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BERICHT/291: Es geht ums Ganze - dem Betriebsfrieden verpflichtet ... (SB)


Die Vorstellung einer "widerspruchsfreien Ordnung der Arbeitsbeziehungen" [...] gehört einer durchaus problematischen Vergangenheit an. [...] Art. 9 Abs. 3 GG erteilt auch Hoffnungen auf ordentliche Verhältnisse, die letztlich auf die Einheitsgewerkschaft zielen, eine deutliche Absage. [...] Der Gesetzgeber darf sich auch nicht dazu hergeben, Arbeitgeber vor einer Vielzahl der Forderungen konkurrierender Gewerkschaften zu schützen.
Abweichende Meinung des Richters Paulus und der Richterin Baer zum Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2017 (Tarifeinheitsgesetz) [1]


Mit seiner Mehrheitsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht Anfang Juli 2017 in letzter Instanz das Tarifeinheitsgesetz im Kern für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt und damit einen massiven Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit erlaubt. Das Gesetz zur Tarifeinheit legt fest, daß im Konfliktfall nur noch der von der mitgliederstärksten Gewerkschaft in einem Betrieb ausgehandelte Tarifvertrag gilt. Es dient de facto dem Zweck, jeglichen Widerstand in den Betrieben vermittels der DGB-Gewerkschaften auszuschalten. An dieser Stoßrichtung ändern auch die von den Karlsruher Richtern geforderten Nachbesserungen nichts. So bleibt völlig unklar, wie der Gesetzgeber sicherstellen soll, daß die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, die von einer Mehrheitsgewerkschaft vernachlässigt oder ignoriert werden, "hinreichend" berücksichtigt werden.

Schon 2010 hatten DGB und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die Regierung aufgefordert, Beschäftigte gesetzlich zu binden, die sich den DGB-Gewerkschaften nicht unterordnen wollen und für radikalere Forderungen als diese streiken. Das von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in enger Zusammenarbeit mit dem DGB ausgearbeitete und durchgesetzte Vorhaben wurde am 28. Oktober 2014 vorgestellt und sollte laut der Bundesregierung verhindern, daß kleine Spartengewerkschaften "das Land lahmlegen" können. Auch sei der Betriebsfrieden durch Verteilungskämpfe konkurrierender Gewerkschaften gefährdet. Das Gesetz wurde am 22. Mai 2015 im Bundestag verabschiedet und trat am 10. Juli 2015 in Kraft.

Da den Spartengewerkschaften das Recht auf Tarifabschlüsse und damit die Existenzgrundlage entzogen wird, legten die Gewerkschaft der Lokführer (GdL), die Vereinigungen Cockpit (Piloten), UFO (Fluglotsen) und GdF (Vorfeldlotsen), der Marburger Bund (Ärzte), der Deutsche Journalistenverband, der gewerkschaftliche Dachverband DBB Beamtenbund und Tarifunion sowie die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz ein. Vertreter der Linkspartei warfen dem Gesetz vor, das Streikrecht kleiner Gewerkschaften einzuschränken, es verhindere die Anhebung des Tarifniveaus durch Spartengewerkschaften. Rechtswissenschaftler kritisierten, das Gesetz höhle die von der Verfassung geschützte Koalitionsfreiheit ohne sachlichen Grund aus. Der Antrag auf einstweilige Anordnung gegen das Gesetz wurde jedoch vom Bundesverfassungsgericht am 6. Oktober 2015 abgelehnt und das TVG schließlich im Hauptsacheverfahren für überwiegend verfassungskonform erklärt.

Gewonnen haben vor allem die Arbeitgeber, da sie allein bestimmen, welche Arbeitseinheiten zu einem Betrieb gehören. Sie erhalten künftig durch den passenden Zuschnitt von Betrieben auch noch die Hoheit darüber, welcher Tarifvertrag kraft seiner Mehrheit dominiert. Das Gesetz richtet sich vordergründig gegen die kleineren Spartengewerkschaften, die insbesondere deshalb an Einfluß gewonnen hatten, weil die DGB-Gewerkschaften in zunehmendem Maße mit den Konzerninteressen konform gehen und deren Angriffe auf die lohnabhängig Beschäftigten durchsetzen. Angesichts absehbar zunehmender betrieblicher Auseinandersetzungen in verschiedenen Sparten und möglicher sozialer Revolten ist das Tarifeinheitsgesetz im Kontext anderer Einschränkungen von Grundrechten als Teil einer repressiven Offensive einzustufen, die jegliche ernsthafte Opposition im Keim ersticken soll.


Wandtransparent zur Verteidigung des Streikrechts - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Arbeitsgruppe "Streikrecht verteidigen!"

Die Initiative "Demonstrationsrecht verteidigen!" aus mehr als 50 Gewerkschaften, Migranten- und Bürgerrechtsorganisationen, Journalisten- und Anwaltsverbänden hatte zu einem bundesweiten Grundrechtekongreß eingeladen, der am 7. Oktober 2017 in der Volkshochschule Düsseldorf stattfand. [2] Im Rahmen der Tagung wurden auch vier Arbeitsgruppen zu den Themen Freiheit für die politischen Gefangenen, Verteidigung des Demonstrationsrechts, Verteidigung des Streikrechts und Verteidigung der Pressefreiheit durchgeführt, deren zusammengefaßte Ergebnisse im Abschlußplenum zur Sprache kamen. Moderatoren der AG Streikrecht, von der im Folgenden die Rede sein wird, waren Helmut Born aus Düsseldorf, Mitglied im Landesbezirksvorstand NRW von ver.di, und Gerhard Kupfer aus Bremen, bis 2014 IG-Metall-Vertrauensmann sowie Mitglied des Betriebsrats bei Daimler. Letzterer hatte beim vorangegangenen Auftaktpodium über die Kämpfe der Bremer Kollegen berichtet.

Die insgesamt 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Arbeitsgruppe waren bis auf wenige Ausnahmen Gewerkschaftsmitglieder zumeist bei ver.di oder der IG Metall, so daß ein sachkundiger Erfahrungsaustausch über die Verhältnisse in den Betrieben und Gewerkschaften aus erster Hand möglich war. Einige der Anwesenden erwähnten ihre parteipolitische Organisierung, in der Altersverteilung hielten sich jüngere und ältere Generation die Waage, was maßgeblich zu einer ebenso aufschlußreichen wie inhaltlich anspruchsvollen Diskussion beitrug. Mochte diese Arbeitsgruppe gemessen an der Teilnehmerzahl des Kongresses auch zu den kleineren gehören, so bot gerade der überschaubare Kreis die Gelegenheit zu einer intensiven Debatte auf Augenhöhe.


Am Tisch sitzend - Foto: © 2017 by Schattenblick

Helmut Born und Gerhard Kupfer moderieren den Workshop
Foto: © 2017 by Schattenblick

Tarifeinheitsgesetz greift Streikrecht massiv an

Wie Helmut Born in einer kurzen Einführung umriß, hat das Bundesverfassungsgericht das Gesetz zur Tarifeinheit in höchster Instanz bestätigt. Damit ist es Gewerkschaften, die in einem Betrieb in der Minderheit sind, unmöglich, eigene Streiks zu organisieren und eigene Tarifverträge durchzusetzen. In der Vergangenheit habe es bekanntlich Gewerkschaften außerhalb des DGB gegeben, die aufgrund ihrer Mitgliederentwicklung und Kampfbereitschaft durchaus in der Lage waren, entscheidende Bereiche in Unternehmen durch Streiks lahmzulegen. Als klassisches Beispiel sei die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) zu nennen, um die es bei dem letzten großen Streik ein regelrechtes Kesseltreiben gegeben habe. Durch die Privatisierung der Bahn seien 100.000 Arbeitsplätze verlorengegangen, teilweise sei es zum Lohnabbau gekommen. Der damalige Vorsitzende der Eisenbahnergewerkschaft Transnet, Norbert Hansen, welcher gleichzeitig stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Konzerns und später für kurze Zeit dessen Personalchef war, habe mit der privatisierten Bahn kooperiert und sich deren Zielen untergeordnet. Diese Praxis habe die GDL aufgebrochen und damit den DGB auf den Plan gerufen, der seine Macht bedroht sah.

Innerhalb des DGB waren Transnet, IG Metall und IG BCE für das Tarifeinheitsgesetz, während sich ver.di dagegen aussprach. Grundsätzlich sei das Streikrecht in der Bundesrepublik ohnehin eingeschränkt, zumal es nicht in Gesetzesform gegossen, sondern per Richterrecht immer wieder neu austariert wurde. In Deutschland herrsche die Meinung vor, daß politische Streiks verboten seien. Gegen Streikende werde oftmals repressiv vorgegangen, im Kontext der Streiks bei Ford in Köln seien die türkischen Kolleginnen und Kollegen als angebliche Rädelsführer bezichtigt worden. Als aus dem von Schließung bedrohten belgischen Ford-Werk in Genk Kolleginnen und Kollegen nach Köln fuhren, um Solidarität einzufordern, kam es zu einem Polizeiaufmarsch, während die IG Metall jede Solidarität verweigert habe.

Dem fügte Gerhard Kupfer hinzu, daß er kein Fachmann auf diesem juristischen Gebiet sei, es aber entschieden mit dem wohlbegründeten Minderheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts halte, wonach das Tarifeinheitsgesetz verfassungswidrig sei: Es höhle das Streikrecht und den Begriff "Gewerkschaft" aus. Was ist das für eine Gewerkschaft, die nicht streiken darf, weil es im Betrieb eine größere gibt? Es sei eine konzertierte Aktion des Arbeitgeberverbandes mit einigen großen Einzelgewerkschaften im DGB gewesen, die sich direkt gegen das Streikrecht richte.

Rolle der Gewerkschaften und ihrer Führung

Die Rolle der Gewerkschaften und ihrer Führung war zwangsläufig ein zentrales Thema der Arbeitsgruppe. Zum einen fehlte es nicht an reichhaltigen Erfahrungen mit massivem Gegenwind in der jeweils eigenen Gewerkschaft, zum anderen stellt sich unter diesen Umständen zwangsläufig die Frage, ob diese Organisationen überhaupt von innen her verändert werden können und wie dies im Zweifelsfall anzugehen sei. Es dürfte Konsens unter allen Anwesenden gewesen sein, daß der Kampf für ein umfängliches, mithin politisches Streikrecht gerade im Gesamtzusammenhang der massiven Angriffe auf die Grundrechte unverzichtbar sei. Die Gewerkschaftsführungen arbeiteten jedoch mit allen Mitteln daran, Kampforganisationen der Arbeiterklasse zu verhindern, die sich eine andere Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben haben. Die Maxime Georg Lebers [3], Gewerkschaften seien Ordnungsfaktoren, dominiere deren Selbstverständnis mehr denn je. Der Gewerkschaftsapparat gehöre heute zum Staatsapparat, und diesen Apparat könne man nicht demokratisieren. So sei die IG Bergbau, in der viele Kommunisten organisiert waren, aufgelöst, gesäubert und neu gegründet worden. Und in der IG Metall, deren früherer Vorsitzender Berthold Huber ein ausgesprochener Kommunistenjäger gewesen sei, gebe es noch immer die Unvereinbarkeitsbeschlüsse.

Gerhard Kupfer erinnerte daran, daß die Einheitsgewerkschaft nach dem Faschismus eine aus den KZs geborene Errungenschaft war, alle politischen Strömungen der Arbeiterklasse in einer Gewerkschaft zusammenzuführen. Dieser Ansatz sei jedoch mit dem Ausschluß der Kommunisten sehr bald in sein Gegenteil verkehrt worden. Daß sich im Laufe der Jahre verschiedene Gewerkschaften gebildet hätten und schließlich viele unzufriedene Kollegen ausgetreten seien, hänge mit der Politik der Gewerkschaft zusammen. Wenngleich er durchaus dafür sei, daß alle in einer großen Gewerkschaft ihre Kräfte vereinen, wolle er sich nicht vom Staatsapparat vorschreiben lassen, ob er streiken dürfe oder nicht. In den Räterepubliken der deutschen Revolution hätten die Arbeiter ihre Delegierten aus den Betrieben gewählt und diese wie auch die gesamte Verwaltung übernommen. Sie wurden blutig niedergeschlagen, doch hätten die Herrschenden diese Errungenschaft nicht ganz zurückschrauben können. So seien die Betriebsräte geschaffen worden, die in das Betriebsverfassungsgesetz und das Tarifvertragsgesetz eingebunden seien und nur bei unwichtigen Dingen mitbestimmen dürften. Ein politischer Streik sei von vornherein ausgeklammert worden, die Arbeiter würden an die Friedenspflicht gefesselt.

Zur Sprache kam auch die Struktur der Gewerkschaften, die Sozialpartnerschaft möglich mache, Kämpfe verhindere und der Korruption Vorschub leiste. Solange Gewerkschaftssekretäre mehr verdienten, nicht austauschbar und besser geschützt als die Arbeiter seien, könnten sie Streiks nach Gutdünken ausrufen oder beenden. Stelle ihnen der Arbeitgeber dann noch ein Auto vor die Tür, entsprächen sie vollends seinen Wünschen. Wolle man die Gewerkschaft zu einem nützlichen Kampfmedium machen, gelte es, diese Strukturen innerhalb der Gewerkschaft anzugreifen. Dies bekräftigte Gerhard Kupfer unter Verweis auf korrupte Gewerkschaftsführer, die für 300.000 Euro im Jahr grundsätzlich keine Arbeiterinteressen vertreten könnten. Aber zur Struktur gehörten zwei, nämlich auch die Mitgliedschaft, die sich diesen Verrat bieten lasse. Diese Struktur lasse sich nur durch die Praxis ändern. Um die Auffassung der Kollegen zu knacken, daß die oben sowieso machen, was sie wollen, bedürfe es eines langen Prozesses. Als seine Kollegen das erste Mal hinaus auf die Straße gingen, habe der Leiter des Vertrauensleutekörpers mit ausgebreiteten Armen vor dem Tor gestanden und "Halt! Halt!" gerufen. Doch die Kollegen seien an ihm vorbeimarschiert und hätten draußen gesagt: "Das ist Gewerkschaft!" Man müsse zuerst im Betrieb aufräumen. Fährt der Vorsitzende einen Dienstwagen, müsse man das öffentlich anprangern. Unterschreibe der Betriebsrat Leiharbeit oder Fremdvergabe, ebenso.

Wie Helmut Born zu bedenken gab, sei der Kampf gegen das Tarifeinheitsgesetz auf sehr bescheidenem Niveau gelaufen. So sei die Bundesweite Konferenz der Gewerkschaftslinken in Kassel vor Verabschiedung des Gesetzes sehr schlecht besucht gewesen, und in den Betrieben herrsche Gleichgültigkeit, was dieses Thema betreffe. Diese Erfahrungen müsse man mit berücksichtigen. Die IG Metall habe seit zehn Jahren nicht mehr gestreikt, und die IG BCE könne sich gar nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt gestreikt hat. Ver.di habe den Aufruf nach G20 zunächst mit dem Vorwurf gekontert, wer in Hamburg solchen Scheiß gemacht habe, sei selber schuld. Dann hätten jedoch einige Gremien in NRW-Süd Solidaritätsresolutionen verabschiedet, der Bezirksvorstand habe sich mit der ver.di-Jugend NRW-Süd solidarisch erklärt und schließlich sogar der Landesbezirksvorstand von NRW und zwar einstimmig. Dieses Beispiel zeige, daß bei ver.di aufgrund der Diskussionen zumindest eine gewisse Sensibilität herrsche und es nicht zwangsläufig vergeblich sei, fortschrittliche Positionen einzubringen. Insbesondere aber sei es geboten, die verschiedenen Kreise der Gewerkschaftslinken an der Frage der Tarifeinheit im Kontext der gesamten Angriffe auf die Grundrechte zusammenzuführen.

Schulterschluß der Generationen?

Die gemeinsame Diskussion verschiedener Generationen in der Arbeitsgruppe erlaubte es, unterschiedliche Auffassungen und Schwerpunkte zu kontrastieren und zu diskutieren. So erklärte ein jüngerer Kollege, es sei das Privileg der Jugend, die Alten ein bißchen voranzutreiben. Diese hätten in den 70er und 80er Jahren ihre Erfahrungen in einer Zeit relativer Stabilität gemacht. Heute sei man jedoch in einer völlig anderen Situation. Die Verteilungskämpfe in Europa, die Austeritätspolitik in Südeuropa, die AfD im Bundestag seien Ausdruck der Krise, die sich noch verschärfen werde. Es sei falsch zu sagen, es hat früher nicht geklappt, also wird es auch heute nicht klappen. Damit sendeten die Älteren die falschen Signale an die Jugend. Man müsse sie vielmehr unterstützen, die Gesellschaft zu verändern. So gelte es, die jeweiligen Erfahrungen der Generationen zusammenzubringen und in den einzelnen Auseinandersetzungen anzuwenden.

Eine junge Kollegin, die bei Ford am Band arbeitet und politisch organisiert ist, wandte sich gegen eine Verallgemeinerung der Aussage, die Kollegen aus Genk hätten keinerlei Solidarität erfahren. Sie kenne viele kämpferische Gewerkschafter, die sich solidarisch verhalten. Die fehlende Unterstützung gehe von der Gewerkschaftsführung aus, die die Mitglieder spalte. Diese stelle die Kollegen aus Genk als Verbrecher dar, die Gewalt anwendeten. Beim Stahlaktionstag in Bochum, den sie kürzlich besucht habe, sei Mitbestimmung für die Betriebsratsvorsitzenden das zentrale Thema gewesen, Auch sie halte Mitbestimmung für erforderlich, jedoch in der Form, daß die Arbeiter ihre Kämpfe führen.

Ein Kollege, der seit neun Jahren in der Jugendarbeit bei ver.di aktiv ist, berichtete von seinen Erfahrungen. Er habe mit Schülerarbeit angefangen, sei in die Schulen gegangen und habe Leute angesprochen, etwas gegen Kopfnoten und Studiengebühren zu unternehmen. Diese Arbeit habe er später mit den Jugendauszubildendenvertretungen im Klinikum und an der Uni fortgesetzt. Doch statt sich zu freuen, daß Schüler und Azubis herangeführt wurden, sei dies den Hauptamtlichen zu links gewesen. Mit dem Parteibuch der SPD in der Tasche seien sie mit den Betriebsräten verbandelt und hätten der engagierten Jugendarbeit Knüppel zwischen die Beine geworfen. Es sei jedesmal ein Kampf auch gegen den Gewerkschaftsapparat: "Aber wenn du gut an der Basis arbeitest, dann springen die auf einmal auch, aber nicht besonders weit, nur so weit, wie sie müssen." Bei Genk habe es eine Initiative an der Basis mit Besuchen gegeben, erst dann seien die Kollegen mit den Bussen rübergekommen. Doch der Betriebsrat sei dazwischengegrätscht. Bei G20 hätte er nie gedacht, daß die eigenen Leute so geknüppelt werden. Jetzt drohe elf jungen Kollegen vielleicht jahrelanger Knast: "Da bringst du alle Hebel in Bewegung und merkst auf einmal, daß du in dieser Gewerkschaft verdammt isoliert bist. Du bist plötzlich nicht mehr im Email-Verteiler und wirst geschnitten. Wir müssen unsere eigene Vernetzung aufbauen, bei der nicht immer ein Aufpasser dabeisitzt."

Ein anderer jüngerer Kollege machte geltend, daß in den letzten Jahrzehnten alle Versuche, die Gewerkschaften von innen her zu demokratisieren, an deren Apparat gescheitert seien. Er halte es für besser, die Widersprüche innerhalb solcher Organisationen zu nutzen und Spielräume ausfindig zu machen. Das Beispiel der Arbeitskämpfe an der Berliner Charité zeige, daß durch kluges Vorgehen ein sozialer Aktionsraum geschaffen worden sei. Vom Organizing bei ver.di könne man viel lernen, handle es sich doch um eine partizipatorische Variante der Gewerkschaftsarbeit. Sie sei vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen, seit zehn Jahren bei IG Metall und ver.di im Programm. Anstelle der klassischen Stellvertreterpolitik frage man an der Basis, was die Leute wollen und was sie nervt, um darauf womöglich eine Bewegung aufzubauen. Wenngleich dies noch in den Kinderschuhen stecke und durchaus in mancherlei Hinsicht kritisch zu sehen sei, erscheine es ihm erfolgversprechender. Auf diese Weise könne man neue Methoden und Erfahrungswissen in die Gewerkschaft einbringen, deren Strukturen nutzen und mit den undogmatischeren Leuten ein Wechselspiel entwickeln. Das sei natürlich nicht der goldene Hebel und werde erst langfristig Früchte tragen.


Helmut Born und Gerhard Kupfer am Tisch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Den Apparat das Fürchten lehren ...
Foto: © 2017 by Schattenblick

Vom Vernetzen zum Organisieren

Wir müssen uns aber schon über das Ziel klar sein, machte ein jüngerer Kollege geltend. Wer den Kapitalismus lediglich reformieren wolle, brauche gar nicht erst an die große Suppe zu denken. Organisiere er sich als revolutionärer Gewerkschafter, bedürfe es einer revolutionären Partei, die kein weiteres Bündnis im Rahmen des Status quo sei. Dieser Auffassung schlossen sich einige ältere Kollegen an, die ihrerseits unterstrichen, daß die Gewerkschaft kein Ersatz für eine revolutionäre Partei sei. Zwar gelte es, politisches Bewußtsein unter den Kolleginnen und Kollegen zu schaffen, daß die Inanspruchnahme des Streikrechts die Stärke der Lohnabhängigen sei, doch stehe das nicht in Widerspruch zu Kämpfen, die weit darüber hinaus auf eine Gesellschaftsveränderung abzielten.

Wer in diesen Kämpfen kein Bündnispartner sein kann, hob die Position einer jungen Kollegin hervor, daß die Polizeigewerkschaft nichts im DGB verloren habe. Dies seien Arbeiterfeinde und Streikbrecher, die bei Ford und anderswo zugeschlagen hätten. Gerhard Kupfer schloß sich der Forderung an, für "Hygiene" in den Gewerkschaften zu sorgen. Lese man das Papier des DGB zum Antikriegstag am 1. September, trage dies die Handschrift der GdP: Wir brauchen 20.000 weitere Polizisten, die innere Sicherheit ist gefährdet, gegen Links- und Rechtsextremismus. "Der Kollege Polizist, der dem Kollegen Metaller mit dem Knüppel eins über die Rübe gezogen hat, hat in unseren Gewerkschaften nichts zu suchen!"

Wo und wie indessen in den alltäglichen Kämpfen anzusetzen sei, wurde doch recht unterschiedlich eingeschätzt. So fand einerseits der Vorschlag Zustimmung, sich danach zu orientieren, wo, wie etwa im Pflegebereich, bereits Auseinandersetzungen geführt werden oder künftig verstärkt zu erwarten seien. Demgegenüber gab eine Kollegin zu bedenken, daß man nicht abwarten könne, daß sich strategisch irgendwo etwas ergibt: "Ich werde jeden Tag ausgebeutet!" Die unspektakuläre Kleinarbeit unter den Kollegen sei nicht zu unterschätzen, denn der Opel-Streik 2004 sei auch nicht von heute auf morgen gekommen. Da müsse man schon jahrelang dranbleiben. Im übrigen fänden es in ihrem Betrieb die meisten Leute cool, wenn irgendwo gestreikt wird, und sagten, eigentlich müßten wir auch mal. Das Gefühl sei da, diese Solidarität dürfe nicht unterschätzt werden.

Nachdem eine ganze Reihe verschiedener Vorschläge wie Flugblätter, Aufrufe oder Aktionen als unmittelbares Ergebnis der Arbeitsgruppe erörtert worden waren, kam man überein, eine Vernetzung in Angriff zu nehmen. Auf diesen Begriff "vernetzen", der in der Diskussion so oft gefallen sei, ging Gerhard Kupfer in seinem Schlußwort ein. Das klinge recht unverbindlich, man schickt eine Email los, und der eine liest sie, der andere nicht. Er gehe weiter und spreche von "organisieren". Es gebe Menschen, die mit den gesellschaftlichen Zuständen in diesem Land nicht zufrieden seien. Die Gewerkschaften sperrten die Kollegen jedoch in ökonomische Fragen ein. Eine Tarifrunde habe heute keine Rechtfertigung mehr, wenn dabei nur für einen kleinen Teil der Belegschaft unter Ausschluß der vielen Leiharbeiter etwas ausgehandelt wird. Es gehe vielmehr um gesellschaftliche Fragen, für die sich die Kollegen durchaus interessierten, aber nur, indem sie kleine konkrete Schritte machten. Durch den Streik bei Daimler in Bremen seien sie mit dem Unternehmer wie auch der Gewerkschaftsführung in Berührung gekommen und hätten dabei verdammt viel gelernt. Sie hätten Kontakt mit anderen Belegschaften bekommen, mit Arbeitslosen und im Stadtteil Unterschriften gegen die Abmahnungen gesammelt. Das seien seine Erfahrungen mit den Kollegen, die beileibe nicht alle Kommunisten gewesen waren.


Fußnoten:


[1] http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/07/rs20170711_1bvr157115.html

[2] http://demonstrationsrecht-verteidigen.de/bundesweiter-kongress-am-7-10/

[3] Georg Leber (1920-2012) war ein deutscher Gewerkschaftsführer und Politiker (SPD). Er war Bundesverkehrsminister (1966-72), Bundespostminister (1969-72), Bundesverteidigungsminister (1972-78) und Bundestagsvizepräsident (1979-83).


Berichte und Interviews zum Kongreß "Demonstrationsrecht verteidigen!" im Schattenblick unter:
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BERICHT/290: Es geht ums Ganze - der Grundrechte Rückentwicklung ... (SB)
INTERVIEW/386: Es geht ums Ganze - Besinnung auf die eigene Kraft ...    Gerhard Kupfer im Gespräch (SB)


25. Oktober 2017


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