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BERICHT/218: Flucht und Energie - im Westen nichts Neues ... (SB)


"Fluchtursache: Kriege um Energie?"

Informations- und Diskussionsveranstaltung mit Henrik Paulitz (IPPNW) am 24. November 2015 in der Geschäftsstelle der GEW im Curio-Haus, Hamburg


Eine Analyse politischer Verhältnisse, ohne die beteiligten Akteure und ihre Interessen beim Namen zu nennen, lautet der Ansatz, mit dem Henrik Paulitz von der Organisation IPPNW [1] versucht, einen engeren Zusammenhang zwischen Kriegen und Energiepolitik zu beschreiben. Gleich zu Beginn seines Vortrags mit dem Titel "Fluchtursache: Kriege um Energie?" am 24. November 2015 im Curio-Haus, Hamburg, betonte er, daß heute abend "eine vollständige Reduktion auf reine Fakten, reine Geschehnisse, also auf das, was geschieht", stattfände.


Beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Henrik Paulitz, IPPNW
Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit diesem Ansatz wolle er vermeiden, daß, "sobald der Name eines x-beliebigen Staatschefs oder x-beliebigen Landes falle, es in diesen durch James Bond, Hollywood & Co geschulten Synapsen unserer Köpfe Klick macht und sofort Raster von gut und böse greifen". Statt dessen wolle er ganz nüchtern fragen, ob energiewirtschaftliche Weichenstellungen bzw. Trends in zeitlicher Korrelation zu Konflikten, Krisen oder Kriegen erkennbar sind. Falls das zuträfe, könne man natürlich die These aufstellen, daß der Krieg eventuell etwas mit einem dieser Trends im energiewirtschaftlichen Bereich zu tun hat.

Überprüft hat er seine Frage an den Ländern Syrien, Irak, Ukraine, Libyen und Griechenland. Dabei hat sich der Referent den wißbegierigen Blick eines Kindes auf die politischen Geschehnisse bewahrt, ohne in Naivität abzugleiten. Ihm dürfte vollkommen klar sein, daß zu diesen Konfliktregionen täglich "gefühlte" eine Million Berichte neu erstellt werden, er also Eulen nach Athen trägt, wollte er politischen Analysten erklären, was von jeher Gegenstand und Ergebnis ihrer Untersuchungen ist: Selbstverständlich werden Kriege auch um Rohstoffe - fossile Energieträger wie Erdöl und Erdgas inklusive - geführt. Und ebenso selbstverständlich wird es bei einer tiefergehenden Analyse aktueller politischer Konflikte kaum zu vermeiden sein, die Interessen von Akteuren und deren Namen zu nennen, allein schon, weil im Rahmen der allgegenwärtigen Nationenkonkurrenz Interessenkonflikte brutal hervortreten und blutige Fronten schaffen können.

Dennoch sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß der von Paulitz verfolgte reduktionistische Ansatz eine Möglichkeit bietet, in den Themenkomplex Krieg zur Rohstoffsicherung und Flucht als Folge dieses Strebens einzusteigen. Zumindest bergen seine Beobachtungen das Potential, auf Lücken, wenn nicht gar Widersprüche in der öffentlichen Darstellung bzw. medialen Verarbeitung, die sich manchmal sehr deutlich als Propaganda herausstellt, hinzuweisen. Paulitz bedient sich offen zugänglicher Quellen, wie zum Beispiel einer Studie zur Syrienkrise des Chatham House, eines Think Tanks, der dem britischen Königshaus und dem Außenministerium nahesteht. In der Studie heißt es: "Eine sinnvolle Beurteilung der Syrienkrise ist nur unter Berücksichtigung des ökonomischen Kontextes möglich." [2]

In dem Papier wird festgestellt, daß die Ölförderung Syriens seit Ausbruch der Krise im Jahr 2011 von fast 400.000 Barrel pro Tag (b/d) auf unter 10.000 b/d gesunken ist, wodurch dem Staat ein beträchtlicher Teil seiner Einnahmen entging. "Syrien wurde aufgrund dieses Krieges vom Ölexporteur zum Ölimporteur", erklärte Paulitz. Für die Einfuhr von Öl habe die Regierung von Iran einen Kredit in Höhe von 1,6 Mrd. Dollar erhalten. Dessen Finanzierung sollte durch das Anheben der Treibstoffpreise gesichert werden. Der Referent brauchte es nicht eigens auszusprechen, aber natürlich ist klar, daß die Maßnahme bei der Bevölkerung nicht gut ankam und den Konflikt verschärft hat.

Noch wichtiger als Erdöl sind für Syrien die eigenen Erdgasvorkommen sowie seine geographische Nähe zum "South Pars", dem weltweit größten Erdgasfeld, das nicht Teil einer Erdöllagerstätte ist. Das Feld liegt hauptsächlich unter dem Persischen Golf und wird sowohl von Iran als auch Katar angezapft. An diesem Beispiel ging Paulitz auf die Konkurrenz zwischen dem von Katar geplanten Bau einer Pipeline aus dem katarischen Teil des "South Pars"-Erdgasfelds via Saudi-Arabien und Syrien nach Europa und einer Pipeline aus dem iranischen Teil via Syrien nach Europa ein.

Iran habe die eigene Pipeline ins Gespräch gebracht, nachdem es im Rahmen des Sanktionsregimes aufgrund seines Atomprogramms vom Nabucco-Projekt - ursprünglich sollte Gas aus Turkmenistan via Türkei, Bulgarien, Rumänien, Ungarn nach Österreich transportiert werden - ausgeschlossen worden war. Bald nachdem die syrische Regierung der iranischen Pipeline-Variante den Zuschlag gab, brach in Syrien Bürgerkrieg aus.

Ohne an dieser Stelle auf weitere Aspekte im Vortrag zur Syrienkrise einzugehen, sei hier Paulitz' zentrale Aussage genannt: Ein Energieexporteur wird zum -importeur, während er gleichzeitig in einen Krieg bzw. Bürgerkrieg verwickelt wird.

Ähnliches gilt für den Irak, angefangen vom ersten Golfkrieg 1980 bis 1988 gegen Iran, über den zweiten Golfkrieg 1990/91 bis zum dritten Golfkrieg ab 2003: "Wir können auch hier feststellen: Es kommt zum Krieg und es kommt zum ganz drastischen Einbruch der Ölförderung, dem Hauptexportprodukt, der wirtschaftlichen Basis dieser Länder. Und gleichzeitig verknappt man phasenweise das Öl."

Als Bestätigung zu Paulitz' Präsentation sei hier angemerkt, daß sich die enorme Bedeutung des Erdöls und Erdgases in dieser Region auch am nahezu exakt geraden Streckenverlauf der Südgrenze Syriens und Nordgrenze Iraks ablesen läßt. Die heutigen Staatsgrenzen markieren den Verlauf von Einflußsphären, die 1916 von den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs nach der Zerschlagung des Osmanischen Reichs im geheimen Sykes-Picot-Abkommen festgelegt worden waren und sich ihrerseits an einer Erdölpipeline orientierten. Mit anderen Worten, der Erdöl-Transportweg hat sich in Form der Staatsterritorien regelrecht manifestiert.

Ein weiteres Beispiel dafür, daß Konflikte mit Energiefragen zu tun haben, ist für Paulitz die Ukraine. Unter der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko hatten der staatliche Gasversorger Naftogaz Ukrainy und der russische Gaskonzern Gazprom im Jahr 2009 einen Vertrag abgeschlossen, nach dem die Ukraine einen Erdgaspreis bezahlen sollte, der weit über dem lag, was beispielsweise Deutschland für russisches Erdgas zahlt. Das habe die Regierung in Kiew veranlaßt zu sagen, daß sich das Land in Zukunft vermehrt selbst mit Gas versorgen und ansonsten Energie mit Kohle erzeugen wolle. Daraufhin sei es in Kiew zum Regime-change sowie zu der Krim- und Ostukrainekrise gekommen. Im Zuge dessen seien alle Kohlebergwerke in der Ostukraine zerstört oder geflutet worden, mit der Folge, daß der geplante Ausbau der Kohleförderung nicht stattfand. Die Ukraine blieb auf umfangreiche Gasimporte zur Energieversorgung angewiesen.

Die neue Regierung habe zugesagt, die Auflagen des IWF zu erfüllen und die Gaspreise für die Bevölkerung zu erhöhen. Erneut sei hier ein Muster zu erkennen, erklärte Paulitz: Kreditbedingte Verschuldung und Refinanzierung der Kredite über die Erhöhung der Energiepreise für die normale Bevölkerung.

Einen Tag nach dem Referendum, durch das die Krim Rußland angeschlossen wurde, sei das dort ansässige Erdöl- und Erdgas-Förderunternehmen verstaatlicht worden. Es wurde aus der Verfügungsgewalt der Ukraine genommen, und auch die Erdgasfelder im Schwarzen Meer fielen Rußland zu. "Gibt es da einen Zusammenhang?", fragte Paulitz sehr vorsichtig und sichtlich bemüht, seine Fragefähigkeit nicht mit aus der Hüfte geschossenen Erklärungen preiszugeben.

Als weiteres Beispiel diente dem Referenten Libyen, das einen Trend zur Steigerung der Erdöl- und Erdgasförderung erlebte, kurz bevor Muammar Ghaddafi gestürzt wurde. Daraufhin sei der Bürgerkrieg ausgebrochen, was zum fast vollständigen Zusammenbruch der Ölförderung geführt habe. Auch das libysche Explorationsprogramm wurde eingestellt und die geplante Erhöhung der Raffineriekapazität sowie Investitionen in den Erdgassektor aufgegeben.

Zu guter Letzt machte der Referent darauf aufmerksam, daß man sogar dem Griechenland-Konflikt andere als die vorgefertigten Facetten abgewinnen kann, wenn man ihn unter dem Gesichtswinkel der Energiepolitik betrachtet. Laut dem griechischen Professor Theodore Kariotis liegt der Hauptgrund des Konflikts zwischen Griechenland und der Türkei in den Ölvorkommen im Ägäischen Meer. Griechenland könnte jede Menge Öl und Gas fördern, tut dies aber bislang nicht. Die Türkei habe seit 50 Jahren davor gewarnt, seine Militärmaschinen verletzten regelmäßig griechischen Luftraum. Unter Bezugnahme auf den Ökonomen Dirk Müller, der vermutet, daß Griechenland in die Krise gestürzt wurde, weil es anstrebte, seine eigenen Energieressourcen in der Ägäis zu nutzen, um sich aus der Schuldenfalle zu befreien, fragt Paulitz: Wieso kauft Griechenland trotz seiner Schulden Kriegswaffen? Eine mögliche Antwort gibt er sich selbst: Was zunächst völlig sinnlos erscheint, ergibt dann Sinn, wenn es um die Rohstoffsicherung geht.

Paulitz' Beobachtungen können natürlich nicht wirklich überraschen. War nicht das Streben nach Verfügungsgewalt über Rohstoffe, Transportwege und Absatzmärkte von jeher Kriegsauslöser? Beispielsweise hat Großbritannien im 19. Jahrhundert zweimal Krieg gegen China geführt, damit es seine Märkte für Handelswaren des British Empire öffnete - insbesondere für die Droge Opium. Auch die Deutsche Wehrmacht wurde im Kampf um "Lebensraum" gen Osten gesandt, unter anderem zur Eroberung der Kohlebergbauregionen in der Ukraine. 1956 hielten Großbritannien, Frankreich und Israel den für die Ölversorgung bedeutenden Suezkanal mit militärischen Mitteln frei, und in den 1960er Jahren verteidigten die USA ihre Kontrolle über den Panamakanal nicht nur mit diplomatischen und wirtschaftlichen, sondern auch militärischen Mitteln. Seit über zehn Jahren wird der rohstoffreiche Osten der Demokratischen Republik Kongo von seinen Nachbarstaaten oder stellvertretend ihren Warlords geplündert.

Da der Referent nicht den Anspruch erhebt, mit seinem Blick auf Energie eine monokausale Erklärung für bewaffnete Konflikte und Kriege liefern zu wollen, kann man ihm auch nicht vorhalten, andere kriegsauslösende oder -begünstigende Gründe unberücksichtigt gelassen zu haben. Denn selbstverständlich weiß auch er, daß sehr viel mehr gesellschaftliche Bereiche involviert sind, wenn irgendwo Krieg geführt wird.

Er habe mit seinem Vortrag "verdammt wenig" gewollt, gestand Paulitz sympathischerweise ein. Auf dem heiß umkämpften Schlachtfeld medialer Deutungshoheit über die von ihm angeschnittenen Streitthemen würde man diesen Standpunkt womöglich als Zaghaftigkeit auslegen. Doch wenn ein Vortrag eine so angeregte Diskussion zur Folge hat, wie sie unter den über 50 Besucherinnen und Besuchern entbrannte, kann jenes "verdammt Wenige" vieles, aber ganz sicher nicht geringfügig gewesen sein.

(Der Schattenblick setzt seine Berichterstattung mit einem zweiten Teil, in dem auf einzelne Diskussionsbeiträge näher eingegangen wird, sowie mit einem Interview, das im Anschluß an den Vortrag mit Henrik Paulitz geführt wurde, fort.)


Beleuchtete Vorderfront des vierstöckigen Curio-Hauses - Foto: © 2015 by Schattenblick

Intensive Debatte hinter illuminierter Fassade
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] IPPNW - International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die deutsche Sektion nennt sich IPPNW Deutschland - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.

[2] David Butter: "Syria's Economy - Picking up the Pieces", Juni 2015
https://www.chathamhouse.org/sites/files/chathamhouse/field/field_document/20150623SyriaEconomyButter.pdf

30. November 2015


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