzen sie sich nicht nur der Gefahr der bloßen Ausgrenzung des angeblich Unproduktiven, sondern der aktiven Kriminalisierung ihrer Lebensweise aus. Dies betrifft insbesondere Formen kollektiven Handelns, die für den Staat nicht durchschaubar sind und dementsprechend als "rechtsfreier Raum" oder "Parallelgesellschaft" unter Generalverdacht gestellt werden.

Einer derart unkalkulierbaren Bedrohung ausgesetzt, ziehen es immer mehr Menschen vor, offenkundige Mißstände nicht mehr mit der gebotenen Konsequenz zu konfrontieren, sondern im verbliebenen Raum noch gewährter Freiheit das individuelle Überleben zu sichern. Verhängnisvoll an dieser Defensive ist, daß Angst und Entfremdung die Eigenschaft haben, sich negativ zu verstärken, so daß der imperative Charakter herrschender Sprachregulation und Denkverbote nicht mehr durchschaut, sondern als Einsicht in die Alternativlosigkeit unterstellter Zwangsverhältnisse verkannt wird. Umso wertvoller ist der Mut der Solidarität, der Menschen in Bedrängnis wissen läßt, daß sie nicht allein sind und daß das Festhalten an ihrem Kampf, gerade weil alles darauf aus ist, ihn zu unterdrücken, den Kern ihrer Freiheit ausmacht. Sich für ausgegrenzte, verfolgte und unterdrückte Menschen einzusetzen, bedarf mithin keines moralischen Imperativs, es ist schon aus Gründen der eigenen Zukunft unabdinglich.

Tanzende Menschen im roten Feuerschein vor blauem Himmel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Kollektive Bewegung ist unaufhaltsam
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Rolf Gössner: EU-Terrorliste: Feindstrafrecht auf Europäisch
http://ilmr.de/wp-content/uploads/2009/03/goessner-eu-terrorliste_blaetter3-09-1.pdf

[2] StGB § 129b
http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/stgb/gesamt.pdf

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0174.html


27. März 2014