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BERICHT/263: Übergangskritik - es bleibt die Arbeit ... (SB)



Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt, ist nach allen Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht umgekehrt. Die Wissenschaft, die die unbelebten Glieder der Maschinerie zwingt, durch ihre Konstruktion zweckgemäß als Automat zu wirken, existiert nicht im Bewußtsein des Arbeiters, sondern wirkt durch die Maschine als fremde Macht auf ihn, als Macht der Maschine selbst.
aus dem "Maschinenfragment" von Karl Marx

Wenn der britische Journalist und Autor Paul Mason die anwachsende Fülle digitaler Produktivkräfte gegen die herrschende Eigentumsordnung stellt und darin "Grundrisse einer kommenden Ökonomie" des "Postkapitalismus", so der Titel seines vor einem Jahr auf deutsch erschienenen Buches, erkennt, dann tut er dies auf gänzlich undialektische Weise. Die in informationstechnischen Systemen angelegten Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung sind Ergebnis der kapitalistischen Eigentumsordnung, die aufzuheben mehr bedarf als eine Art technologischer Universalschlüssel, der keineswegs das Ergebnis eines gesellschaftlichen Zwängen und Interessen enthobenen Erfindergenius ist. Die sogenannte mikroelektronische Revolution entspringt, wie sollte es bei großdimensionierten, auf staatliche Forschungsförderung und komplexe Infrastrukturen angewiesenen technologischen Innovationen anders sein, der Rationalisierungslogik patriarchaler Wissenschaft, fordistischer Industrien und imperialistischer Kriegführung.

Den Kostenfaktor Arbeit in bislang ungekannte Tiefen des Lohnsystems zu drücken und die Sozialkontrolle der Gesellschaft so effizient zu machen, daß ihre wachstumsorientierte Reproduktion unbehindert vonstatten gehen kann, sind gänzlich triviale Zwecke jener technologischen Wunderwerke, als die zumindest ältere Menschen die zugleich immer kleiner und leistungsfähiger werdenden Computer wahrnehmen mögen. Aus den bei der Vervielfältigung informationstechnisch erzeugter Artefakte auftretenden Skaleneffekten jedoch den Schluß zu ziehen, hier hätten Technik und Wissenschaft ein datengeneriertes und algorithmengesteuertes Füllhorn geschaffen, das die Produktionskosten gegen null fallen lasse, läßt fast alles außer Acht, was zur sozialen und stofflichen Reproduktion der Gesellschaft über die kognitive Impulsierung ihrer Subjekte hinaus benötigt wird.

Zumindest liefert Paul Masons steile These, informationstechnisch entwickelte Produktivkräfte könnten die herrschenden Produktionsverhältnisse sprengen, indem sie menschliche Arbeitskraft überflüssig machten und dennoch Güter menschlichen Bedarfs bereitstellten, einen guten Anlaß für die kritische Auseinandersetzung mit den Perspektiven einer gesellschaftlichen Entwicklung, deren multidimensionale globale Krise aufs innigste mit der vermeintlichen Alternativlosigkeit ihrer geldvermittelten Tauschverhältnisse verknüpft ist. So widmete sich die Tagung "Am Sterbebett des Kapitalismus?" auch anhand seines Beispiels dem erklärten Ziel, aktuelle "Veröffentlichungen zur Krise des Kapitalismus, der darin enthaltenen Analysen, Alternativvorstellungen und Subjekte einer Transformation" auf ihre Stichhaltigkeit hin zu untersuchen. In einem von dem IT-Experten Timo Daum moderierten Gespräch untersuchten der Politikwissenschaftler Georg Fülberth und der Informatiker Rainer Fischbach am 4. März 2017 am Hauptsitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin-Friedrichshain, was von Masons postkapitalistischer Vision zu halten sei.


Podium mit Rainer Fischbach und Georg Fülberth - Foto: © 2017 by Schattenblick

Moderator Timo Daum präsentiert Band 42 der MEW-Ausgabe, der die "Grundrisse" enthält
Foto: © 2017 by Schattenblick

Der technologische Angriff auf die Arbeitsgesellschaft

Zum Einstieg faßte Timo Daum den Inhalt des sogenannten Maschinenfragments, auf das sich Masons Kernthese bezieht, zusammen. Karl Marx hat es im Rahmen der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie zwischen 1857 und 1859 verfaßt, und es dürfte kein Zufall sein, daß die deutsche Ausgabe des Werks Paul Masons sich in ihrem Titel auf dieses für die marxistische Linke bedeutsame Manuskript bezieht. In diesem Gedankenexperiment fragte sich Marx, worauf die Tendenz des Kapitals, den Produktionsprozeß mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik zwecks erfolgreicher Durchsetzung seiner Akkumulationsziele im Rahmen der Marktkonkurrenz zu optimieren, hinauslaufe. Im Endeffekt, so postuliert Marx, könnten die wissenschaftlichen und technischen Produktivkräfte über ihre Eigenschaft, eines unter mehreren Mitteln der Ermöglichung produktiver menschlicher Arbeit zu sein, in Sinne dessen hinausgehen, daß sie als automatisches System selbst zum zentralen Motor industrieller Produktion würden.

Liest man im Maschinenfragment nach, dann wird deutlich, daß Masons Vision von einem "Zeitalter der befreiten Maschinen, einem Zeitalter, in dem Gebrauchswerte nicht länger Träger von Tauschwert sein müssen", dieses Gedankenexperiment auf recht affirmative Weise in Anspruch nimmt. Stellt sich laut Mason für einen Marxismus des 21. Jahrhunderts die Aufgabe zu untersuchen, "wie der technologische Wandel den Preismechanismus auflöst, die Verbindung von Lohn und Leistung immer weiter lockert und damit herrschende Formen des Eigentums und der Organisation infrage stellt" [1], so weist Marx dem Prozeß der Subsumierung der Arbeit unter die Maschinerie, die "als die adäquateste Form des Kapitals überhaupt" erscheine [2], vor allem den Charakter eines Gewaltverhältnisses nach. Wie ein roter Faden durchzieht die Unterwerfung lebendiger Arbeit unter den gegenständlichen Charakter der Maschine seine Schilderung der Tendenz des Kapitals, der Produktion wissenschaftlichen Charakter zu geben und die unmittelbare Arbeit zu einem bloßen Moment dieses Prozesses herabzusetzen.

Die Aneignung der Arbeit durch das Kapital wird nicht einfach aufgehoben, weil die digitale Maschinerie immer weitere Teile des Lebens mit Kontroll- und Steuerungsfunktionen durchzieht, ganz im Gegenteil. Die neue Sozialkultur des "always on" greift auf bislang für Verwertungszwecke unerschlossene Zeiten zu, in denen der Mensch noch unverfügt seinen Interessen nachgehen konnte, sie perforiert die Grenze zwischen Berufs- und Privatleben, sie rekrutiert seine kulturellen Vorlieben in sozialen Netzwerken und beim Gaming für kommerziell verwertbaren Konsum und richtet ihn in bis dato ungekannter Totalität mit den virtuellen Agenten verlangter Selbstoptimierung auf die Effizienzziele der digitalen Arbeitsgesellschaft zu. Mit dem Smartphone als "Fernbedienung fürs tägliche Leben" [3] wird der Mensch in Assistenzsysteme eingebettet, deren prothetische Funktionalitäten ihn potentiell entmündigen und möglicher Beobachtung und Bewertung durch Dritte aussetzen. Ob durch die Erfassung der Arbeitsleistung im Job, die Lokalisationsdaten des Mobiltelefons, die Metadaten des E-Mail-Verkehrs, die Suchmaschinenanfragen auf dem PC, die Zuschaueranalyse des kamerabewehrten Fernsehers oder die psychophysische Evaluation des Selftracking akkumuliert, Daten zur weitergehenden Verwertung aller Lebens- und Sterbenslagen werden in Hülle und Fülle erhoben und vielleicht einmal auf so widrige Weise ausgewertet, daß die demonstrative Arglosigkeit des vernetzten Marktsubjekts sich als kardinale Dummheit herausstellt.

All dies findet in einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft statt, die die programmatische Verbilligung des Kostenfaktors Arbeit nicht betreibt, um die Menschen vom Erwerbszwang zu befreien, sondern ihnen noch mehr unbezahlte Arbeitszeit aufzubürden. Wo immer die Produktivität so niedrig ist, daß mechanisierte Alternativen etwa bei der Erntearbeit teurer als bloße Sklavenjobs sind, wird auf letztere zurückgegriffen. Auch Mason ist sich der anwachsenden Ausbeutung durch Arbeit und der monopolistischen Struktur kapitalistischer Herrschaft bewußt. Um so schwerer wiegt die von ihm entworfene Perspektive, "wir" seien technologisch "auf dem Weg zu kostenlosen Gütern, nichtmessbarer Arbeit, exponentiellen Produktivitätszuwächsen und der umfassenden Automatisierung physikalischer Prozesse" [4]. Er suggeriert damit eine technologische Lösung für gesellschaftliche Eigentumsansprüche und Machtpraktiken, die für die digitale Maschinerie wenn nicht konstitutiv sind, dann zumindest durch sie manifest werden. Dieser Lesart der digitalisierten Arbeitsgesellschaft fehlt es an prinzipieller Technologie- und Wissenschaftskritik, womit Mason generellen Nachholbedarf für eine Linke markiert, deren herrschaftskritischer Blick nicht nur in seinem Fall von den Ambivalenzen eigener gesellschaftlicher Beteiligung getrübt sein kann. Der sozialrevolutionäre Autor und Aktivist Detlef Hartmann spricht von einem "technologischen Angriff der Informationstechnologien" [5], dessen entscheidende Akteuren sich ausdrücklich auf den Taylorismus beriefen, also die Unterwerfung des Menschen unter die Arbeit im erweiterten Sinne einer "technologischen Aneignung von Lebensprozessen".


Beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Rainer Fischbach
Foto: © 2017 by Schattenblick

Nicht alles menschliche Wissen läßt sich binär codieren

Rainer Fischbach hat der Kritik an Masons Werk eine eigene Schrift [6] gewidmet und bekennt gleich zu Beginn der Diskussion, "herausragend an diesem Buch (sei) die Schlichtheit des Gedankens, der das Ganze tragen soll". Das hält ihn nicht davon ab, Masons Postulat eines neuen historischen Subjekts, das er network humanity nennt, oder die These von einer informationstechnisch ermöglichten Produktivkraftentwicklung, die kostenlose Güter und Dienstleistungen zu Grenzkosten nahe Null bereitstelle, was der Tendenz nach auch die materielle Produktion betreffe, als irreal zu verwerfen. Letzteres nennt Fischbach den Grenzkosten-Fehlschluß, denn Kosten und Grenzkosten seien nicht das gleiche. Auch im informationstechnischen Bereich könne der Betrieb einer Anlage, die Wartung einer Software oder der Transport großer Datenmengen hohe Kosten erzeugen. Weder der Strom für die Rechner noch deren Produktion ist kostenlos, wie überhaupt der Blick auf die materiellen Voraussetzungen der sogenannten Informationsgesellschaft deutlich macht, das deren Bereitstellung nicht zum Nulltarif zu haben ist.

Das gelte, so Fischbach, auch für die perspektivische Verfügbarkeit von fast kostenloser "grüner Energie". Selbst Solarpanele erzeugen Energiekosten und erbringen ein begrenztes Quantum an Strom, der wiederum zu bestimmten Zeiten und bestimmten Orten zur Verfügung gestellt werden muß, was weitere Kosten verursacht. Für Fischbach ist die Energiewende, wie sie im Erneuerbaren-Energie-Gesetz (EEG) in Angriff genommen wurde, eine technologische Sackgasse, die nicht über den Kapitalismus hinausführen könne. Auch brauchten metropolitane Agglomerationen wie Berlin oder Schanghai einen Energiestrom von einer Leistungsdichte, den man aus der näheren Umgebung niemals mit den bekannten Formen regenerierbarer Energien erzeugen könne.

Mason verstehe den Unterschied zwischen Modell und Realität nicht, so Fischbachs Kritik an dessen Behauptung, am Computer könnten Entwicklungs- und Arbeitsprozesse unter erheblicher Einsparung von Kosten und Personal mit gleichwertigen Ergebnissen simuliert werden. Es gebe stets eine Modell-Realitätsdifferenz, weil man immer abstrahieren und dabei bestimmte Dinge weglassen müsse. Wo das Mensch-Natur-Verhältnis bereits für Marx zentral gewesen sei, denke Mason schon von seinem Grundkonzept her völlig unökologisch.

Zwar sei die industrielle Fertigung schon hochgradig automatisiert, so Fischbachs Kommentar zu Masons Verweis auf das Maschinenfragment, aber sie bedürfe als soziotechnisches System nach wie vor des Menschen und eines großen Maßes ganz speziell situierten und implizierten Wissens, was nirgendwo explizit aufgeschrieben und auch nur digitalisiert worden sei. Wissenschaft werde keineswegs unmittelbar produktiv, diese Vorstellung sei Lichtjahre von der industriellen Realität entfernt, so Fischbach, dessen Vortrag hier nur schlaglichtartig wiedergegeben werden kann.


Beim Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Georg Fülberth
Foto: © 2017 by Schattenblick

Warum auf den Postkapitalismus warten?

Georg Fülberth, der Masons postkapitalistischen Entwurf bereits in der jungen Welt [7] einer skeptischen Untersuchung unterzogen hat, zeigt sich zwar beeindruckt von der Wissensfülle des britischen Journalisten, gibt aber auch zu bedenken, daß die von ihm in Anspruch genommene Wissens-Allmende, also die extensive Verfügbarkeit digitalisierter Quellen und Informationen, die Gefahr einer Verallgemeinerung in sich berge. Nicht alle Menschen verfügen über Zugang zu diesem Wissen, und beurteile man die Welt aus der Perspektive dieses Privilegs heraus, könne man leicht falsch liegen. Mason verallgemeinert zudem nicht weniger, wenn er die "vernetzte Menschheit" zum heutigen Subjekt der Geschichte erklärt und sich damit an die postoperaistische Lesart einer amorphen, von Klassengegensätzen nur randläufig beeinträchtigten Multitude anschließt.

Mit der Idealisierung des Netzwerkes, das Mason der Hierarchie zentralistischer und monopolistischer Strukturen gegenüberstellt, befindet sich der britische Journalist in der großen Gesellschaft all jener, die sich anschlußfähig für die neoliberale Adaption emanzipatorischer Konzepte zeigen. Wenn von "flachen Hierarchien" gesprochen wird, um den Imperativ des Arbeitszwangs oberflächlich zu entschärfen und im Kern wirkmächtiger zu machen, oder "Schwarmintelligenz" postuliert wird, um kollektiver Handlungsfähigkeit den Zahn widerständiger Selbstorganisation zu ziehen, zeigt die instrumentelle Intelligenz herrschender Interessen, was die postmoderne Linken dazu beigetragen hat, den Schmerz der Ohnmacht und den daraus erwachsenden Widerstand in die Kapitulation vor angeblich unabänderlichen Verhältnissen zu transformieren.

Masons Erklärung, der Kapitalismus sei am Ende, weil die Potentiale der digitalen Revolution an die Grenzen bisheriger Eigentumsordnungen stoßen, hält Fülberth in Hinsicht auf die bislang ausgebliebene Reinigungskrise des fünften Kondratjew-Zyklus für nicht alternativlos. Obwohl die Konjunkturen des Kapitalismus laut dem sowjetischen Ökonomen Nikolai Kondratjew in langen Wellen verlaufen, an deren Ende jeweils eine krisenhafte Erneuerung des Wirtschaftssystems stehe, habe sich die jüngste Krise seit zehn Jahren verstetigt, und kein Ende sei in Sicht. Die Erneuerung durch eine Reinigungskrise stehe noch aus, wofür es verschiedene Gründe gebe, die zumindest belegten, daß Masons Ausblick auf den Postkapitalismus in seiner faktischen Begründung nicht zutreffen müsse.

Zu Masons Inanspruchnahme des Maschinenfragments als Manifest für einen Wandel zum Postkapitalismus, die sich auf technologischem Weg vollziehe, erinnert Fülberth an die "Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums", die er anaolog zur Idee einer automatischen Fabrik als Ergebnis einer revolutionären Entwicklung sieht. In der Kritik des Gothaer Programms von 1875 fließen diese voller erst in "einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist". Erst dann könne "der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" (8). Wäre Masons automatische Fabrik herstellbar, würde sie zu zu einer politischen Wirkkraft nur dann, wenn es zu einer Revolution käme, die sich nicht wie bei ihm auf technologischem Weg vollziehe, denn dann fehle das gesellschaftliche Moment ihrer Verwirklichung ebenso wie das Subjekt, das in Form einer vernetzten Menschheit zumindest fragwürdig sei.

In seinem an unterhaltsamer Selbstironie und überraschenden historischen Analogien nicht sparenden Vortrag lastet Fülberth Mason zudem an, sich der schon bei Marx bewährten Technik zu bedienen, von langen Übergangsprozessen zu sprechen, die aus subjektiver Sicht aufgrund begrenzter Lebenszeit nicht überprüfbar sind. Abschließend legt er ein Wort für Thomas Piketty ein, dessen 2014 auf deutsch veröffentlichtes Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" er als das trotz seiner überzeugenden Krisenerklärung politisch erfolgloseste Buch der letzten Jahre bezeichnet. Obschon es sehr gefeiert wurde, habe sich seine Krisenerklärung einer, so Fülberth in eigenen Worten, Geschichte der ständigen Überakkumulation seit dem 19. Jahrhundert, bei der sich nun die Frage stelle, wie sie abzubauen sei, als völlig wirkungslos erwiesen. Beim Grundübel des Kapitalismus, der Überakkumulation, spiele eine technologische Krise keine Rolle, so daß ihn Thomas Piketty mit seiner Sicht auf die herrschende Entwicklung weit mehr überzeugt habe als Paul Mason.

Rainer Fischbach goß abschließend, wie mehrmals an diesem Samstagmorgen, noch etwas Wasser in den Wein. Er halte den Begriff der Überakkumulation nicht für hilfreich, denn ein großer Teil des technologischen Fortschritts bestehe heute darin, Kapital einzusparen. Die Ersetzung menschlicher Arbeit durch maschinelle Energie stagniere eher, wirkliche Produktivitätsfortschritte fänden heute eher auf technologisch-organisatorischer Ebene bei Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch externe Energie statt. Auch seien die großen Produktivitätsfortschritte in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgt, während sie seit Ende der 1970er im großen und ganzen immer unter zwei Prozent lägen. Selbst wenn man diese Rate in den fortgeschrittenen Industrienationen erreiche, was er nicht glaube, würde es 35 Jahre dauern, bis man die Produktivität verdoppelt hat. Das habe Mason nicht bedacht, wie auch die allgemein erwartete Robotisierung humaner Dienstleistungen nicht so stürmisch wie prognostiziert verlaufen werde, da es sich einfach nicht rentiere. Er halte die These, daß Roboter die Menschen arbeitslos machten, für falsch. Arbeitslosigkeit entstehe vor allem dadurch, daß die Löhne nicht der Produktivität entsprechen. Wenn diese zunehme, könne man entweder auf diesem Niveau bleiben und die Arbeitszeit verkürzen, oder man müsse die Löhne erhöhen, dann gebe es auch keine Arbeitslosigkeit. Mason gehe in seinem ökonomischen Denken nirgendwo über die Neoklassik hinaus und verfolge keinen Ansatz makroökonomischen Denkens, wie man es bei Michal Kalecki oder John Maynard Keynes finde, so Fischbachs abschließende Kritik an dem leider nicht anwesenden Paul Mason.


Podium mit Transparent von Helle Panke - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ein streitbares Publikum für eine fruchtbare Debatte
Foto: © 2017 by Schattenblick

Auf dem Boden materialistischer Argumente

Es folgte eine angeregte Diskussion, in der das Publikum zeigte, daß es von Anfang an auf Augenhöhe hätte mitdiskutieren können. Weil der digitalisierte Postkapitalismus an die Verfügbarkeit eines Internetzugangs oder entsprechender Kommunikationsmittel gebunden sei, gehe er an der Lebensrealität von vielen Millionen Menschen vorbei, so ein Zuhörer. Er halte die Idee, in einen Postkapitalismus quasi hineinzuschlittern, ohne daß es zu einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft komme, für abstrakt. Zudem sei die Wissens-Allmende im Internet kein herrschaftsfreier Raum, denn Staat und Kapital arbeiteten daran, den Zugang zu Wissen zu beschränken und der Marktlogik zu unterwerfen.

Seit 100 Jahren sei das Kapital monopolistisch organisiert, Bankkapital und Industriekapital verschmelzen miteinander, daran habe auch das Ende der Kondratjew-Zyklen oder technische Innovationen nichts geändert. Der sogenannte Prosumer, also der Mensch, der gleichzeitig produziert und konsumiert, sei ein neoliberaler Kampfbegriff. Auch Informationen basieren auf Produktionskosten, der Prosumer muß einen Computer kaufen und sie selbst mit seiner Arbeitskraft erzeugen. Indem diese Kosten für die Plattformanbieter externalisiert würden, könnten die IT-Konzerne noch mehr Gewinn aus ihrem Angebot ziehen, als wenn sie für die Produktion der Informationen bezahlten. Wenn die Linke sich auf den von Mason ausgeleuchteten Weg begebe, könne sie keine Antworten mehr auf die grundlegenden Probleme des Kapitalismus geben.

Eine Mathematikerin im Publikum hält die These, daß durch die Digitalisierung die Arbeit ausgehe, für irreführend, weil bislang noch jedes Produkt, daß sie in die Hand nehme, darauf beruhe. Insbesondere wende sie sich gegen die eurozentristische Perspektive, die in dieser These stecke. Man solle die relativ größerwerdende Bedeutung Europas nicht mit dem Niedergang des Kapitalismus an sich verwechseln, denn dieser beruhe auf all der elenden Arbeit, die bei uns nicht geleistet wird. Zudem könne sie den fortschrittlichen Charakter der technischen Prozesse in der Digitalisierung nicht erkennen. Zwar werde der technische Fortschritt durch das Begriffsverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen angeregt, aber die sozialen Verhältnisse müßten viel expliziter in die Technik integriert werden. Diese Widersprüche gelte es zu analysieren, und zwar weniger unter dem Begriffspaar von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als in der Begrifflichkeit der Soziotechnik.

Ihre Disziplin der Mathematik sei so universell, daß sie quasi die Allmende an und für sich sei. Dennoch wisse jeder Wissenschaftler, daß in der gesamten Begriffsentwicklung der Naturwissenschaften die Funktionalität auf die Produktion von Waren implizit vorhanden sei, während sich für sehr wichtige ökologische Produktionsgrundlagen keine notwendige Begrifflichkeit in den Naturwissenschaften finde. Auch das sei ein Widerspruchshoriziont, der mit Digitalisierung nichts zu tun habe, endete der mit viel Applaus bedachte Beitrag der Disputantin.

Rainer Fischbach präsentierte zuguterletzt eine kleine Utopie, indem er zum einen dazu aufforderte, den subjektiven Faktor wahrzunehmen, zu entdecken und zu entwickeln, anstatt die Vereinzelung der Produzenten immer weiter zu treiben. Diesem subjektiven Faktor gegenüber finde etwas statt, was er als Kommunismus der Artefakte bezeichnete. An diesem Punkt, der im Internet der Dinge keineswegs verwirklicht sei, stoße die Technologie an die Grenzen der privatwirtschaftlichen Verfassung, so Fiscbach. Die Eigentumsfrage zu stellen kann für kommunistisch inspirierte Menschen nie verkehrt sein, und das um so mehr inmitten einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Weichenstellungen von höchst folgenschwerer Art.


Podium mit Publikum - Foto: © 2017 by Schattenblick

Panel "Digitaler Postkapitalismus" auf der Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus"
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/re-das-kapital-4-6-der-niedergang-des-kapitalismus.1184.de.html?dram:article_id=370390

[2] http://www.wildcat-www.de/dossiers/empire/maschinenfragment.pdf

[3] REZENSION/593: Markus Lause und Peter Wippermann - Leben im Schwarm (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar593.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/re-das-kapital-4-6-der-niedergang-des-kapitalismus.1184.de.html?dram:article_id=370390

[5] Detlef Hartmann: An alle Produktivkraft-, Technik- und Forschrittsfetischisten
https://techno.umsganze.org/kritische-stellungnahmen/#hartmann

[6] REZENSION/669: Rainer Fischbach - Die schöne Utopie (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar669.html

[7] https://www.jungewelt.de/artikel/290169.fata-morgana.html

[8] http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_013.htm


Beiträge zur Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/257: Übergangskritik - den Kapitalismus entschärfen ... (SB)
BERICHT/258: Übergangskritik - der umbautheoretische Konsens ... (SB)
BERICHT/259: Übergangskritik - Besinnung auf soziale Tugenden ... (SB)
BERICHT/261: Übergangskritik - sozialökologisch versus Grünkapital ... (SB)
INTERVIEW/340: Übergangskritik - Wandlungsthesen ...    Michael Brie im Gespräch (SB)
INTERVIEW/341: Übergangskritik - Die Spielart der Fronten ...    Franziska Wiethold im Gespräch (SB)
INTERVIEW/342: Übergangskritik - der Geschichte verbunden ...    Alexandra Wischnewski im Gespräch (SB)
INTERVIEW/345: Übergangskritik - Fragen an Eigentum, Besitz und Umwelt ...    Tadzio Müller im Gespräch (SB)
INTERVIEW/347: Übergangskritik - Friedensgebot des Raubes ...    Markus Wissen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/348: Übergangskritik - Alter, Wert und Gegenwert ...    Georg Fülberth im Gespräch (SB)


28. April 2017


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