Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/198: Kurdischer Aufbruch - Konföderalismus sticht Kulturchauvinismus ... (SB)


Kurden im Iran - zwischen allen Stühlen

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Kurdistan ist eine alte Kulturregion, die aber auf keiner Landkarte zu finden ist. Das Volk der Kurden ist über vier Staaten verstreut. Obwohl sie auf heimatlichem Boden leben, gleicht ihr Dasein einer Existenz in der Diaspora. Als eigenständige kulturelle und ethnische Minderheit wird ihnen der völkerrechtliche Anspruch auf Autonomie sowohl in Nordkurdistan (Türkei), Südkurdistan (Irak), Westkurdistan (Syrien) als auch in Ostkurdistan (Iran) verwehrt. Die Möglichkeit zur politischen Partizipation bleibt ein Traum in weiter Ferne, solange die Kurden als selbständiges Volk nicht anerkannt sind. Wann immer sie gegen die Diskriminierung ihrer Herkunft und Kultur aufgestanden sind, wurden sie aufs blutigste verfolgt und unterdrückt. Doch in keinem Staat werden die Kurden so unnachgiebig von Repression, Folter und Tod bedroht wie im Iran.

Der iranische Staat duldet keine Opposition, was auch die hohe Zahl politischer Häftlinge dokumentiert. Todesurteile, vornehmlich gegen Kritiker des Staates und kurdische Aktivisten, werden immer wieder vollstreckt. Laut einem Bericht von Amnesty International hat der Iran für das Jahr 2013 offiziell 331 Hinrichtungen durchgeführt, andere Quellen berichten von weiteren 262 Exekutionen. Die kurdische Freiheitsbewegung und andere dissidente Gruppen mußten unter der Regierung des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad einen hohen Blutzoll leisten. Doch auch unter seinem Nachfolger Hassan Rohani, der im Ausland als gemäßigt gilt, kam es immer wieder zu Hinrichtungswellen. Nach seinem Wahlsieg im Juni 2013 wurden innerhalb eines halben Jahres 367 Todesurteile vollstreckt. Rohani hat zwar gewisse Zugeständnisse gegenüber den politischen Gefangenen gemacht, so kam es auch zu Freilassungen, aber sie betrafen nie Aktivisten von Minderheiten im Land. Politische Gefangene wurden und werden im Iran regelmäßig gefoltert, nicht selten so schwer, daß irreparable körperliche Schädigungen zurückbleiben.

Im Iran leben je nach Quelle 7 bis 14 Millionen Kurdinnen und Kurden, zumeist in den Provinzen Urmiya, Sine Samandadsch und Kurdistan. Ein Teil von ihnen folgt der sunnitischen Glaubensrichtung, ein anderer bekennt sich zum Schiitentum, aber eine nicht geringe Anzahl gehört auch der Yasar-Religion an. Obgleich die kurdische Sprache im Iran nicht verboten ist und die Kurden anders als in der Türkei keiner rigiden Assimilationspolitik unterworfen werden, gelten sie in der iranischen Theokratie als Menschen zweiter Klasse. Die Unterdrückung der Kurden wird zwar ideologisch begründet, aber tatsächlich ethnisch im Namen eines persisch-schiitischen Chauvinismus vollzogen. Betroffen davon sind praktisch alle Minderheiten im Land wie unter anderem die Aserbaidschanerinnen, Lurinnen, Araberinnen, Armenierinnen, Belutschinnen, Turkmeninnen und Assyrerinnen.

Der Charakter der Verfolgung tritt weniger in Abgrenzung zu einem hegemonialen Staatsvolk zutage als vielmehr durch ein Aufbegehren gegen die Staatsideologie. Die Ethnie ist dann oft nur die Letztbegründung dafür, daß im Grunde jeder verfolgt wird, der sich dem herrschenden Klerus nicht unterwirft und zu dessen Fahnenträger machen läßt. Die gesellschaftliche Indoktrinierung greift schon früh nach den Köpfen. So wird Kindern und Jugendlichen in den Schulen das Hohelied von der Überlegenheit der jahrtausendealten persischen Kultur vor allen anderen eingetrichtert, wobei mit Bedacht verschwiegen wird, daß in den iranischen Hochebenen im Altertum verschiedenste Clans und Lebensgemeinschaften beheimatet waren, deren oftmals nomadisierende Lebensweise die Zuordnung zu einem Volk absurd erscheinen läßt. Erst als Herrscherdynastien ihre Chroniken verfassen ließen, tauchte die Notwendigkeit auf, über verzerrende Entstehungslegenden und -lügen ein Volk mit gemeinsamer Herkunft aus dem Dunkel der Geschichte herauszuextrahieren, das es so nie gegeben hat. Die Gemeinsamkeit bestand immer nur darin, von einer Adels- oder Militärelite beherrscht zu werden.

Das Persertum, dessen Namensgebung sich von der Provinz Persis herleitet, täuscht eine Volkszugehörigkeit vor, um die schmerzhafte Erkenntnis zu vernebeln, bloß Untertan eines beliebigen Feudalherrschers gewesen zu sein. Auch die spätere Betonung einer schiitischen Renitenz gegenüber dem arabischen Sunnitentum an der Schnittstelle imperialer Kämpfe zwischen verschiedenen Machtzentren in der Frühzeit der Islamisierung des Mittleren Ostens ist kein signifikantes Merkmal für eine persische Kulturidentität. Das ändert nichts daran, daß die Staatsideologie im Iran einen religiösen Nationalismus propagiert, soll doch auf diese Weise sichergestellt werden, über das religiöse Element des Schiitentums auch jene Bevölkerungsteile in die Staatsstrukturen einzubinden, die mit dem Persischen als nationaler Identitätsstiftung nichts anfangen können.

Tatsächlich ist und bleibt der Iran ein inhomogener Vielvölkerstaat mit zahlreichen gesellschaftlichen Bruchlinien, die notdürftig mittels eines rigiden Gewaltregimes zusammengehalten werden. Aufgabe des iranischen Bildungswesens bis in die Universitäten hinein ist es daher, eine Assimilation auf sanftem Wege zu erzwingen. Wer das politische System im Iran mit seiner strikt theokratischen Ausrichtung nicht vorbehaltlos unterstützt, wird entweder nicht zum Studium zugelassen oder findet hinterher keine Anstellung. Diese Politik wird gegen alle Minderheiten in Stellung gebracht, ungeachtet dessen, daß ihre Kultur und Sprache nicht per Gesetz verboten sind.

Dennoch gibt es für Kurden und andere ethnische Minoritäten keinen muttersprachlichen Unterricht, was dazu führt, daß ihre Kinder sich genötigt fühlen, die eigene Kultur zu verleugnen im Versuch, sich gleich einem Fremdpartikel in der persischen Mehrheitsgesellschaft durchzuschlagen. Ein Kurde hat einen sehr speziellen Blick auf den Iran und den demütigenden Despotismus der Perser. Die Wahrnehmung, dauerhaft einem kulturellen Vernichtungskrieg ausgesetzt zu sein, findet ihre Berechtigung eben in dem Umstand, daß die Kurden Staatsbürger ohne eigene Identität sind und ihnen als Volksgruppe jede politische Teilhabe und das Mitgestaltungsrecht an der Gesellschaft verweigert werden. Auf Proteste reagiert die Islamische Republik immer in der gleichen Weise mit Repression und Terror.


Im Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Shirzad Kamangar
Foto: © 2015 by Schattenblick

Das autoritäre Regime durch die Transformation seiner Strukturen unterminieren

Shirzad Kamangar ist Ratsmitglied der 2004 gegründeten "Partei für ein freies Leben in Kurdistan" (PJAK). Sein Bruder Farzad Kamangar, ebenfalls ein Menschenrechtsaktivist, wurde im Mai 2010 vom iranischen Staat aufgrund seiner politischen Ansichten durch den Strang hingerichtet. In seinem Vortrag "Rojhilat: Das KODAR-Modell" auf dem Kongreß "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" an der Universität Hamburg stellte Shirzad Kamangar das Transformationsmodell seiner Partei vor. KODAR steht für "Organisation für eine Freie und Demokratische Gesellschaft für Rojhelat" - letzteres ist das kurdische Wort für Ostkurdistan.

Kamangar zufolge findet im Iran und Mittleren Osten ein Genozid an verschiedenen Völkern dieses historischen Siedlungsraums statt. Wie überall auf der Welt kommen die oppositionellen Kräfte, die sich gegen die Vernichtung ihrer Kulturen auflehnen, auch im Iran aus dem Volk und der revolutionären Basis. Ob im Namen der kapitalistischen Moderne oder initiiert durch ein feudal-islamistisches System, in beiden Fällen wird die Gesellschaft den Interessen des Staates geopfert, was für den mit viel Emphase vortragenden Referenten nichts geringeres als den Dritten Weltkrieg darstellt. Die Aufstände der letzten Jahre im gesamten Mittleren Osten zielten darauf ab, das System der Nationalstaaten, die den Minderheitenschutz kompromittieren und die eigene Bevölkerung den Verwertungsinteressen ausländischen Investitionskapitals preisgeben, durch den Aufbau kommunaler Selbstverwaltungsstrukturen und Räte zu überwinden.

Das Mosaik ethnischer und religiöser Gruppen im Iran steht seiner Ansicht nach stellvertretend für den gesamten Mittleren Osten. Die vielfältigen Traditionen und Kulturen innerhalb der Staatsgrenzen des Iran sind von Assimilation und im schlimmsten Fall vom Tod bedroht. Nach Einschätzung des Referenten steuern die Konflikte im politischen und kulturellen Bereich ihrem Siedepunkt entgegen. Nicht allein, daß der Iran aufgrund seines Atomprogramms außenpolitisch isoliert ist und immer mehr in den Strudel geopolitischer Machtinteressen gerät, mache die Lage dort so explosiv, sondern auch, daß die innergesellschaftlichen Widersprüche längst ihre maximale Belastungsgrenze erreicht hätten.

Ungeachtet dessen ist der Referent davon überzeugt, daß sich die iranische Gesellschaft aus sich selbst heraus verwalten und organisieren könnte und daß es im Rahmen des KODAR-Programms keine zwingende Notwendigkeit für einen staatlich administrierten Überbau gäbe. In diesem Zusammenhang kritisierte Kamangar, daß die Widerstandsgeschichte der Völker und die Interpretation ihres geistigen Erbes nie angemessen aufgearbeitet wurden. Auch hätten historische Einschnitte im Übergang zur Moderne verhindert, daß sich die Völker des Iran freiheitlich und emanzipatorisch entwickeln konnten. Die Modernisierungstendenzen im Iran der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts hin zu einem Nationalstaat republikanischer Prägung wurden nicht unwesentlich durch den Einfluß des Klerus, der einen aufgeklärten Säkularismus wie der Teufel das Weihwasser fürchtete, ausgebremst und endeten restaurativ in der Einführung einer konstitutionellen Monarchie. Die Selbstbezeichnung des Iran als Land der Arier spaltete die Bevölkerung in Ethnien auf und befeuerte so einen Konflikt, der bis heute nicht gelöst ist.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg brachte der US-Imperialismus den Iran schon aufgrund der Ölreserven im Land, die für die amerikanische Wirtschaft und Industrie von immanenter Bedeutung waren, auf antikommunistischen Kurs. An dieser Frontstellung änderte auch die Islamische Revolution von 1979 nichts, vielmehr sorgte Ayatollah Chomeini dafür, daß linke Gewerkschaften, Studenten und Kurdenparteien dem Terror der Revolutionsgarden und des Geheimdienstes überantwortet wurden. Das gestürzte Schah-Regime wirke, so der Referent, bis heute fort, denn die iranische Theokratie habe lediglich fortgeführt, was der Zwangs- und Repressionsapparat des Schahs in Gang setzte, nämlich die Ausmerzung aller sozialistischen und revolutionären Visionen.

Der kulturelle Beitrag der iranischen Völker zum friedlichen Miteinander werde bewußt totgeschwiegen, so daß Errungenschaften verlorengingen, die es wert wären, zum Nutzen der ganzen Menschheit bewahrt und fortentwickelt zu werden. Alles, was in diesem Kontext von Intellektuellen, Historikern und akademischen Eliten komme, dient in der Negierung vorstaatlicher und kollektivistischer Ansätze dem Herrschaftskonsens als Beleg dafür, daß die Suprematie des Staates unantastbar sei. Das systematische Verleugnen und Verhetzen älterer Traditionen und Werte im Selbstverständnis des Menschen habe dazu geführt, daß das schleichende Gift des einzig auf den persönlichen Nutzen und das eigene Überleben ausgerichteten Individualismus die modernen Gesellschaften von heute vollständig durchdringe und dafür sorge, daß der Widerstand gegen Ungerechtigkeit und massive Unterdrückung aus dem Blickwinkel der davon Betroffenen mehr und mehr verschwindet.

Daß die Islamische Republik den schiitischen Nationalismus aggressiv gegen alle anderen Kulturen und Religionszugehörigkeiten richtet, müsse dem Vernehmen des Referenten nach in einem größeren geographischen Maßstab gesehen werden. Im Konflikt zwischen dem Iran als dem ideologischen Zentrum der Schia und Saudi-Arabien als der sunnitischen Achse im Mittleren Osten würden zahlreiche Völker und Minderheiten systematisch unterdrückt und von der politischen Mitgestaltung der Gesellschaft ausgegrenzt. Diese alte innerislamische Rivalität treffe die Kurden im Iran gleich doppelt, einmal als Ethnie und zum anderen als Teil des Sunnitentums. Die Inhaftierung vieler Journalisten und Intellektueller im Iran, die wegen ihrer Kritik am System im Gefängnis sitzen und der Folter unterworfen werden, mache Kamangar zufolge deutlich, daß das Modell eines Staates und der daraus resultierenden Staatenkonkurrenz abgeschafft und überwunden werden müsse.

Daher zielt der Freiheitskampf der Kurden nicht auf einen eigenen Nationalstaat, der nur wiederholen würde, was in der Menschheitsgeschichte millionenfach zu Leid und Vernichtung geführt habe. Vielmehr strebten die Kurden in Rojhilat den Aufbau eines demokratischen Systems auf der Basis kommunaler Selbstverwaltung ohne staatliche Bevormundung an. Die Praxis des Parlamentarismus hingegen verankere nur die Kluft zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Minderheiten und vertiefe die auf Kapital und Arbeit basierende Klassenstruktur.

KODAR als Modell für einen Konföderalismus aller in einer Region mit offenen Grenzen lebenden Menschen versteht sich als nichtstaatliches System, in dem die verschiedenen kulturellen Identitäten der Gesellschaft selbstorganisierte Strukturen aufbauen. Gegenseitige Akzeptanz, Dezentralismus und Frauenbefreiung bilden dessen unverzichtbare Stützpfeiler. In einer Gesellschaft, in der die Frauen nicht frei sind, sind alle Menschen unfrei, so das Credo der PJAK unter Bezugnahme auf die Philosophie von Abdullah Öcalan. Aufgrund ihrer Unterdrückung sind Frauen per se die Vorkämpferinnen dieses Modells.

Jede Form des Nationalismus, wie versteckt oder offen auch immer, stellt ein Hindernis für eine Demokratisierung dar. Statt dessen geht es darum, Zentren des Dialogs und der Entschlüsse durch die Wahl politisch unabhängiger Strukturen zu errichten. Dazu gehören Räte und Gewerkschaften im ländlichen Raum, deren Beschlüsse dann in organisierten Gremien in den Städten weiter verhandelt werden. Der Staat könnte auf diese Weise überflüssig gemacht werden, da sich KODAR selbst verwaltet und nur der Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Konkurrierende Parteien, Geschacher um Ämter und Würden oder die Konzentration von Macht in den Händen einzelner oder eines Clanoberhaupts stellten das eigentliche Getriebe für Korruption, ökologischen Mißbrauch und Ressourcenkriege dar.

Die PJAK kämpft seit zehn Jahren für das Ziel eines demokratischen Konföderalismus und hat viele Opfer bringen müssen. Weil der iranische Staat die kurdische Freiheitsbewegung rigoros verfolgt und zu vernichten versucht, müssen die Organisationsstrukturen dafür im geheimen aufgebaut werden. Daran ändert auch nichts, daß die PJAK im September 2011 einen Waffenstillstand verkündet und die Regierung in Teheran zu einem Dialog über eine autonome Selbstverwaltung aufgerufen hat. Dennoch kommt es immer wieder zu Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften, denn die religiösen Führer im Iran bestreiten das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung. Der Kampf um Selbstermächtigung der Völker und Kulturen gegen den Staat müsse daher notwendigerweise illegal sein, weil er jede Rückbesinnung auf vorstaatliche Strukturen als terroistischen Akt diffamiert und gleichzeitig die von ihm ausgehende Gewalt und Unterdrückung als legitim betrachtet.

Der Wechsel an der politischen Spitze mit Hassan Rohani als neuem Staatspräsidenten hat die Situation der Kurden im Iran nicht wirklich verändert. Tatsächlich geht vom Regierungspersonal in Teheran keine wirkliche politische Macht aus. Die einzige Person, die alle wichtigen Entscheidungen trifft, ist Ayatollah Ali Khamenei. Solange der Klerus mit ihm als oberstem Religionsführer die Geschicke des Landes in Händen hält, wird es keine andere Kurdenpolitik als die der Unterdrückung geben. Aus diesem Grund müssen die zivilgesellschaftlichen Organisatonsstrukturen des KODAR klandestin operieren, weil die Bedrohung mit Folter und Tod durch den theokratischen Machtapparat allgegenwärtig ist.

Kamangar war es zudem wichtig hervorzuheben, daß die PJAK im Rahmen des KODAR-Modells nicht nur die Interessen der Kurden in Ostkurdistan vertritt, denn die gemeinsame Geschichte der Völker im Iran ist weder von politischen noch konfessionellen Streitigkeiten vergiftet. Der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft im Iran habe jedoch eine größere Perspektive und umfasse die Freiheit aller Völker im Mittleren Osten in einem demokratischen Konföderalismus.

Staatsideologie und Machtfrage

Die PJAK bestreitet ihren Kampf im Namen des kurdischen Volkes, aber auch andere ethnische Minderheiten und sozial randständige Gruppen müßten ihre Kämpfe führen, um eine repressionsfreie und egalitäre Zukunft für alle Menschen des Mittleren Ostens zu ermöglichen. Die vielleicht unwiederbringliche Chance, daß alle Völker und Kulturen dieses von imperialen Stellvertreterkriegen und feudal-islamischen Strukturen gekennzeichneten Raums des Mittleren Ostens nach Jahrhunderten der Unterdrückung friedlich miteinander leben können, erklärt das aufopferungsvolle und weltweit von viel Sympathie getragene Engagement der Kurden. Wie übermächtig Feindseligkeit und Repression auch waren, immer wieder haben sie aus der Schwäche ihrer Position selbst die Kraft gezogen, an ihrem revolutionären Kampf festzuhalten.

Ein Volk im Widerstand muß jedoch wissen, wofür es sein Blut riskiert. In Ermangelung konkreter Lösungen und weil die Kurden dem bewaffneten Kampf abgeschworen haben, wurde nach einem Konzept für ein alternatives Gesellschaftsystem zum Kapitalismus gesucht, das ihm quasi die Basis seiner Legitimation und Produktivität entzieht. Den Demokratischen Konföderalismus zu bemühen, um der als Minderheit innerhalb fremder Staatsgrenzen tagtäglich erlebten und erlittenen Unterdrückung die Vision einer Staatenlosigkeit entgegenzuhalten, krankt allerdings an einem immanenten Widerspruch. So baut der Konföderalismus als Bund souveräner Systeme in der vollen Konsequenz seiner Bedingungen auf der Staatsidee auf und bleibt staatsautoritären Strukturen verhaftet. Dies wohl auch deshalb, weil es in einer von waffenstarrenden staatlichen Akteuren dominierten Region kaum möglich sein wird, das vorherrschende Organisationsprinzip allein auf subversive Weise zu überwinden. An der Machtfrage kommen weder Reformer noch Revolutionäre vorbei, ohne ihre Handlungsfähigkeit zu prüfen.

Die kommunale Selbstverwaltung, die menschliche Grundbedürfnisse, die Bewältigung akuter Notlagen und die nicht außerhalb ökonomischer Rentabilitätskalkulationen zu stellende Frage nach dem Wert der Arbeit an erste Stelle setzt, schränkt den Primat des Profits sicherlich ein, bleibt aber Problemen verhaftet, die selbst mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht ohne weiteres gelöst werden. Arbeit in Wert zu setzen und sie darüber vergleichbar zu machen stellt auf die Bemeßbarkeit der Produktivität vor dem Hintergrund eines abstrakten Nutzens ab, dem das Problem endlicher stofflicher und natürlicher Lebensvoraussetzungen lediglich ein ökonomischer Faktor ist. Wettbewerb, Konkurrenz und Entfremdung können so nicht aufgehoben werden, und die auch im Sozialismus nicht überwundene Leistungsmoral der Arbeitsgesellschaft bleibt ein permanentes Einfallstor für autoritäre und regressive gesellschaftliche Entwicklungen.

Vielleicht kann ein kommunales Leben und Gestalten frei von staatlicher Aufsicht, als Ausgangspunkt verstanden, die Widersprüche der zivilisatorischen Brandbeschleunigung auf den Nenner einer überschaubaren Handlungsoption bringen und das Umdenken weg von der Destruktivität der Überproduktion beflügeln. Materialistisch und sozialökologisch zu agieren verlangt nach einer Nüchternheit, vor der sich eine kulturelle Identität auch als Auffangbecken ungelöster Probleme und abgebrochener Entwicklungschancen erweisen kann. Fragt man sich allen Ernstes, was die Kurden, abgesehen von der existentiellen Notlage, in der sie sich befinden, zu einem Kampf David gegen Goliath motiviert und was sich hinter dem vielbeschworenen Mythos ihrer Herkunft verbirgt, so ließe sich entgegen: Schiebe Kultur und Kulisse beiseite und es zeigt sich eine vergessene Spur des Menschen.


Podium Session 5b 'Lehren aus alternativen Praktiken' - Foto: © 2015 by Schattenblick

(v.l.n.r.) Janet Biehl, John Holloway, Moderatorin Sabine Rollberg, Shirzad Kamangar, Selma Irmak
Foto: © 2015 by Schattenblick


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de ? INFOPOOL ? POLITIK ? REPORT:

BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)
BERICHT/192: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (1) (SB)
BERICHT/193: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (2) (SB)
BERICHT/194: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (3) (SB)
BERICHT/195: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (4) (SB)
BERICHT/197: Kurdischer Aufbruch - in demokratischer Urtradition ... (SB)
INTERVIEW/250: Kurdischer Aufbruch - demokratische Souveränität und westliche Zwänge ...    Dêrsim Dagdeviren im Gespräch (SB)
INTERVIEW/251: Kurdischer Aufbruch - der Feind meines Feindes ...    Norman Paech im Gespräch (SB)
INTERVIEW/254: Kurdischer Aufbruch - Volksbefreiung, Selbstbefreiung ...    Asya Abdullah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/255: Kurdischer Aufbruch - und also Öcalan ...    Mustefa Ebdi im Gespräch (SB)
INTERVIEW/258: Kurdischer Aufbruch - Volle Bremsung, neuer Kurs ...    Elmar Altvater im Gespräch (SB)
INTERVIEW/261: Kurdischer Aufbruch - vom Vorbild lernen ... Gönül Kaya im Gespräch (SB)
INTERVIEW/262: Kurdischer Aufbruch - Ketten der Schuld ...    David Graeber im Gespräch (SB)
INTERVIEW/263: Kurdischer Aufbruch - die Klassen wandeln sich ...    David Harvey im Gespräch (SB)
INTERVIEW/264: Kurdischer Aufbruch - linksinternational ...    Arno-Jermaine Laffin im Gespräch (SB)
INTERVIEW/265: Kurdischer Aufbruch - Grenzen sind die ersten Fesseln ...    Anja Flach im Gespräch (SB)
INTERVIEW/266: Kurdischer Aufbruch - versklavt, erzogen und gebrochen ...    Radha D'Souza im Gespräch (SB)
INTERVIEW/267: Kurdischer Aufbruch - Im Feuer erstritten ...    Necibe Qeredaxi im Gespräch (SB)
INTERVIEW/268: Kurdischer Aufbruch - Geschichte neugedacht ...    Muriel Gonzáles Athenas im Gespräch (SB)

25. Juni 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang