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BERICHT/201: Armut, Pott - Fruchtpressenrestverbrauch ... (SB)


Neofeudales Regime auf dem Rücken der Besitzlosen

"Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!" - Konferenz am 12. Juni 2015 in Bochum


Nachdem der Paritätische Gesamtverband im Februar dieses Jahres seinen aktuellen Armutsbericht vorgestellt hatte, schlug geharnischter Protest in der Konzernpresse hohe Wellen. In serviler Erfüllung ihrer staatstragenden Funktion sprachen FAZ, Zeit, Focus und Süddeutsche von blindem Alarmismus, einer Skandalisierung der Armut, Zerrbildern und einer Armutslobby, die nur noch nerve. Man war sich mit der sozialdemokratischen Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles einig, daß der relative Armutsbegriff in die Irre führe. Die Wirtschaft wächst, Deutschland führt, uns geht es gut - wer etwas anderes behauptet, jammert auf hohem Niveau, lautet das Credo einer neofeudalen Gesellschaftsordnung, die massenhafte Verarmung und Entwürdigung entweder leugnet oder für selbstverschuldet erklärt.

Wie aus dem Bericht des Paritätischen hervorgeht, hat die Armut in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht, ist die soziale Zerklüftung und regionale Spaltung des Landes tiefer denn je. Seit 2006 ist der Anteil armer Haushalte von damals 14 Prozent kontinuierlich auf heute 15,5 Prozent gestiegen, so daß heute 12,5 Millionen Menschen betroffen sind. Als Risikogruppen gelten Erwerbslose und Alleinerziehende, aber auch Kinder und vor allem die Alten. In Nordrhein-Westfalen nimmt die Armut erheblich schneller als im Bundesdurchschnitt zu und im Ruhrgebiet ist sie von 15,8 Prozent (2006) auf 19,7 Prozent gestiegen. Selbst der traditionell als wirtschaftsstark geltende Großraum Köln/Düsseldorf wird inzwischen zur sozialen Problemregion.

Nähme man diese Zahlen wahr und ernst, statt sie zu ignorieren oder in Abrede zu stellen, käme man zwangsläufig auf die Ursachen dieser dramatischen Entwicklung zu sprechen. Dann träte offen zutage, daß die Niedriglohnpolitik der Motor des deutschen Wirtschaftswachstums ist, der Führungsanspruch in Europa also auf einer forcierten Ausbeutung und Verelendung rapide wachsender Teile der hiesigen Bevölkerung gründet. Wie die historisch beispiellose Polarisierung der Gesellschaft in eine unerhört reiche Elite auf der einen und ein wachsendes Millionenheer armer Menschen auf der anderen Seite unterstreicht, kennt die Wertschöpfung der profitgetriebenen kapitalistischen Wirtschaftsweise nur eineQuelle: Die Vernutzung menschlicher Arbeitskraft, gesichert durch eine staatliche Ordnung, welche die Besitzverhältnisse zugunsten des Kapitals garantiert und die Verfügung über die Besitzlosen innovativ fortschreibt.

Die von der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder und Fischer durchgesetzte Agenda 2010 und das Hartz-IV-Regime, derer sich die politische Führung seither bedient, verschränkt den systematischen Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme mit einer tiefgreifenden Bezichtigung, Spaltung und Isolierung der Betroffenen, die kollektiven Widerstand präventiv aus dem Feld schlagen soll. Wer Armut wirksam bekämpfen will, muß daher für die Abschaffung dieser sogenannten Reformen des Arbeitsmarkts eintreten. Dies ist nur in der gebotenen Konsequenz möglich, indem die Herkunft von Macht und Reichtum aus der Unterwerfung und Ausplünderung entschlüsselt wird, mithin die Überwindung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse als roter Faden die strategischen Entwürfe und konkreten Schulterschlüsse durchzieht.


Pyramidenförmige Glasvitrine mit alter Bergmannsausrüstung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Museale Fragmente einer untergegangenen Ära
Foto: © 2015 by Schattenblick


Wer über Armut spricht, darf vom Reichtum nicht schweigen

Wer über Armut spricht, darf vom Reichtum nicht schweigen, war denn auch die Quintessenz der Konferenz "Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!", zu der Die Linke im Bundestag am 12. Juni nach Bochum eingeladen hatte. Will man von einem Alleinstellungsmerkmal der Linkspartei sprechen, so ist dies neben der Ablehnung von Kriegseinsätzen der Bundeswehr insbesondere die entschiedene Thematisierung der sozialen Frage, welche die erniedrigenden Alltagserfahrungen und brüchigen Zukunftsperspektiven zahlloser Menschen bestimmt. Legt man die fundierte Fachkompetenz und hochkarätige Parteiprominenz, den präsenten Brückenschlag zu Gewerkschaften und Verbänden, die praktizierte Solidarität mit aktuellen Arbeitskämpfen wie auch die diskussionsfördernde Struktur und Atmosphäre der Tagung zugrunde, war dies ein klares Signal der Linkspartei wie auch eines breiteren Bündnisses, den Kampf gegen die Armut positioniert auf die Tagesordnung zu setzen.

Sevim Dagdelen in ihrem Bochumer Wahlkreis als Moderatorin, der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge und Joachim Rock vom Paritätischen Gesamtverband aus Berlin, der ehemalige Betriebsratsvorsitzende von Opel-Bochum, Rainer Einenkel, und Jochen Marquardt, Geschäftsführer DGB Region Ruhr-Mark, Niema Movassat, Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine - wie diese stattliche Liste der Referentinnen und Referenten belegt, trug man im Jahrhunderthaus der IG Metall der gravierenden Problematik mit einem angemessenen Aufgebot Rechnung. Mit den gehaltvollen Beiträgen auf dem Podium korrespondierte eine engagierte Beteiligung des Plenums, aus dem zahlreiche Ergänzungen, Anregungen und kritische Einwände kamen.

Eine nicht vorab geplante, doch um so relevantere Aktion steuerte eine Delegation der streikenden Sozialarbeiterinnen und -arbeiter bei, deren Sprecherin in einer kämpferischen Rede die Lage ihrer Klientel wie auch die eigene Arbeitssituation eindringlich schilderte. Der Aufruf, diesen Streik zu unterstützen, fiel auf fruchtbaren Boden, wie sich die Konferenz auch mit den Arbeitskämpfen der Lokführerinnen und Lokführer und der Post-Beschäftigten solidarisch erklärte, zumal es in all diesen Fällen nicht nur um eine ökonomische, sondern zugleich eine politische Auseinandersetzung geht.


Redebeitrag der Streikenden vor mitgeführten Transparenten - Foto: © 2015 by Schattenblick

Entschieden zur Sache ...
Foto: © 2015 by Schattenblick


Die soziale Frage steht wieder auf der Tagesordnung

Die kapitalistische Enteignung führe zu einer immer ungerechteren Gesellschaft, der wachsende Reichtum einiger weniger stehe der brutalen Proletarisierung von immer mehr Menschen gegenüber, die als arbeitende Arme ihr Dasein fristen, so Sevim Dagdelen. Das Ruhrgebiet mit seinen über 5 Millionen Einwohnern träfen Entindustrialisierung, Lohnkürzungen und Flexibilisierung am härtesten - der Strukturwandel sei nichts als ein frommer Wunsch. Die soziale Frage stehe wie im 19. Jahrhundert erneut auf der Tagesordnung. Keine 30 Kilometer von Bochum entfernt wurde Friedrich Engels geboren, dessen Werk "Zur Lage der arbeitenden Klasse in England" von 1845 grundlegend für empirische Soziologie wie marxistische Theorie war, schlug Dagdelen einen keineswegs rückwärtsgewandten historischen Bogen. Die Linke müsse an der Seite der Erwerbstätigen, Arbeitslosen und Entrechteten stehen.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Sevim Dagdelen
Foto: © 2015 by Schattenblick

Christoph Butterwegge schloß sich dieser Eröffnung an und berichtete zunächst über einige Begegnungen mit Armut in seiner persönlichen Lebensgeschichte. Warum Armut in unserer Gesellschaft entweder nicht wahr- oder nicht ernstgenommen wird, sei auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Man setze sich mit den Nöten und Sorgen der Betroffenen nicht gern auseinander und fürchte zugleich selbst Armut im Alter. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts habe einen breiten Niedriglohnsektor hervorgebracht, das Haupteinfallstor für Erwerbsarmut und spätere Altersarmut. Zudem sehe sich die Bundesrepublik als eine sozial relativ homogene Gesellschaft, obgleich die Spaltung zwischen erster und dritter Welt längst auch in Deutschland angekommen sei.

Das reichste eine Prozent besitzt 36 Prozent des gesamten Vermögens, das reichste Promille noch 23 Prozent. 20,2 Prozent der Bevölkerung haben überhaupt kein Vermögen und 7,4 Prozent haben mehr Schulden als Vermögen. Ein Drittel der Gesellschaft ist allenfalls eine schwere Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt. Hingegen kann ein ganzer Konzern vererbt werden, ohne daß ein einziger Euro betriebliche Erbschaftssteuer gezahlt werden muß. Armut sei politisch gewollt und werde all jenen angedroht, die sich der Konkurrenz nicht unterwerfen. Dieser Disziplinierungseffekt der Armut sei wesentlich für das Funktionieren eines finanzmarktkapitalistischen Systems.

Der seit 2001 regelmäßig vorgelegte Armutsbericht der Bundesregierung steht für eine Zwischenphase, die längst in einer Art ideologischem Rollback zurückgedreht wird. In einem neofeudalen Trend konzentriert sich der Reichtum in Händen weniger Unternehmerfamilien, während das Bewußtsein, was Armut in einem reichen Land bedeutet, mehr und mehr verdrängt wird. Die Armutsforschung unterscheidet zwischen absoluter und relativer Armut. Während erstere bedeutet, daß die Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können, ist relative Armut dadurch gekennzeichnet, daß man nicht mit dem mithalten kann, was in einem reichen Land üblich ist und für alle andern als normal gilt. Armut könne in einem reichen Land sogar viel demütigender als in einem armen sein, weil Arme hierzulande persönlich für ihre Lage verantwortlich gemacht und desolidarisiert werden, so der Referent.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Christoph Butterwegge
Foto: © 2015 by Schattenblick

Butterwegge nennt es einen steinzeitlichen Armutsbegriff, so zu tun, als sei Armut über alle Zeitläufte hinweg und egal in welcher Gesellschaft stets dasselbe. Diese Ideologie sei Lobbyarbeit im Interesse derer, die Reichtum anhäufen und dafür sorgen, daß sich Armut bis in die Mitte der Gesellschaft hinein ausbreitet und dort verfestigt. Dies rufe Risse im sozialen Fundament der Gesellschaft hervor, da mit der sozialen auch eine politische Spaltung einhergeht: Von Armut Betroffene ziehen sich aus politischen Entscheidungsprozessen zurück.

Bezeichnenderweise tauche Kinderarmut im Koalitionsvertrag überhaupt nicht auf, der zudem Reichtum ebenso ausblendet wie er Armut lediglich als zu verhindernde Altersarmut, Bildungsarmut und Armutsmigration thematisiert. CDU/CSU und SPD gehen demnach davon aus, daß es in Deutschland überhaupt keine Armut gibt - es sei denn, sie werde rechtswidrig durch Migranten aus Bulgarien und Rumänien importiert. Wer eine solche Vorstellung favorisiere, könne natürlich die Armut nicht wirksam bekämpfen, zumal er den Reichtum nicht antasten wolle, so Butterwegge.

Joachim Rock, Abteilungsleiter für Arbeit, Soziales und Europa des Paritätischen, verwies auf eine lange Tradition, Armut zu leugnen, kleinzureden und zu bagatellisieren. Schon die Einführung der Sozialhilfe war seinerzeit keine politische Entscheidung, da der Bundestag das Sozialhilfegesetz erst auf Grund einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beschloß, wonach es das Recht auf ein Existenzminimum gebe. Auch die Kinderarmut war lange bekannt, und doch bedurfte es 2010 wiederum des Verfassungsgerichts, das der Regierung auferlegte, etwas bessere Leistungen zu beschließen. Unter Verweis auf die existierenden Fürsorgesysteme erklärten Bundesregierungen die Armut für bekämpft. Spät erst räumte man die Existenz von Armut ein, doch inzwischen wird diese wieder geleugnet, da ihre Anerkennung politischen Handlungsbedarf formulieren würde, so der Referent.

Die Studie des Paritätischen griff auf Zahlen aus dem Mikrozensus zurück, einer amtlichen Befragung des Statistischen Bundesamtes, die Einkommensdaten von 830.000 Personen in 390.000 Haushalten erhob. Vom mittleren Einkommen ausgehend wurden 60 Prozent als relative Armutsschwelle zugrunde gelegt: Für einen Single-Haushalt waren das 892 Euro und für eine Familie mit zwei Kindern 1873 Euro. Diese Beträge markieren nicht etwa nur eine Armutsrisikoschwelle, sondern tatsächliche Armut. Mit 15,5 Prozent der Haushalte, die unter diese Schwelle fallen, ist ein neues Rekordhoch in Deutschland erreicht, und das zu einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität. Diese Zahlen sind nicht überzogen, da sich der Mikrozensus an Haushalten orientiert. Damit sind all diejenigen ausgeschlossen, die gar nicht in Haushalten leben: Obdachlose, Flüchtlinge und stationär Pflegebedürftige, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, tauchen in dieser Statistik nicht auf.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Joachim Rock
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Bundesregierung leistet sich mehrere Forschungsinstitute, die für teures Geld Wirtschaftsprognosen erstellen. Hingegen gibt es hinsichtlich der Armut statistische Defizite. Kritisiert man die Datenlage als zu schlecht, sollte man zuallererst dafür sorgen, daß diesem Bereich, der sich dramatisch entwickelt, auch die gebotene Aufmerksamkeit zukommt. Der Vorwurf, die Menschen nähmen mehr Leistungen in Anspruch, als ihnen zustehen, trifft nicht zu. Ganz im Gegenteil liegt die Quote nicht in Anspruch genommener Leistungen bei 40 Prozent der Berechtigten. 6,6 Millionen Menschen gelten als verschuldet und das mit durchschnittlich über 30.000 Euro. Eine vernünftige Vermögensstatistik der Reichen gibt es hingegen überhaupt nicht - nicht zufällig ein blinder Fleck der Forschung, so Rock.

Es existiert eine verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit in Zeiten wirtschaftlicher Wohlfahrt, die ohne entsprechende Maßnahmen künftig keinesfalls geringer wird. Mit welcher Legitimität werden Sanktionen verhängt, wenn nicht mehr vermittelt wird? Von über einer Million Sanktionen im letzten Jahr wurden zwei Drittel veranlaßt, weil die Termine nicht zustande gekommen waren. Die Leistung wurde im Schnitt drei Monate gekürzt und das um durchschnittlich 107 Euro monatlich. Diese Sanktionen müssen sofort abgeschafft werden, schloß der Referent seinen Vortrag.


Wege aus der Armutsfalle

Wie Jochen Marquardt darlegte, weise Bochum eine Erwerbslosenquote von 12,3 Prozent auf. Der Zuwachs an Arbeitsplätzen zwischen 2003 und 2013 resultiere bei Abbau von Vollzeitstellen aus Teilzeitbeschäftigungen, einer Verdoppelung der Leiharbeit und einer erheblichen Zunahme von Minijobs. Die Stadt war 2004 mit 1042 Millionen Euro verschuldet, doch nach Verabreichung diverser Kürzungspakete ist die Verschuldung auf 1701 Millionen Euro gestiegen. Die angewendeten Maßnahmen haben die Probleme verschärft: Die Schulden werden höher und die Lebensbedingungen der Menschen verschlechtern sich.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Jochen Marquardt
Foto: © 2015 by Schattenblick

Er begrüße den eingeführten Mindestlohn sehr, der allein in Bochum Tausenden Menschen mehr Geld eingebracht habe. Er sei jedoch zu gering, und man dürfe die Ausnahmen nicht akzeptieren. Seiner Meinung nach verhindere aber die vorab gestellte Forderung nach einem höheren Mindestlohn in linken Diskussionen den ersten Schritt, dem freilich weitere folgen müßten. Man könne von einem Dreieck der Verteilungsgerechtigkeit sprechen: Kampf um politische Einflußnahme, gute Arbeit und Arbeitszeitverkürzung. Zum bereits bestehenden Bündnis für soziale Gerechtigkeit und gute Arbeit müsse sich ein Bündnis für Frieden und Solidarität gesellen.

Rainer Einenkel schilderte die Schließung des Bochumer Opel-Werks, die bereits vor zehn Jahren angekündigt worden war. Unterdessen wurden Fabriken in Antwerpen, Portugal, das Saab-Werk in Schweden sowie Komponentenwerke geschlossen. Opel war pleite, bekam von General Motors einen Kredit über 3,4 Milliarden Euro und mußte als Gegenleistung ein Werk schließen. Die Wahl fiel auf Bochum, wobei die dortige Produktion in Rüsselsheim fortgesetzt wurde. Seit Dezember 2014 befinden sich 2700 Menschen in einer Transfergesellschaft, jedoch bislang nur 100 in Beschäftigungsmaßnahmen. Tausende weitere Menschen verlieren bei Zulieferern ihren Arbeitsplatz, nach einer Studie der Landesregierung stehen in Nordrhein-Westfalen insgesamt 40.000 Arbeitsplätze in Zusammenhang mit dem Bochumer Opelwerk. Der Verlust dieser hochwertigen Arbeitsplätze hat Auswirkungen auf die Kaufkraft und das Steueraufkommen, so daß weitere Arbeitsplätze in Gefahr sind, Ausbildungsplätze verlorengehen und das Qualifikationsniveau sinkt, umriß Einenkel die weitreichenden Auswirkungen der Werksschließung in Bochum.


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Rainer Einenkel
Foto: © 2015 by Schattenblick

Sahra Wagenknecht kam in ihrem Beitrag dezidiert auf den Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum in Deutschland zu sprechen. Die Agenda 2010 sei nicht einfach nur eine politische Dummheit der rot-grünen Regierung gewesen, vielmehr habe diese die Forderungen der Unternehmen und Großbanken erfüllt. Diese falschen Weichenstellungen müßten zurückgenommen werden, denn wer arbeitslos wird, müsse menschenwürdig leben können und dürfe nicht durch Hartz IV gedemütigt werden.

Die Finanzierung sozialer Leistungen und eine bessere Bezahlung der in diesem Bereich Tätigen wäre möglich, würde man dem Reichtum mit Vermögens- und Erbschaftssteuer zu Leibe rücken. Es geht nicht um Enteignung, sondern um Rückgabe des vielen Geldes, das die öffentliche Hand zu den Reichen hinübergeschoben hat, stellte die Referentin klar. Da die Wirtschaftsunternehmen nicht von denjenigen kontrolliert werden, die den Reichtum produzieren, müsse man über die Eigentumsform großer Unternehmen reden. Warum ist nicht die Mitarbeitergesellschaft das Standardunternehmen, in dem die Belegschaft entscheiden kann, was und wie produziert wird?


Auf dem Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Sahra Wagenknecht
Foto: © 2015 by Schattenblick

In der anschließenden Diskussion mit dem Plenum hob Jochen Marquardt noch einmal hervor, daß ihm die Veränderung der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zu lange dauere. Man müsse in den Betrieben und in der Gewerkschaft konkret kämpfen und die Mehrheiten ändern. Linke und Gewerkschaft könnten eng zusammenarbeiten, sofern nur nicht einer dem andern vorschlage, was er zu tun hat. Dieser Auffassung schloß sich Rainer Einenkel mit den Worten an, von der Belegschaft kontrollierte Betriebe seien eine langfristige Perspektive, die den von Schließung Betroffenen nicht helfe. Man habe die Schließung des Bochumer Werks zwar nicht verhindert, aber sehr teuer gemacht. So mußte der Mutterkonzern 700 Millionen Euro zahlen, um das Werk Bochum abzuwickeln. Die Stadt und das Bundesland müssen 120 Millionen Euro für die Sanierung des Geländes aufwenden, die allerdings aus dem Haushalt stammen und anderswo fehlen werden.

Sahra Wagenknecht ließ das nicht so stehen und brachte den politischen Streik ins Gespräch, der in Frankreich und Südeuropa ein probates Mittel und auch in Deutschland notwendig sei. Was die Wahlen betreffe, bekäme Die Linke erst dann zusätzliche Stimmen, wenn die Menschen das Gefühl hätten, es handle sich um eine realistische Regierungsoption. Das sei allein mit der Linken nicht machbar. Stelle man jedoch all jene in Rechnung, die gar nicht gewählt haben, seien auf Angela Merkel lediglich 30 Prozent entfallen. Es gehe also darum, die Enttäuschten zu erreichen, denn wenngleich eine linke Regierung natürlich besser wäre, könne doch auch eine starke Opposition etwas bewegen.


Bei der Rede am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Oskar Lafontaines pointiertes Schlußwort
Foto: © 2015 by Schattenblick

In seinem Schlußwort erinnerte Oskar Lafontaine daran, daß das Ruhrgebiet einst als Herzkammer der SPD galt. Damals hatten die Leute Arbeit und verdienten recht gut. Wo ist die Sozialdemokratie, die jetzt aufsteht und sagt, wir lassen nicht zu, daß das Ruhrgebiet immer weiter verarmt? Die häufig gestellte Frage, ob Die Linke regierungsfähig sei, müsse anders beantwortet werden: Regierungsfähig seien nur Parteien, die die Armut bekämpfen - alle anderen seien es nicht! Die bislang regierenden Parteien trügen die Verantwortung für die wachsende Armut, denn wer diese bekämpfen wolle, müsse den Reichen das Geld nehmen. Dazu müsse man noch nicht einmal Marxist sein, sei doch schon der Dichter Honoré de Balzac zu dem Schluß gekommen, daß hinter jedem großen Vermögen ein großes Verbrechen stehe. Die Kernfrage der Gesellschaft, wie Vermögen entsteht, werde heute nicht mehr gestellt. Vermögen entstehe durch Arbeit und nicht dadurch, daß man andere für sich arbeiten läßt. Die Gesellschaft sei erst dann gerecht, wenn derjenige, der arbeitet, auch den Ertrag seiner Arbeit bekommt.

Demokratie sei eine Gesellschaft, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. In den Industriestaaten existiere keine Demokratie, es handle sich vielmehr um Oligarchien und Plutokratien. Daher sei die Besteuerung der großen Vermögen unverzichtbar, wolle man die Armut zu bekämpfen. Seien soziale Kriterien notwendig, dann am notwendigsten an der Ruhr. Man müsse in verteilungspolitischen Auseinandersetzungen Flagge zeigen und die Kampfmethoden ändern, auch in den Gewerkschaften. In dieser Hinsicht könne man von den Südeuropäern oder noch besser den Vorfahren an der Ruhr vieles lernen. Ohne den Generalstreik werde man soziale Kahlschläge nicht verhindern. Abschließend bediente sich Lafontaine eines Brechtzitats:

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sah'n sich an.
Und der Arme sagte bleich:
"Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!"

Das gelte es zu ändern, das sei der Auftrag aller Linken und all derjenigen, die sich für sozial Schwache engagieren!


Klotziger Bau aus rotem Klinker - Foto: © 2015 by Schattenblick

Jahrhunderthaus des DGB in Bochum
Foto: © 2015 by Schattenblick


Erster Bericht zur Konferenz "Armutsspirale im Ruhrgebiet stoppen!" im Schattenblick unter
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BERICHT/200: Armut, Pott - und viele Köche ... (SB)

4. Juli 2015


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