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BERICHT/274: Initiativvorschläge - auf die Füße gestellt ... (2) (SB)



"Denn zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. Könnte ich mir aber bis ins letzte die Eigenart jenes Blickes erklären, der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen, so hätte ich damit auch das Wesen des grossen Wahnsinns im Dritten Reich erklärt.
Was wir alle über die Deutschen dachten und sagten, war in dem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: 'Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.'"

Primo Levi - Ist das ein Mensch?

In seinem autobiografischen Bericht "Ist das ein Mensch?" [1] beschreibt der KZ-Überlebende Primo Levi den Blick des wissenschaftlichen Leiters der chemischen Abteilung des Lagers Auschwitz-Monowitz, Dr. Pannwitz, als dieser über Leben und Tod des Häftlings mit der Nummer 174517 befindet. Vom Fachwissen des als Chemiker ausgebildeten italienischen Juden hängt ab, ob er gleich ermordet wird oder sich dem Tod erst einmal durch eine Arbeitsstelle in den zum Konzern I. G. Farben gehörigen Buna-Werk des Lagers vorerst entziehen kann. Obwohl auch da nicht seines Lebens sicher, überlebte Levi Auschwitz, weil er für die deutsche Kriegsindustrie verwertbar war.

Mit der Beschreibung dieses Aquariumblicks traf er eine elementare Aussage zum Gewaltverhältnis zwischen Menschen. Der andere könnte nicht fremder sein als in dem Augenblick, in dem er sich zugunsten des eigenen Überlebens vollständig vom Schicksal des ihm ausgelieferten Menschen trennt und ihn mit tödlicher Konsequenz zum Nichtmenschen erklärt. Die von dem 1987 verstorbenen Levi in seinem letzten Buch "Die Untergegangenen und die Geretteten" ausgemachte "Grauzone", durch die sich eine "lange Verbindungskette zwischen Opfern und Henkern" ziehe, läßt ahnen, daß der Überlebenskampf auch unter gemeinsam von übermächtiger Gewalt Betroffenen toben kann, wenn sie nicht wahrhaben wollen, daß vereinter Widerstand auch mit sehr geringer Erfolgsaussicht stets besser ist, als sich allein zur Schlachtbank führen zu lassen.

Distanzierung, ob aus der Höhe herrschaftlicher Verfügungsgewalt oder in der bedrohlichen Nähe der Gefahr, erweist sich als zentrales Manöver einer Überlebenssicherung, die den anderen Menschen nicht nur alleine läßt, sondern sehenden Auges der größeren Gefahr aussetzt. Sie wird auch in jener kategorialen Aberkennung des Menschseins manifest, mit Hilfe derer medizinische und biopolitische Maßnahmen begründet werden, denen sich der einzelne zum angeblichen Wohl des größeren Ganzen zu unterwerfen hat. Im Unterschied zum rassistischen Genozid an den europäischen Juden kommt der von utilitaristischer Verteilungslogik bestimmte Tod auf leisen Sohlen daher. Das vorgeblich freiwillige Ableben alter oder behinderter Menschen im Rahmen der um sich greifenden modernen Euthanasie soll ebenso zu ihrem Besten sein wie die mit humangenetischer Intervention erfolgende Verhinderung mutmaßlich deformierter Kinder. Um den Wunsch, mit fremder Hilfe vorzeitig aus dem Leben zu scheiden oder gar nicht erst auf die Welt zu kommen, zu dokumentieren, finden sich stets Betroffene, die bezeugen, was nicht bezeugt werden kann.

Im Blick des Dr. Pannwitz tritt das Nutzendenken einer bürgerlichen Vernunft hervor, das bei aller ärztlichen Ethik auch im diagnostischen Blick des Arztes liegt, wenn die betriebswirtschaftliche Logik kapitalistischer Vergesellschaftung seine medizinische Urteilsfähigkeit leitet. Wo das berufsständische Interesse der Ärzteschaft im Rahmen der sogenannten Gesundheitswirtschaft in die gesamtgesellschaftliche Reichtumsproduktion eingebunden ist, kann die Urteilsfähigkeit des Arztes von Kosten-Nutzen-Erwägungen bestimmt sein, die seinen diagnostischen Blick nicht trüben, sondern seinem Zweck zuführen.

Vollzieht "dia-gnosis" als unterscheidende Erkenntnis [2] die klassengesellschaftlichen Zwecke medizinaladministrativer Selektion, dann wird der zu versorgende Mensch Zuständigkeiten aller Art bis hin zur Zwangsverwahrung in psychiatrischen Anstalten überantwortet, er wird hinsichtlich seiner Lebensführung mit disziplinatorischem Druck gemaßregelt oder für die weitere gesellschaftliche Verwendungsfähigkeit disqualifiziert. Eingebunden in das standesgemäße Selbstverständnis einer hochrangigen Profession und orientiert an den Zielen gesellschaftlicher Produktivität wird über den anderen Menschen verfügt, anstatt mit ihm zusammen für ein besseres Leben zu streiten. Über den anderen zu urteilen und sich von ihm als Patienten zu unterscheiden versetzt den Arzt in den Sachwalter eines Herrschaftsverhältnisses, dem der diagnostische Blick "sozial gesehen, der Dolch ist, der ins Herz der Gnosis getrieben wird. Die Diagnose ist der Mord an der Möglichkeit, den anderen Menschen kennenzulernen, ein Mord, verwirklicht durch die Verdrängung der Realität dieses Menschen in die Vorhölle einer sozialen Pseudo-Objektivität." [3]

Es gibt also triftige politische Gründe für eine Kritik der arbeitsgesellschaftlichen Institutionalisierung der medizinischen Berufe und die daraus erstehende Konsequenz, Formen des autonomen, selbstorganisierten Umgangs mit Problemen psychophysischer Art zu entwickeln. Auch in ohnmächtiger Lage der Legitimation der "Fabriken der Exklusion" (Robert Sommer) zuzuarbeiten ist fatal für die Schaffung einer Gegenmacht, die dagegen gefeit sein soll, von den Herrschenden korrumpiert und in ihre Zwecke integriert zu werden. Werden Knast, Alters- und Jugendheime, Drogen- und Ausländerpolitik, die stadträumlich ausschließende Gentrifizierung, die abweichendes Verhalten kasernierenden psychiatrischen Anstalten, die die soziale Misere lindernden sozialpsychiatrischen Dienste und Einrichtungen der Sozialen Arbeit als Agenturen gesellschaftlicher Wiederspruchsregulation begriffen, dann stehen die dafür zuständigen Berufsstände zumindest mittelbar im Dienste der Befriedung dieser Widersprüche. So kranken die Programme der Integration und Inklusion meist daran, daß die Frage, wer wen zu wessen Bedingungen eingliedert, nicht mit dem Zweck gestellt wird, daß die grundlegende Aufhebung der diese Maßnahmen konstituierenden Probleme in den Blick genommen werden kann.

"Befriedungsverbrechen" - Helfen als autoritäre Maßregelung

Wo dies nicht erfolgt, bleibt die soziale Normalisierung und Maßregelung abweichenden Verhaltens einziger Zweck der diversen Reparaturbetriebe kapitalistischer Vergesellschaftung. So anerkennenswert - und für die Betroffenen unverzichtbar - das individuelle Engagement der zuständigen Professionen ist, wenn sie etwa im Konflikt zwischen unzureichender Bemittelung und notwendiger Arbeit anderen Menschen auch zum Preis der Selbstausbeutung helfen, so unbefriedigend muß der Erfolg jeder Maßnahme sein, die letztlich die Fortschreibung krankmachender und verelendender Verhältnisse bewirkt. Diese Problematik treibt die Berufstätigen dieser Institutionen schon des längeren um und hat in Zeiten, in denen eine linke Gesinnung unter ihnen verbreitet war, zu einer fundierten Kritik der eigenen Rolle im Feld kapitalistischer Herrschaftsstrategien geführt.

So prägten Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro 1975 in einem Sammelband zur Psychiatriekritik [4] den titelgebenden Begriff der "Crimini di Pace". 1980 in der deutschsprachigen Ausgabe als "Befriedungsverbrechen" übersetzt, wurde die "Dienstbarkeit der Intellektuellen" einer skrupulösen Untersuchung hinsichtlich ihrer Funktion als "Zustimmungsfunktionäre" unterzogen. Was heutzutage antiquiert erscheinen mag, ist angesichts der Bedeutung sozialer Bewegungen in aller Welt keineswegs irrelevant, nur weil die organisierte Linke sich nicht von der historischen Zäsur des Niedergangs der sozialistischen Staatenwelt und des zeitgleich einsetzenden Siegeszuges des Neoliberalismus erholt hat.

Die für ihre maßgebliche Rolle bei der Psychiatriereform in Italien bekannt gewordenen Basaglias gingen 1975 von der Analyse Antonio Gramscis aus, der die Intellektuellen 1930 als "Angestellte" der herrschenden Klasse charakterisierte. Sie seien zum einen "für die 'spontane' Zustimmung der großen Masse der Bevölkerung zum gesellschaftlichen Leben der herrschenden Hauptgruppe" und zum andern "für den staatlichen Zwangsapparat, der 'gesetzlich' die Disziplinierung der Gruppen sicherstellt, die aktiv oder passiv 'die Zustimmung verweigern'", zuständig. In dem Aufsatz "Befriedungsverbrechen" wird die Rückkehr linker Intellektueller nach dem Aufbruch der 1960er Jahre in die bourgeoisen Verhältnisse, denen sie entstammten, als Ausdruck einer Ambivalenz analysiert, die sie dazu befähige, auf symbolische Weise Partei für die Unterdrückten zu ergreifen, ohne mit der eigenen beruflichen Aufgabe zu brechen: "Was von ihnen erwartet und verlangt wurde, war die Übersetzung von abstraktem Herrschaftswissen in institutionelle Praxis, die Funktionalisierung und Legitimation von Macht durch Funktionalisierung ihrer selbst" [5].

Indem die "Techniker des praktischen Wissens" (Jean-Paul Sartre) nicht mehr ihrer Aufgabe nachkamen, "plausibel zu machen, daß die Außenseiter, die Analphabeten, die Verrückten, die Kranken, die geistig Zurückgebliebenen, die Delinquenten dies ein für allemal und von Natur aus sind und daß Wissenschaft und Gesellschaft 'anthropologische Konstanten' nicht zu korrigieren vermögen", um statt dessen dazu überzugehen, "die authentischen Bedürfnisse der Betroffenen von den künstlichen Bedürfnissen" zu befreien, "die dafür sorgen, daß sich jede Bedürfnisbefriedigung in Kontrolle verwandelt", verloren die von ihnen verwalteten "Entmündigungs- und Domestizierungsprojekte" [6] an Legitimation.

Dem befristeten Ausbruch der psychiatrischen Berufe aus ihrer Rolle als "Zustimmungsfunktionäre" wurde nicht nur durch den Versuch entgegengetreten, den Rebellen durch berufliche Sanktion und staatliche Repression den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie scheiterten auch am partikulären Charakter ihres Kampfes, so die Ansicht von Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro, wie ihre Kritik an damaligen Strategiedebatten in der Linken erkennen läßt: "Die Begrenztheit der symbolischen Handlung, die die klassendiskriminierende Funktion der wissenschaftlichen Ideologie aufgedeckt hatte, hing damit zusammen, daß sie ein Kampfbündnis zwischen Technikern und Unterdrückten lediglich in dem Sektor stiften konnte, den man unmittelbar zu befreien suchte. Damals war der zuständige und gewählte Repräsentant der Diskriminierten der Meinung, daß die Austragung des Konflikts an die 'Lösung des Hauptwiderspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital' gebunden bleiben müßte. Er erkannte weder den Wert noch die politische Bedeutung einer Wissenschaftskritik, welche die geltende wissenschaftliche Ideologie in eine Krise stürzte" [7].

Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden in ihrem reaktionären Gehalt nicht durchschaut, so daß sich auch die revolutionäre Linke positiv auf bürgerliches Herrschaftswissen bezog. Der geforderten Kritik der Sozialwissenschaften widmeten sich die Autoren des Textes mit scharfer historischer Analyse und prognostischem Weitblick. Die "Definitionsgewalt und Kontrollkompetenz", die sich einst, etwa anhand der Unterscheidung von Gut und Böse und der zwingenden Kausalität von Schuld und Sühne, in den Händen der Religionen befand, übernahmen im Zuge der Revolutionen, "als die Knechte sich gegen die Herren zu organisieren anfingen und die gesellschaftlichen Strukturen unter den Berührungen mit den Vorstellungen von Gleichheit und Demokratie erbebten", nun die neuen Sozialingenieure: "Ihr Geschäft ist es, 'normale' Verhaltensweisen festzuschreiben, die Grenzen der Norm zu bestimmen und Abweichungen durch Therapie und Aussonderungen zu kontrollieren, freilich nicht auf der Basis der Bedürfnisse der Menschen (d.h. der Bedürfnisse aller Menschen, einschließlich derer, die abweichen), sondern nach Kriterien des ökonomischen Gesetzes und einer - inzwischen überaus verfeinerten - Herrschaftspraxis. Kurz, die Intellektuellen und Techniker der Sozialwissenschaften sind zu Legitimationsagenten dieser Kontrolle geworden." [8]

Schon vor 40 Jahren erkannten die Basaglias, daß die Antizipation des sozialen Widerstandes weitaus effizienter und nachhaltiger ist als seine bloße Unterdrückung. Das klassische Herrschaftsmittel der Folter werde nun in seiner präventiven Variante zur Anwendung gebracht, indem nicht mehr Geständnisse, sondern Konsens im Sinne der Zustimmung zur Staatsräson erpreßt werde. Übersetzt auf die zweite Dekade des 21. Jahrhunderts heißt das, politischen Protest in die Bahnen parteilicher und gewerkschaftlicher Stellvertreterpolitik zu leiten und durch zivilgesellschaftliche Akteure wie sogenannte Nichtregierungsorganisationen und andere Institutionen der Non-Profit-Industrie zu beschwichtigen, um jeglicher Streitbarkeit etwa durch die Zeichnung von Petitionen und andere Surrogate politischer Partizipation die militante Spitze zu nehmen und in kontrollierbare Bahnen zu lenken.

Dabei ging es den Basaglias nicht um eine Kritik der intellektuellen Funktionseliten im Sinne der bloßen Demontage ihres Ansehens. Sie riefen zur Erforschung von Formen des Widerstands auf, die sich nicht durch die Immunabwehr herrschaftlicher Kontrolle neutralisieren ließen: "Jeder offene gesellschaftliche Antagonismus ruft eine Ideologie auf den Plan, die ihn verdecken soll; sie definiert, bändigt und kodifiziert ihn, trägt jedoch den nächsten Widerspruch bereits in sich. Worauf es ankommt, ist, uns klarzumachen, was es bedeutet, 'Zustimmungsfunktionär' zu sein, und was es bedeuten kann, sich diesem Geschäft zu verweigern. Kurz, es gilt, die Sphäre des symbolischen Handelns an die Praxis zurückzukoppeln: analytisch, politisch, kulturell." [9]

So propagierten Franco Basaglia, der bis zu seinem Tod 1980 als Psychiater im öffentlichen Gesundheitsdienst arbeitete, und die Autorin Franca Ongaro Basaglia, mit der er verheiratet war, eine Form des Widerstandes, die die medizinischen Berufe nicht abschaffte, sondern auf eine antagonistische Rolle festlegte: "Die Gesellschaft, die uns erstrebenswert erscheint, ist eine, die auf das Fremde und Ungewohnte nicht mit Exkommunizierung reagiert. Heute und für uns besteht, um bei unserem Beispiel zu bleiben, das Problem nicht in der Institution der Psychiatrie (die Verrückte produziert); es besteht vielmehr darin, wie man Menschen in ihrem Widerstand beistehen kann, die allein, isoliert und auf merkwürdig komplizierte und verzwickte Weise aufbegehren, wie man ihnen helfen kann, auf verständlichere Art aufzubegehren." [10]

Der "Diskurs der Würde des Menschen beginnt und endet nicht am Ideenhimmel der Philosophen, sondern in der gesellschaftlichen Praxis", lautete ihre Version der 11. Feuerbachthese von Marx, an die eine kollektive selbstorganisierte Praxis nahtlos anknüpfen kann. Für Entwürfe emanzipatorischer und revolutionärer Art könnte die Einbindung medizinischer und sozialer Berufe in das zusehends mit informationstechnischen Mitteln und vulgärmaterialistischer Entmündigung durch Neurowissenschaften und Humangenetik aufgerüstete System der Sozialkontrolle ein guter Anlaß sein, die Entschlüsselung und Aufhebung gesellschaftlicher Verhältnisse, die psychisches wie körperliches Elend aller Art in erster Linie bedingen, voranzutreiben.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Primo Levi: Ist das ein Mensch? München 1988, S. 112 f.

[2] Vadim Riga: "Arme Irre" - Vom Klassencharakter des psychischen Elends
http://de.internationalism.org/psychischeselend0412

[3] David Cooper: Der Tod der Familie. Reinbek, 1972, S. 46

[4] Franco Basaglia, Franca Basaglia-Ongaro (Hg.): Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt/Main, 1980

[5] a.a.O. S.13

[6] a.a.O. S. 15

[7] a.a.O. S. 16

[8] a.a.O. S. 20 f.

[9] a.a.O. S. 22

[10] a.a.O. S. 37

17. Juni 2017


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