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BERICHT/242: Europas Präferenzen - Schwergewicht Deutschland (SB)


Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

Veranstaltung des Friedensforums am 1. September 2016 im Kieler Gewerkschaftshaus


"Der Hauptfeind steht im eigenen Land!" Mit diesen Worten überschrieb Karl Liebknecht ein Flugblatt, das er im Mai 1915, zehn Monate nach dem Angriff Österreichs auf Serbien, anläßlich des Kriegseintritts Italiens verfaßt hatte. Darin stellte der Marxist und Antimilitarist entschieden klar:

Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt's für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.

Wir wissen uns eins mit dem deutschen Volk - nichts gemein haben wir mit den deutschen Tirpitzen und Falkenhayns, mit der deutschen Regierung der politischen Unterdrückung, der sozialen Knechtung. Nichts für diese, alles für das deutsche Volk. Alles für das internationale Proletariat, um des deutschen Proletariats, um der getretenen Menschheit willen! [1]

Gut hundert Jahre nach diesem Aufruf, den sich die internationalistische Linke als Leitmotiv auf ihre Fahnen schrieb, hat die Klarheit und Dringlichkeit dieser Fokussierung des Widerstands gegen Rüstung und Krieg nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Ungeachtet der beiden verlorenen Weltkriege stehen wieder deutsche Truppen an der russischen Grenze, hat die Expansion nach Osten die bei früheren Waffengängen gescheiterte Doktrin des "Lebensraums" auf innovative Weise erfüllt, ohne daß damit ein Ende dieser Ambitionen in Sicht wäre.

Den unverhohlenen Militarismus der Bundesrepublik in den Fokus der Gegenwehr zu rücken, ist ein Gebot der Stunde, soll die unter seiner maßgeblichen Beteiligung heraufbeschworene Kriegsgefahr in Europa und anderen Weltregionen abgewendet werden. So eng die Berliner Republik in die NATO eingebunden ist und sich zur Partnerschaft mit deren Führungsmacht USA bekennt, so wenig ist sie deren Vasall und bloßer Befehlsempfänger. Die Stärke des mächtigsten Militärbündnisses wie auch des Wirtschaftsraums der Europäischen Union nutzend, strebt Deutschland in Verfolgung eigenständiger Interessen eine ökonomische, politische und militärische Führerschaft weit über die Grenzen Europas hinaus an.


Beim Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Jörg Kronauer
Foto: © 2016 by Schattenblick


Deutscher Führungsanspruch weit über Europa hinaus

Zum traditionellen Antikriegstag am 1. September hielt Jörg Kronauer von German-Foreign-Policy.com [2] auf Einladung des Kieler Friedensforums [3] in Kooperation mit der DGB Region KERN einen Vortrag zum Thema "Die Neujustierung der deutschen Außenpolitik: Auf dem Weg zur Europäischen Militärunion?" im Gewerkschaftshaus. Gestützt auf eine Fülle relevanter Quellen und illustriert durch zahlreiche aufschlußreiche Zitationen dokumentierte er den aktuellen Stand des deutschen Führungsanspruchs wie auch dessen strategischen Entwurf, nichts weniger als gleiche Augenhöhe mit den USA anzustreben. Das mag überambitioniert wenn nicht gar abwegig anmuten, läßt sich aber durchaus mit entsprechenden Aussagen belegen.

So sprach sich die Bundeskanzlerin im Juni für eine signifikante Aufstockung des deutschen Militärhaushalts aus: Es gehe nicht an, daß die Militäretats in der NATO so weit auseinanderklaffen, der deutsche und der US-Militärhaushalt müßten sich einander annähern. Frank-Walter Steinmeier wies in Foreign Affairs, dem Debattenblatt der US-Außenpolitik schlechthin, Deutschlands Partnerschaft mit den USA als einen wesentlichen Faktor aus, doch sei der Irakkrieg der USA gescheitert und die EU stecke ebenfalls in einer Krise. Während aber die Vereinigten Staaten und die EU gestrauchelt seien, habe sich Deutschland behauptet und sei zu einer bedeutenden Macht geworden. Im Moment kämpften sowohl die Vereinigten Staaten als auch Europa darum, global zu führen.

Wo aber von Europa die Rede ist, muß man in wachsendem Maße von deutscher Dominanz sprechen. Als Fundament dieser Stärke wies der Referent insbesondere die durch die Agenda 2010 durchgesetzten enormen Standortvorteile der deutschen Wirtschaft aus, da die Arbeitskosten stabil gehalten oder sogar gesenkt werden konnten, während sie in anderen EU-Staaten und vor allem in Frankreich gestiegen seien, das von Deutschland tendenziell niederkonkurriert werde. Machtpolitisch verliere Frankreich an Einfluß, während sich Deutschland unter den 28 EU-Staaten als Führungsnation etabliert habe, so daß Merkel schon 2011 als "Kanzlerin der EU" kolportiert worden sei. In der Tat habe die Bundeskanzlerin in der Griechenlandkrise, Ukrainekrise und Flüchtlingskrise jeweils den Ton angegeben. Einer aktuellen Untersuchung der Denkfabrik European Council on Foreign Relations zufolge herrsche im Establishment aller Mitgliedsstaaten die Auffassung vor, daß Deutschland die führende Macht in Europa sei.


NATO treibt die Einkreisung Rußlands voran

Wenn mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Wolfgang Ischinger, dem Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, zwei Repräsentanten der deutschen Machteliten vor "Säbelrasseln und Kriegsgeheul" warnen oder die "militärisch gefährlichste Lage in und um Europa seit Ende des Kalten Krieges" im Munde führen, zeuge dies von bitterem Ernst, so der Referent. Und diese deutlichen Aussagen fänden ihre Entsprechung in der militärischen Eskalation. So habe die NATO auf ihrem Gipfel in Newport vor fast zwei Jahren beschlossen, mit der sogenannten "Speerspitze" eine schnell einsetzbare Kampftruppe für Osteuropa aufzubauen. Im Juni sei dann auf dem NATO-Gipfel in Warschau grünes Licht für die Stationierung von Kampfeinheiten in Bataillonsstärke in den baltischen Staaten und Polen gegeben worden. Laut einer Rechnung des polnischen Verteidigungsministers werden dann in Polen einschließlich der dort stationierten US-Einheiten für den NATO-Raketenschirm ständig 10.000 NATO-Soldaten präsent sein. Zudem sei auf dem Gipfel beschlossen worden, das Raketenabwehrsystem in Osteuropa für partiell einsatzfähig zu erklären und das Kommando von den USA zu übernehmen. Beschlossen wurde auch eine stärkere Präsenz im Schwarzmeerraum, also in der russischen Südwestflanke, wodurch die Einkreisung Rußlands weiter vorangetrieben wird.

Als ideologischen Flankenschutz erfand man in Anlehnung an die "Fulda Gap" zu Zeiten des Kalten Krieges die "Lücke von Suwalki", wo ein möglicher russischer Angriff zu erwarten sei. Bei dieser kleinen ostpolnischen Stadt könnten aus Weißrußland kommende russische Truppen zu der Exklave Kaliningrad vorstoßen und Teile Polens und/oder Litauens erobern. Mit dieser Argumentation werde die Isolation Kaliningrads auf den Kopf gestellt und eine Bedrohung an die Wand gemalt, um das eigene Vordringen zu rechtfertigen, so der Referent.

Vergleiche man die militärischen Kapazitäten der 28 NATO-Staaten mit jenen Rußlands, zeichne sich eine klare Überlegenheit der westlichen Truppen ab. Die NATO-Staaten hätten 2015 zusammen 861 Mrd. Dollar für ihre Rüstung ausgegeben, Rußland 66 Mrd. Dollar. 800.000 russischen Soldaten stünden 3,4 Mio. NATO-Soldaten gegenüber. 1400 russische Erdkampfflugzeuge gegenüber 4600 der NATO, 750 zu 4000 Jagdflugzeugen, und diese Gegenüberstellung ließe sich mit demselben Verhältnis in fast allen Bereichen fortsetzen.


Am Tisch mit Blick zum Publikum - Foto: © 2016 by Schattenblick

Siegfried Lauinger (IPPNW) moderiert den Abend
Foto: © 2016 by Schattenblick


Mit allen Mitteln - Domäne Ostpolitik

Weltweit herrscht vielerorts nicht nur Kriegsgefahr, sondern Krieg: Libyen, Irak, Syrien, Bürgerkrieg in der Ukraine, Unruhen in Tunesien und der Türkei. Eine Karte, die die Bertelsmann-Stiftung ins Netz gestellt hat, zeigt einen Feuerring von Konflikten um Europa herum. Längst mischten deutsche Interessen überall mit, hebt Kronauer hervor. Wenngleich der Libyenkrieg vor allem von Frankreich und Großbritannien losgetreten wurde, waren Bundeswehrsoldaten in den Stäben präsent. Der Libyenkrieg machte jenen in Mali erst möglich, weil er die Söldner und Waffen dafür freisetzte. Auch in Syrien war die BRD seit den Anfängen beteiligt. Das strategische Interesse Berlins richte sich jedoch insbesondere auf Osteuropa und das Verhältnis zu Rußland.

Ein wesentliches Instrument der Expansion seien die Assoziierungsabkommen, welche die drei osteuropäischen und die drei südkaukasischen Länder verpflichten, die ökonomischen Normen der EU voll zu übernehmen. Das verbessere nicht nur die Möglichkeiten von EU-Unternehmen, dort Profite zu machen, sondern erzwinge auch eine außen- und militärpolitische Orientierung an der EU. So sei die Ukraine bereits unter der Flagge der EU mit einem Kriegsschiff am Horn von Afrika präsent. Die Assoziierung der Ukraine sei von Deutschland nahezu im Alleingang auf Biegen und Brechen durchgedrückt worden. Rußland habe aufgrund seiner engen industriellen Verflechtung mit der Ukraine mehrfach Gespräche angeboten, damit man einander nicht ins Gehege komme. Diese Angebote seien jedoch immer wieder ausgeschlagen worden, was letztlich zum Konflikt geführt habe.

Wenngleich es in Deutschland Fraktionen gebe, die eine engere Beziehung zu Moskau wünschen, wäre die deutsche Politik auch ohne den Eingriff der USA auf Konfrontation mit Rußland gegangen. Als der Ukrainekonflikt eskaliert sei, habe dies den USA die Gelegenheit geboten, einen Keil zwischen Deutschland und Rußland zu treiben. Ein wesentlicher Strang der US-Ideologiebildung sei das Interesse, ein Bündnis von zusammenhängenden Machtzentren wie insbesondere auf der eurasischen Landmasse zu verhindern, das die eigene Vormachtstellung beenden könnte.

Was die Krim betreffe, könne von einer Annexion keine Rede sein, da es sich um keinen Einmarsch zur militärischen Abspaltung eines Gebietes gehandelt habe. Russische Soldaten befanden sich dort im Rahmen eines Stationierungsvertrags. Völkerrechtskonform sei es jedoch nicht zugegangen, da ein Staat gegen seinen Willen geteilt wurde. Absurd sei der Vorwurf, Rußland habe damit einen Grundsatz der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg zerstört. Man erinnere sich an das deutsche Vorpreschen bei der Zerschlagung Jugoslawiens in den 90er Jahren oder die völkerrechtswidrige Abspaltung des Kosovo im Jahr 2008. Bis zum März 2014 sei es das Monopol des Westens gewesen, Staaten zu zerschlagen. Man müsse sich nicht wundern, wenn Rußland schließlich dasselbe mache, um sich zu wehren.

Die USA haben das 21. Jahrhundert zum pazifischen Jahrhundert ihres Landes erklärt. Mit China werde der nächste große Rivale angegangen, es würden US-Truppen in Australien aufgestockt, neue Stützpunkte errichtet und Soldaten aus anderen Weltregionen abgezogen. Dadurch werde die US-Militärpräsenz im Nahen und Mittleren Osten dünner, die Verbündeten müßten und könnten nachrücken. Die deutsche Außenpolitik begreife das als Chance, in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten auch militärisch Präsenz zu zeigen und womöglich sogar die Rolle der USA zu übernehmen, ohne daß es mit Washington darüber zum Streit kommt.


Mit Kronauers Buch 'Allzeit bereit' neben Transparent mit Friedenstaube - Foto: © 2016 by Schattenblick

Benno Stahn vom Friedensforum empfiehlt Pflichtlektüre
Foto: © 2016 by Schattenblick


Strategische Schmiede und Ideologieproduktion

In Fachpapieren aus Ministerien und Denkfabriken seien ab 2011 die Strategieplanungen vorangetrieben worden. Am 3. Oktober 2013 erklärte Bundespräsident Gauck in seiner Stuttgarter Rede zum Nationalfeiertag:

Was ist nun die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt? Manche Nachbarländer fürchten ja eine starke Rolle Deutschlands, andere Nachbarländer wünschen sie sich. Auch wir selbst schwanken - weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger, aber an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen. Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen.

Wenige Tage nach Gaucks Rede sei "Neue Macht. Neue Verantwortung" [4] in drei Sprachen im Internet veröffentlicht worden. Darin heiße es:

Deutschlands gewachsene Kraft verleiht ihm heute neue Einflußmöglichkeiten. Deutschland hat heute mehr Macht und Einfluß als jedes demokratische Deutschland zuvor. Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen.

Nach dem Brexit formulierten Steinmeier und sein französischer Amtskollege Ayrault in einem gemeinsamen Papier einen "Gestaltungsanspruch" der EU und zwar "nicht nur in der direkten Nachbarschaft, sondern weltweit". "In einem stärker von divergierenden Machtinteressen geprägten internationalen Umfeld sollten Deutschland und Frankreich gemeinsam dafür eintreten, die EU Schritt für Schritt zu einem unabhängigen und globalen Akteur zu entwickeln." Dazu brauche es "eine europäische Sicherheitsstrategie". Diese Agenda bedeute, daß die EU künftig "zivile und militärische Operationen wirksamer planen und durchführen" müsse. Es müsse dazu "eine ständige zivil-militärische Planungs- und Führungsfähigkeit" installiert werden. Man müsse die EU-Einsätze künftig "gemeinsam finanzieren", also kein Plazet der Mitgliedsstaaten mehr einholen, und die Handlungsfähigkeit bei der Inneren Sicherheit stärken. Wer mehr Kriege führe, müsse damit rechnen, daß sie irgendwann zurückschlagen, wie derzeit das Beispiel Frankreich zeige, so der Referent.

Diese Ansätze finden sich heute im "Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr" [5] wieder. Darin steht, die Bundeswehr müsse "die globale Ordnung aktiv mitgestalten". "Deutschland ist bereit, sich früh, entschieden und substantiell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen und Führung zu übernehmen." "Deutschlands sicherheitspolitischer Horizont ist global" und umfaßt "auch den Cyber-, Informations- und Weltraum". Die deutsche Wirtschaft sei "auf gesicherte Rohstoffzufuhr und sichere internationale Transportwege" angewiesen, was neben dem Import auch den Export deutscher Erzeugnisse umfasse. Angesprochen werde im Weißbuch auch die Verlagerung der USA in den pazifischen Raum, wodurch neue Spielräume entstünden. Neu sei, daß Rußland im Weißbuch 2016 erstmals als Rivale erwähnt wird, weil es einen eigenständigen Gestaltungsanspruch für die Weltordnung formuliert, nämlich eine von mehreren Weltmächten zu sein. Dieser russische Machtanspruch werde zurückgewiesen, aber zugleich ein gewisses Interesse der Bundesrepublik an einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Rußland formuliert.

Wie Kronauer unterstreicht, sei dies eine gewachsene, solide und ernstgemeinte Debatte, die zumindest in der veröffentlichungsfähigen Form offen darlege, was die Eliten planten. Das Papier "Neue Macht. Neue Verantwortung" wurde von etwa 50 Personen aus dem Auswärtigen Amt, dem Verteidigungsministerium, aus anderen Ministerien, aus der Wirtschaft, den Denkfabriken und Hochschulen sowie von Jochen Bittner (Zeit) und Nikolas Busse (FAZ) erstellt. Wenn diese Journalisten Kommentare schrieben, bräuchten sie sich nicht zu verbiegen, sondern trügen diese strategische Linie aus eigener Überzeugung mit.

Wie es in dem Papier heißt, werde sich die deutsche Außenpolitik "weiter der gesamten Palette der außenpolitischen Instrumente bedienen, von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Kulturpolitik bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt. Verflechtungen und gegenseitige Abhängigkeit erfordern aber auch neue Ansätze auf innerstaatlicher Ebene." Gefordert werde also eine engere Vernetzung unter den Ressorts, Exekutive, Legislative und wissenschaftliche Institutionen sollten enger zusammengebunden werden. Im Zusammenhang des Weißbuchs werde auch eine Aufwertung des Bundessicherheitsrats diskutiert, der aktuell über Rüstungsexporte entscheidet. Die Tendenz gehe klar in Richtung eines demokratisch nicht kontrollierten Machtzentrums, so der Referent. Auch die Propaganda werde nicht außer acht gelassen: "Es wird notwendig sein, eine engagiertere Kommunikation mit der deutschen Öffentlichkeit" zu führen. "Staatliche Außenpolitik muß lernen, ihre Ziele und Anliegen effektiver zu kommunizieren."

Im Weißbuch wird das Schlagwort "Resilienz" eingeführt, also Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung im Falle künftiger Kriege, damit mögliche Gegenschläge ertragen und die Kriege weiterhin unterstützt werden. Diese Resilienz sei kürzlich im Konzept der Zivilen Verteidigung breit ausformuliert worden: Infrastruktur und Ressourcenabhängigkeit moderner Gesellschaften böten viele Angriffspunkte. Notvorräte, stabile Bausubstanz, "bevorrechtigte Versorgung lebenswichtiger Einrichtungen", Beschlagnahmung von Bauernhöfen unter einer Notstandsverfassung würden offen thematisiert. Wie ernstzunehmen das sei, zeige das Beispiel Frankreich, wo nach dem Anschlag im November 2015 der Notstand ausgerufen wurde. Im Rahmen der LÜKEX-Übungen führten Polizei und Bundeswehr längst gemeinsame Stabsmanöver durch, bei denen Notstandsmaßnahmen durchgespielt würden.


Einbindung von Wissenschaft und Forschung

Mit Blick auf eine stärkere Einbindung von Wissenschaft und Forschung heißt es in "Neue Macht. Neue Verantwortung":

In einem komplexeren Umfeld mit stark verkürzten Reaktionszeiten werden auch bessere kognitive Fähigkeiten verlangt. Wissen, Wahrnehmung, Verständnis, Urteilsvermögen und strategische Vorausschau - das alles kann gelehrt und trainiert werden, aber es erfordert Investitionen auf der Seite des Staates, aber auch bei den Universitäten, Forschungseinrichtungen, Stiftungen und außenpolitischen Institutionen. Ziel muß eine Denklandschaft sein, die nicht nur politische Kreativität ermöglicht und pflegt, sondern die auch imstande ist, politische Optionen schnell und in operationalisierbarer Form zu entwickeln.

Eine erfolgreiche Kriegführung setze weitreichende Kenntnisse über die historischen und aktuellen Verhältnisse in den Zielländern voraus, für die wissenschaftliche Ressourcen mobilisiert werden sollen.

Ein bekanntes Beispiel vor Ort sei das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) [6], das 1983 von Werner Kaltefleiter gegründet und ab Anfang der 90er Jahre von der Stiftung Wissenschaft und Demokratie gefördert worden sei. Diese von einem Dozenten an der Hamburger Universität der Bundeswehr gegründete und aus seinem Vermögen finanzierte Stiftung habe das Ziel, "praxisnahe Politikwissenschaft" zu fördern. Das ISPK widme sich der "Analyse sicherheitspolitischer Herausforderungen" und habe sich zur Aufgabe gemacht, einen "policy-orientierten Beitrag zum sicherheitspolitischen Diskurs in Deutschland zu leisten". Zu den Partnern des ISPK gehören Chatham House, einer der großen internationelen Think Tanks in London, wie auch US-Institute mit neokonservativem Einschlag und die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Das ISPK führe eine ganze Reihe von Projekten durch und arbeite auch mit einem in Kiel ansässigen Exzellenzzentrum der NATO für Confined and Shallow Waters (also Kriegsführung in Küstengewässern) zusammen. Es habe im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums unter anderem Konzepte für die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan und das sicherheitspolitische Umfeld der Bundesrepublik entwickelt. Auch sei das ISPK ins Konferenzgeschäft eingestiegen und veranstalte seit 2015 die sicherheitspolitische Kiel Conference. 2015 war das Thema Ostsee, 2016 ging es um den Nordpol, also Ressourcen und kürzere Seewege.

Der Leiter des Instituts, Joachim Krause, sei ein Hardliner, der 2012 in der Iran-Debatte eine Intervention nicht ausgeschlossen habe. Im Sommer 2014 habe er im Ukraine-Konflikt für eine deutsche Eskalationsstrategie plädiert und 2014 im Kontext einer außenpolitischen Grundsatzdebatte erklärt, in den vergangenen 15 Jahren habe "die Diskussion über die Rolle militärischer Instrumente in der Außenpolitik eine pazifistische Ideologisierung erfahren, die sich mittlerweile wie Mehltau über die außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands legt".


Dokument zum Matrosenaufstand 1918 in Schaukasten - Foto: © 2016 by Schattenblick

Erinnerung und Verpflichtung
Foto: © 2016 by Schattenblick


Übertragsflächen der Antikriegsbewegung

Wenn Krause eine "pazifistische Ideologisierung" geißelt, liefert er keineswegs einen aussagekräftigen Zustandsbericht der bundesdeutschen Gesellschaft. Vielmehr schwingt er die Abrißbirne, um die verbliebenen Reste dezidierter Kriegsgegnerschaft zu schleifen, während die Friedensbewegung in Abwehrkämpfen Boden verliert. Um dennoch Tritt zu fassen und eine offensive Antikriegsbewegung zu vitalisieren, dürfte Liebknechts Losung in einer Zuspitzung nicht zuletzt auf das unmittelbare Umfeld von Nutzen sein, wie dies auch in der Diskussion angeregt wurde: Der Hauptfeind steht (auch) in der eigenen Stadt! Kiel beherbergt das ISPK und das Exzellenzzentrum der NATO, Kiel ist Rüstungsstandort und Stützpunkt der Bundesmarine, die Bundeswehr wirbt offen und verdeckt in den Schulen, bietet vielerorts Berufsberatung an. An Heimatfronten, dem dritten Anlauf zum deutschlandgeführten Weltkrieg Paroli zu bieten, mangelt es nicht.

Der Widerstand gegen die Rüstungsproduktion führt geradewegs in die Konfrontation mit manchen Gewerkschaften, die den Erhalt von Arbeitsplätzen ins Feld führen und für Diskussionen um Konversion erst noch gewonnen werden müssen. Nicht zu vergessen die Warnung an die Adresse der Linkspartei in deren Debatte um Rot-Rot-Grün: Wenn ihr das macht, werdet ihr Kriegstreiber wie SPD und Grüne und habt euch mangels Eigenständigkeit selbst entsorgt!

Im 1907 gegründeten Kieler Gewerkschaftshaus tagte Anfang November 1918 der Arbeiter- und Soldatenrat. Dank der Novemberrevolution mußte Scheidemann die Republik ausrufen und der Kaiser das Land verlassen. Der Konter reaktionärer Kräfte zerschlug jedoch gewaltsam alle Ansätze, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen, und war damit ein Wegbereiter des nächsten Weltkriegs, der von deutschem Boden ausging. Der diesjährige Aufruf des DGB zum 1. September steht unter dem Motto "Nie wieder Krieg - nie wieder Faschismus!". So wegweisend der Schwur von Buchenwald in seinem historischen Kontext war, könnte doch ein Lernen aus der Geschichte nahelegen, daß imperialistische Expansion der Motor beider Weltkriege war und sich der jeweils aggressivsten Staatlichkeit bediente. Wie einst im Kaiserreich und dann im NS-Staat gehen die deutschen Eliten heute im Gewand der parlamentarischen Demokratie daran, ihren Führungsanspruch mit Waffengewalt durchzusetzen.


Fußnoten:

[1] http://www.mlwerke.de/kl/kl_001.htm

[2] http://www.german-foreign-policy.com

[3] http://www.kieler-friedensforum.de

[4] https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/projekt_papiere/DeutAussenSicherhpol_SWP_GMF_2013.pdf

[5] https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/04_SB8K8xLLM9MSSzPy8xBz9CP3I5EyrpHK9pNyydL3y1Mzi4qTS5Ay9lPzyvJz8xJRi_YJsR0UAIHdqGQ!!/

[6] https://www.ispk.uni-kiel.de/de


8. September 2016


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