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BERICHT/208: Kurdischer Aufbruch - internationalistischer Gegenentwurf ... (SB)


Selbstermächtigung statt Staatsmacht - Schulterschluß der Befreiungsbewegungen

Die kapitalistische Moderne herausfordern II - Konferenz an der Universität Hamburg, 3. bis 5. April 2015


Kaum ein anderer Begriff hat in der revolutionären Praxis der letzten Jahrzehnte so viele Kontroversen, Transformationen und inhaltliche Verschiebungen erfahren wie der des Internationalismus. Dabei stand die Losung "Proletarier aller Länder, vereinigt euch" aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels einst für den schlichten Gedanken, daß die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft ohne Privateigentum und Ausbeutung nur dann in letzter Konsequenz vollständig zu bewerkstelligen sei, wenn über alle Landesgrenzen hinweg gewissermaßen eine Weltrevolution in Gang gesetzt werde. Kommunismus und Bürgerlichkeit schlossen sich bei Marx und seinen Nachfolgern kategorisch ebenso aus, wie die Aufhebung des Klassengegensatzes keinen ideologischen Kompromiß zuließ. Daß sich Generationen von linken Theoretikern, Sozialisten und Sozialrevolutionären so sinnzerfahrend am Begriff Internationalismus abarbeiteten, mag vielleicht auch an den toten Winkeln der schon bei Marx fehlenden Trennschärfe in bezug auf seine aus der Nationalökonomie entlehnten Begrifflichkeiten gelegen haben. Der schleichende Revisionismus sogenannter linker Schulen wie auch der Versuch, die materialistische Sichtweise von Marx auf die geschichtlichen Abläufe ideologisch zu verwässern, hat beispielsweise aus dem Internationalismus und damit der kämpferisch angestrebten Gesamtbewegung der Arbeiterklasse die weichgespülte Version einer Solidaritätsadresse gemacht, die kaum noch das Umsturzpotential besaß, das einst Marx im historischen Klassenwiderspruch gesehen hat.


Beim Vortrag am Rednerpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Arno-Jermaine Laffin
Foto: © 2015 by Schattenblick

Um so hellhöriger wird man, als Arno-Jermaine Laffin seinen Vortrag "Internationalismus - Weiterentwicklung eines Konzepts" auf dem Kurdenkongreß mit der Ankündigung neuer Perspektiven internationalistischer Kämpfe verbindet. Der Student der Politik- und Rechtswissenschaften in Marburg und Hannover mit deutschen Wurzeln ist Mitglied des Verbands der Studierenden aus Kurdistan (YXK) und engagiert sich seit Jahren in der kurdischen Freiheitsbewegung. Nach einer kurzen Einführung, daß der Begriff Internationalismus auf die ArbeiterInnenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückgeht und auf der Forderung nach einem proletarischen Internationalismus gründete, verweist Laffin darauf, daß das Konzept im Zuge seiner Weiterentwicklung viele Wegmarken und Einflüsse durchlaufen habe wie beispielsweise den Antimilitarismus in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, die Kom-Intern, die internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, verschiedene antikoloniale Befreiungskämpfe im Trikont, die 68er-Revolte sowie späterhin die in den westlichen Metropolengesellschaften entwickelten Stadtguerilla-Konzepte und schließlich die Antiglobalisierungsbewegung mit ihrem Widerstand gegen neokolonialistische und supranationale Regime.

Laffin räumt ein, daß auch in der YXK ein lebhafter Diskurs um eine zeitgenössische Interpretation und vor allem Praxis des Internationalismus geführt werde. Die PKK als ideologisches Zentrum der kurdischen Freiheitsbewegung habe sich seinem Vernehmen nach von Anfang an als internationalistische Kraft verstanden. Dies sei nicht weiter verwunderlich, da die Arbeiterpartei Kurdistans ihre politischen Wurzeln in der 68er-Studentenrevolte und der traditionell marxistisch-leninistisch geprägten türkischen Linken habe. Zudem seien weltweit Anregungen aus nationalen Befreiungsbewegungen für eine Ideologisierung des eigenen Kampfes gekommen. Noch in der Zeit des bewaffneten Widerstands gegen die rigide Assimilations- und Unterdrückungspolitik der Türkei habe in den Strukturen der PKK angesichts der Erkenntnis, daß die Verwirklichung eines eigenständigen Kurdenstaates mit den verfügbaren Mitteln nicht zu erreichen wäre, ein Um- und Weiterdenken eingesetzt, das letztlich den Weg zum Paradigmenwechsel und Konzept des Demokratischen Konföderalismus geebnet habe. Auch wenn die Ideen und Schriften Abdullah Öcalans nach seiner Festnahme und Kerkerhaft auf Imrali wichtige Impulse dazu beisteuerten, seien sie nach Ansicht des Referenten nicht die einzige Quelle der Inspiration gewesen. Vielmehr habe der essentielle Austausch und Diskurs mit anderen Befreiungsbewegungen und Konzeptionen aus dem Umfeld sozialistischer und libertärer Utopien samt ihrer Rückbindung an die jeweilige Praxis die Grundlage für ein neues Verständnis von Internationalismus geschaffen. Erst dieser Transfer von Ideen aus anderen Regionen der Welt und die zeitgemäße Weiterentwicklung der durch die verlorenen Schlachten gegen den Kapitalismus abgestumpften Revolutionsinstrumente habe auf dem Zenit einer Neubesinnung eine bis dahin nicht gekannte Solidarität mit dem kurdischen Volk hervorgerufen, die in Kobanê ihren höchsten Ausdruck fand.

Der aufopferungsvolle Widerstand der Frauen und Männer in der vom Islamischen Staat umlagerten Stadt führte der Welt das immense Potential in der Vision eines Demokratischen Konföderalismus tatkräftig vor Augen. Daß sich Millionen Menschen mit dem sich aus eigener Kraft befreienden Kobanê solidarisierten, lag vor allem am gesellschaftsverändernden Aufbruch, der nunmehr in Rojava und Kurdistan diskutiert, erprobt und realisiert werde und den unterdrückten Völkern in Form einer Demokratischen Moderne eine Alternative zur westlichen Zivilisation und ihrer Trinität aus Nationalstaat, Industrialismus und Kapitalismus anbietet. Rojava habe gezeigt, daß eine Demokratie auch ohne Staatsmacht und Herrschaftsstrukturen auskommen kann, zumal das eigentliche Subjekt der Demokratischen Moderne immer nur die aus ihrer Unfreiheit sich emanzipierende Gesellschaft sein könne, die ihre Bedürfnisse selbst verwaltet und organisiert.

Für den Referenten ist die Demokratische Moderne ein zeitgemäßer Gegenentwurf zur Hegemonie der Kapitalistischen Moderne, darin der Grundwiderspruch zwischen Demokratie und Staat, wie er seit Jahrtausenden existiert und die Menschheitsgeschichte leidvoll durchdrungen hat, durch die Selbstermächtigung des Menschen auf die Ebene einer gesellschaftlichen Befreiung gehoben werde. Die Durchsetzung der Demokratischen Moderne mißt sich Laffin zufolge an der Organisierung ihres Widerstands gegen die staatliche Monopolstellung. Die PKK versteht sich in diesem Sinne als eine von vielen Erscheinungsformen der Demokratischen Moderne, die überall auf der Welt kreativ und konstruktiv praktiziert wird, wo sich Kulturen mit ihrem tradierten Wissen hinsichtlich archaischer Formen der Selbstorganisation und der ökologischen Nutzung ihrer Lebenswirklichkeit gegen die Feuersbrände der Kapitalverwertung zur Wehr setzen.

Aus dieser Überzeugung heraus hat die PKK vor zehn Jahren damit begonnen, ein eigenes System parallel zu den bestehenden Nationalstaaten aufzubauen, um den Menschen ihre Autonomie wiederzugeben. Dies soll erreicht werden durch eine Stärkung der Kommunen und den Aufbau einer politisch selbständigen Zivilgesellschaft. Die Demokratische Autonomie suche jedoch nicht die direkte Konfrontation mit dem Staat. Diesem soll vielmehr über Räte, Kommunen, Kooperativen sowie regionale Netzwerke der Zusammenarbeit der Einfluß auf die Gesellschaft abgerungen werden, wie dies am anschaulichsten in Rojava geschehen sei. Demokratische Autonomie und ihre weichen Beziehungen auf lokaler, regionaler und kontinentaler Ebene würden auf diese Weise konföderale Strukturen schaffen, ohne auf einen Staat angewiesen zu sein, weil ihm seine wichtigste Grundlage - der unmündige Mensch unter dem Joch der Staatsgläubigkeit - entrissen wird.

Laffin berührt in seinem Vortrag auch einen heiklen Punkt in den Gefängnisschriften von Abdullah Öcalan, der sowohl in den eigenen Reihen als auch unter Linken Gefühle des Unbehagens aufkommen ließ. Der von Öcalan aufgeworfene Begriff der "Demokratischen Nation" sei insbesondere in Deutschland vor dem Hintergrund der eigenen Vergangenheit überaus strittig und nicht weniger vorbelastet, da Nationalstaatlichkeit immer auch Ausgrenzung oder Assimilation von Andersdenkenden, Minderheiten und sozial geächteten Gruppen bis hin zu deren Vernichtung impliziere. Der Referent las zur Klarstellung des Zusammenhangs einen selbstkritisch verfaßten Passus aus Öcalans Werk vor: "Für uns war die Nation eine Sache, die unbedingt einen Staat erfordert! Wenn die KurdInnen eine Nation seien, müssten sie unbedingt auch einen Staat haben! Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen und dem Begreifen, dass die Nation sich unter dem starken Einfluss des Kapitalismus entwickelt hat und insbesondere das Nationalstaatsmodell ein Eisenkäfig für die Gesellschaften ist, habe ich verstanden, dass die Begriffe Freiheit und Gesellschaftlichkeit wertvoller sind. Ein Kampf für die Nationalstaatlichkeit wäre ein Kampf für den Kapitalismus."

Ganz abgewetzt hat Öcalan die scharfen Kanten am Modell der Demokratischen Nation allerdings nicht, zumal der Referent damit fortfährt, daß der Begriff im Grunde nur das gesellschaftliche Bewußtsein der Demokratischen Moderne zum Ausdruck bringe und einen Gegenentwurf zum Nationalismus der Kapitalistischen Moderne darstelle. Aus Sicht linker Apologeten nimmt sich die Restitution des Nationalbegriffs wie eine dialektisch verunglückte Rochade aus, wenn Laffin im selben Tenor erklärt, daß der Körper oder die politische Ausdrucksform der Demokratischen Nation die Demokratische Autonomie, die Mentalität des Nationalstaats hingegen der Nationalismus sei. Wie weit die Grenzen einer belastbaren Toleranz allerdings im Ernstfall reichen, wenn das Geburtsrecht in den Ruch einer Diskriminierung gerät, bleibt ungeklärt. Ausschreitungen, gar Genozide immer als Akte staatsgelenkter Gewalt darzustellen unterschlägt die mörderische Wirkung der im Begriff Nation eingeschlossenen Identitätsfrage sowohl in rassistischer als auch sozialer Präferenz. Der Bürgerkrieg in Indien 1947 legt beredt Zeugnis davon ab, daß schon eine verschiedene Religionszugehörigkeit, ob Hindu oder Moslem, das Potential freisetzen kann, im Nachbarn den Feind und nicht den Mitmenschen zu sehen.


Die genannten Referentinnen und Referenten am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Session zu Lehren aus alternativen Praktiken mit Dimitrios Roussopoulos, Mustefa Ebdî, Necîbe Qeredaxî, Moderatorin Anja Flach, Alex Mohubetswane Mashilo, Joám Evans Pim und Arno-Jermaine Laffin am Rednerpult (v.l.n.r.)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Konkurrierende Überlebensinteressen gezügelt?

Wenn der Referent die Demokratische Nation als Vielfalt in der Gesamtheit der Gesellschaften beschreibt, die sich nicht über einen Staat definieren müsse und im wesentlichen auf der Übereinkunft eines friedvollen Miteinanders beruhe, dann stellt sich die Frage, wo die eingeforderte Menschlichkeit, die Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sozialen Status und die Individualität der Ansichten für überwunden erklärt, ihre Wurzel hernimmt. Die Maxime, daß eine Demokratische Nation von dem Bewußtsein einer demokratischen Kultur lebt, für die weder eine gemeinsame Geschichte, Sprache oder Herkunft notwendig seien, daß die Unterschiede innerhalb der Gesellschaft zwar einbezogen werden, nicht aber unter der Konsequenz, sie zu assimilieren oder zu negieren, erhebt den Konsens zum übergeordneten Prinzip. Doch wer garantiert seine Einhaltung und wie gleichwertig sind die Unterschiede im sozialen Alltag wirklich, wenn, wie alle Erfahrung lehrt, schon ein Stäubchen des Zwiespalts genügt, um alte Rivalitäten und unter der Decke schlummernde Feindschaften wiederaufflammen zu lassen? Das in der wechselvollen Geschichte von Krieg und Frieden immer wieder aufbrechende Machtstreben einzelner gegen die Gemeinschaft oder von Bündnissen gegen andere bleibt eine allgegenwärtige Herausforderung im fortgesetzten emanzipatorischen Ringen.

Wiewohl es sinnvoll ist, das staatliche Gewaltmonopol anzufechten, wäre es doch zu kurz gegriffen, den Unterschied auf äußere Merkmale und Maße zu reduzieren. Nicht eine helle oder dunkle Haut, braune oder blaue Augen, nicht die verschiedenen Namen des Gottes, zu dem die Menschen in ihrer Not beten, nicht die Stätte der Geburt noch der Klang der Zunge machen im Kern den Unterschied aus, auch wenn der allgemeine Sprachgebrauch dies nahelegt. Was den Menschen zum Vergleich treibt und damit zur Betonung der Unterschiede bis hin zur ausgehärteten Feindschaft, zieht seine Kraft aus den konkurrierenden Überlebensinteressen innerhalb einer als Gesellschaft zusammengewachsenen Rauborganisation. Auch die Kurden haben Kriege untereinander geführt und ihre Nachbarn überfallen. Der Konflikt ist älter als der Kapitalismus.

Der vom Referenten hochgehaltene Schutz der verschiedenen Identitäten innerhalb einer Demokratischen Nation ist nur so lange tragfähig, wie es ihnen in Selbstorganisation gelingt, sich einen Platz in der Verteilung von Gütern und Ressourcen zu sichern. Der Wunsch, kollektive Rechte gemeinsam wahrzunehmen und mit anderen Identitäten solidarische Kämpfe gegen Unterdrückung und Willkür zu führen, ist der Vater des bereits in den UN-Statuten verbrieften Rechts auf Selbstverteidigung, aber nicht zwangsläufig der Beleg für eine internationalistische Grundhaltung, deren erstes Credo immer schon gelautet hat, daß es zur Revolution - anders als die Reformisten behaupten - keine Alternative gibt.

Die Würdigung des Vortrags bliebe unzureichend, wollte man nicht ergründen, woher der Gedanke rührt, der die kurdische Bewegung und im besonderen Fall die YXK dazu veranlaßt hat, den Internationalismus auch in seiner historischen Gestalt und Bedeutung zu hinterfragen. Die Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation war im Zuge der gesellschaftlichen Kämpfe des 19. Jahrhunderts ein notwendiger Schritt in der fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse über nationale Grenzen hinweg. Die Arbeiter in Frankreich, Deutschland oder den USA haben sich jedoch weiterhin als Franzosen, Deutsche oder US-Amerikaner empfunden, aber der Ansatz bestand immerhin, ihre Kräfte im Kampf gegen das Kapital und die große Industrie zu vereinigen in Hinblick auf den Sturz der auf der Eigentumsfrage aufbauenden Gesellschaftsordnung. Die Internationale verband demnach die nationalen Arbeiterbewegungen zu einer politischen Kraft unter dem Vorsatz einer gebündelten Stoßrichtung. Dieser historische Kontext ist bei der PKK und den Emanzipationsbestrebungen beispielsweise in Rojava, aber auch in den anderen Teilen Kurdistans in dieser Form und Akzentuierung nicht gegeben.

Darüber hinaus war die kurdische Frage, mithin das Existenzrecht eines im Friedensvertrag von Lausanne 1923 von den Entente-Mächten und ihren Vasallenstaaten hintergangenen Volkes, zunächst auf die Errichtung eines unabhängigen Staates fokussiert, weshalb der bewaffnete Kampf der Kurden geraume Zeit als nationale Freiheitsbewegung in Erscheinung trat. Erst mit dem Positionspapier Öcalans, dem Friedensangebot an den türkischen Staat und mehr noch der erfolgreichen Abwehr des IS in Kobanê nahm ein neuer Gedanke in der kurdischen Autonomiebestrebung Kontur an. Statt der Deklaration einer kurdischen Nation in einem eigenständigen Kurdenstaat wird seit einigen Jahren verstärkt die Perspektive einer Konföderation der im nahöstlichen Kulturraum beheimateten Völker, Religionsgruppen und zivilgesellschaftlichen Akteure angestrebt. In diesen selbstverwalteten Strukturen ohne die Schirmherrschaft eines Staates wären die Kurden zwar repräsentiert, würden sich die politische Macht jedoch mit allen anderen Völkern und Interessenvertretungen teilen. Das demokratische Prinzip findet seine Bestätigung darin, daß den verschiedenen Populationen, wie sie für den Nahen Osten kennzeichnend sind, ein gleiches Stimmrecht in den jeweiligen Entscheidungsgremien verbürgt wird. Vor diesem Hintergrund verstehen sich die progressiven Kräfte unter den Kurden als internationalistisch, da innerhalb eines selbstorganisierten Raumes die Grenzen zwischen den verschiedenen Nationalitäten und Herkünften im Sinne der politischen Gleichheit aufgelöst sind. Priorität hat im konförderalen Konzept die Überwindung des Staates als dem Inbegriff der kapitalistischen Herrschaft.

Wie verletzlich und geradezu selbstgefährdend es war, die Zukunft des kurdischen Volkes und seine unstrittig erhaltenswerte Kultur an Bündnisse mit regionalen Mächten und Staaten anzuketten, zeigt ein Blick in die Geschichte des kurdischen Freiheitskampfes. In diesem Sinne muß wohl verstanden werden, wenn der Referent stellvertretend für die kurdische Bewegung die Frage stellt, ob der Begriff Internationalismus präzise genug ist, um den Widerstand gegen den Kapitalismus auf eine moderne Basis zu stellen. Vorschläge aus dem reformistischen Umfeld wie "Transnationalismus", also über die Grenzen von Nationen hinweg, oder "Subnationalismus" im Sinne einer Unterwanderung von Grenzen führen, wie Laffin warnt, lediglich zu den abstrakten Spielwiesen linker Theoriezirkel oder treiben im schlimmsten Fall einen Spalt in revolutionäre Bewegungen. Trotz der offensichtlichen Krise der Kapitalistischen Moderne hält sich das System dem Referenten zufolge erstaunlich gut. Zurückzuführen sei dies auf die Verankerung der kapitalistischen Hegemonie in den Köpfen der Menschen sowie auf den schwachen Widerstand der demokratischen Kräfte.

Obgleich sich das ökonomische Versprechen auf allgemeinen Wohlstand für den Großteil der Menschen immer mehr in einem Trugbild auflöst, statt der Emanzipation das Patriarchat vertieft und zementiert wird und die Zerstörung der natürlichen Lebenswirklichkeit irreversible Folgen zeitigt, stellt die kapitalistische Moderne nichtsdestotrotz eine Epoche dar, in der die Absorption des Mentalen einen historischen Höhepunkt erreicht habe. Für den Referenten nimmt es fast schon die Züge einer Geiselnahme an, daß die herrschende Klasse nahezu lückenlos das Denken und Fühlen der Individuen als auch der Gesellschaft insgesamt für ihre Interessen vereinnahmt und es sogar geschafft hat, einen Keil zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu treiben. Menschen, die ihres Geschichtsbewußtseins und kollektiven Gedächtnisses beraubt wurden, seien nicht bloß leichte Beute für jeden Geschichtsrevisionismus, sondern auch willenlose Marionetten in den Händen der herrschenden Eliten und ihrer Sachwalter.


Blick aus den vollbesetzten Rängen auf das Podium - Foto: © 2015 by Schattenblick

Geschichtsbewußt um die Zukunft ringen
Foto: © 2015 by Schattenblick

Ideologie brechen - Kollektives Gedächtnis wiedergewinnen

Wer die Klassen- und emanzipatorischen Kämpfe der Vergangenheit nicht kennt, werde gezwungen, so Laffin, Geschichte zu wiederholen, statt Geschichte selbst zu schreiben. Dies gelte vor allem für die Menschen in den europäischen Metropolen, wo die ideologischen Wurzeln von Kapitalismus und Nationalstaat ihren Mutterboden haben und die Fremdbestimmung am tiefsten verinnerlicht sei. Daher sei der systematische Aufbau von Akademien als einem weiteren zentralen Grundpfeiler des Demokratischen Konförderalismus dringend notwendig, um im Sinne einer Bewußtwerdung die Menschen gegen ideologische Attacken wehrhaft zu machen. Als Institutionen der Demokratischen Moderne sollen sie die Gesellschaft vom herrschenden Macht-Wissen-Komplex befreien und mithelfen, das ihr geraubte Wissen wiederzuentdecken. Notwendig im globalisierten Zeitalter müßten die Akademien zudem weltweit vernetzt werden, um ein radikales Umdenken insbesondere für die Jugend als dem Träger der Zukunft zu gewährleisten.

Laffin versteht Jugend dabei nicht nur als eine soziale Realität oder ein bestimmtes, mit gesellschaftlichen Erwartungen befrachtetes Alter, sondern vielmehr als politisches Subjekt gegen die Herrschaft der Alten und etablierten Kräfte. Jugend zeichnet sich für ihn in erster Linie durch eine für neue Entwicklungen offene und alles hinterfragende mentale Haltung aus. Das Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit treibe die Jugend an, auch unbequeme Fragen zu stellen und nach echten Lösungen zu suchen. Die daraus resultierende Stärke wird von den Herrschenden als gefährlich eingestuft, denn mit der schwindenden Konkurrenz sei sie weniger empfänglich für das dem Herrschaftsdiskurs innewohnende persönliche Vorteilsstreben. Um so wichtiger sei es, unterstrich Laffin, die Jugend bewußt in die Diskussionen und Arbeiten einer Linken einzubeziehen, damit die Gedanken dynamisch und fortschrittlich bleiben. In diesem Zusammenhang zitiert er Hüseyin Çelebis, der 1990 und damit im Jahr des Zusammenbruchs des Realsozialismus gesagt hatte: "Wir müssen die große Chance, neue Perspektiven mitentwickeln zu können, nutzen. Wir müssen die neue Perspektive selbst sein, anstatt immer nur andere Perspektiven darzustellen."

Ohne die Befreiung der Frau könne es keine gesellschaftliche Emanzipation geben und das Patriarchat als Ausdruck sozialer Herrschaft und Unterdrückung werde weiterhin ungebrochen seinen essentiellen Beitrag zur Ausbeutung des Menschen durch das Kapital leisten. Die kurdische Bewegung habe diesen Zusammenhang seit langem erkannt und in ihre Praxis eingebunden. In dem Maße, wie das Patriarchat sich der Jugend als Treibriemen bedient, um die Frau zu unterdrücken und Strukturen der Teilung aufrechtzuerhalten, müssen junge Männer, so der Referent, die darin für sie vorgesehenen Privilegien gegenüber der Frau und den kurzfristigen Nutzen der Teilhaberschaft zurückweisen und radikal mit dem Patriarchat brechen.

Die revolutionäre Jugend steht in diesem Kampf nicht aus ethischen oder anderen humanistischen Gründen neben der Frau, sondern weil sich Revolution und Emanzipation nicht getrennt denken lassen. Beides zielt auf die Aufhebung der sich in der Geschlechterfrage widerspiegelnden sozialen Widersprüche. So wie junge Männer Kraft aus dem Bruch mit den tradierten Identitäten schöpfen, könne die Frau, die doppeltes Leid in Form der heranwachsenden jungen und der Herrschaft der alten Männer erfährt, dabei zu einer Stärke finden, die sich durch kein Versprechen und keinen Kompromiß korrumpieren läßt und sie zu einer Avantgardistin des revolutionären Sieges macht. Aus dem Wissen heraus, daß Mann und Frau aneinander gekettete Organisationsformen der kapitalistischen Ausbeutung darstellen, reproduziert eine revolutionäre Jugend weder patriarchalische Rollenmuster noch ist sie bereit, sich identitär aufspalten zu lassen.

Aus diesem Grund seien Akademien unerläßlich, die jedoch keineswegs mit Instituten des Herrschaftswissens oder der Schulbank für Karrieristen verwechselt werden dürften. Vielmehr seien es Zentren des freien Diskurses und dienten dem Austausch von Ideen und Erfahrungen. Je vernetzter sie agierten und den internationalen Schulterschluß suchten, desto eher sei gewährleistet, daß sie nicht zu parteigebundenen Kaderschmieden verkommen, die Ideologien propagieren, aber nicht den mündigen Menschen zum Ziel haben. Es gilt zu begreifen, daß Internationalismus in einer kapitalistisch-globalisierten Welt nichts anderes bedeutet als die unmißverständliche Gewißheit, daß die Kämpfe, die in den verschiedenen Erdteilen und Weltgegenden geführt werden, notwendig miteinander zu tun haben.

Einst haben Menschen den Traum von Kurdistan geträumt, und als sie erwachten, erkannten sie, daß Kurdistan nur der Name für eine Welt ist, die es zu erstreiten gilt - und das wäre wohl fernab der Ideologien die Quintessenz von Demokratischer Moderne.


Beiträge zur Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern II" im Schattenblick unter
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BERICHT/190: Kurdischer Aufbruch - fortschrittlicher Beginn (SB)
BERICHT/192: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (1) (SB)
BERICHT/193: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (2) (SB)
BERICHT/194: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (3) (SB)
BERICHT/195: Kurdischer Aufbruch - Gesichter des Kapitals ... (4) (SB)
BERICHT/197: Kurdischer Aufbruch - in demokratischer Urtradition ... (SB)
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18. August 2015


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