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BERICHT/052: Dreikönigstreffen mit Sarrazin ... vom Diskurs zum Tribunal (SB)


Thilo Sarrazin als Gast des FDP-Kreisverbands Steinburg in Itzehoe am 6. Januar 2011

Sarrazin im Gespräch - © 2011 by Schattenblick

Örtliche Honoratioren hofieren Sarrazin
© 2011 by Schattenblick

Was unter dem Titel der "Sarrazin-Debatte" firmiert, ist längst ins Stadium eines Tribunals übergegangen, das über die Existenzberechtigung aus sozialen und kulturellen Gründen mißliebiger Minderheiten befindet. Daß sich Deutschland abschafft, wie der ehemalige Berliner Finanzsenator und Bundesbanker in seinem Bestseller behauptet, ist für seine Anhänger ebenso gewiß, wie seine bürgerlichen Kritiker unter dem Titel der Integrationsdebatte vermeiden, die nationalchauvinistische und sozialrassistische Stoßrichtung seiner Diagnose aufs Korn zu nehmen. Dort, wo eine gesellschaftliche Debatte sinnvollerweise stattzufinden hätte, indem die Frage nach der Selbstbestimmung des Menschen wider seine fremdnützige Verfügbarkeit und Verwertbarkeit grundsätzlich aufgeworfen würde, bestimmt Sprachlosigkeit das Feld. Dort, wo sie angeblich geführt wird, sollen statistische Zahlenhuberei und doktrinäre Sachzwanglogik vergessen machen, daß der Schritt in die Disposition fremdbestimmter Verhältnisse mit dem Vergleichen und Unterscheiden von Menschen anhand nationaler, ethnischer, religiöser, sozialer und geschlechtlicher Kriterien bereits vollzogen wurde.

Die Würde des Menschen ist allemal antastbar, wie die durch "blutige Grenzen" - die Samuel Huntington dem Islam als Ausdruck einer aus Rückständigkeit geborenen Aggressivität andichtete, während die Bomberarmada sich christlich gebender Regierungen den mehrheitlich islamischen Irak in Schutt und Asche legten - gesicherten Inseln verschwenderischen Reichtums inmitten massenhaften Elends belegen. Die Menschenrechte sind alles andere als unteilbar, wie die mit Kapitalmacht und Waffengewalt erfolgende Durchsetzung ökonomischer Interessen überall dort demonstriert, wo Menschen essentieller Lebensmöglichkeiten beraubt werden, weil das ihnen Eigene der Definitionsgewalt und dem Eigentumsanspruch Stärkerer unterworfen wird. In Anbetracht dieser sozialen Disparität verkommt die universale humanistische Rechtsethik zu einer Legitimation der Zustände, die zu beseitigen ihr ureigenstes Anliegen sein sollte. Die Hegemonie herrschender Interessen bedient sich eines positivistischen Wirklichkeitsprimats, dessen Gültigkeit in Frage zu stellen mit der Evidenz angeblicher Tatsachen gekontert wird, um die zugrundeliegenden Gewaltverhältnisse unter keinen Umständen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubeziehen. Wenn die Dinge so sind, wie sie sind, dann führt kein Weg an ihrer sozialtechnokratischen Regulation vorbei. Auf diesen Ausgangspunkt können sich die Verfechter neoliberaler Eigenverantwortung und staatlicher Zuständigkeit durchaus einigen, wie die wachsende Zustimmung zu Sarrazins Thesen auch unter Sozialdemokraten und Empfängern von Transferleistungen dokumentiert.

Die Karriere des Ökonomen und Ministerialbürokraten zum Volkstribun ist mithin einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung geschuldet, die Thilo Sarrazin ebenso austauschbar wie als Stichwortgeber der neofeudalen Transformation unentbehrlich macht. Daß die Zeit für einen gutbürgerlichen, den Funktionseliten angehörenden Demagogen gekommen sein muß, läßt die Diskrepanz zwischen seinem von jeglichem Charisma und rhetorischen Geschick freien Auftreten und der Verherrlichung seines vermeintlichen Muts, endlich auszusprechen, was längst hätte gesagt werden müssen, ahnen. Sarrazins Anhänger feiern mit dem ehrfurchtsvollen Respekt, den sie ihrem Helden entgegenbringen, vor allem die eigene Fortune ab, auf dem Weg zur Etablierung unumkehrbarer Klassenverhältnisse endlich in die Offensive gelangt zu sein.

So kleinmütig die populistische Verklärung des neoliberalen Paradigmas, anhand dessen die Welt seit dem Scheitern der realsozialistischen Staatenwelt unter das Verwertungsdiktat der Kapitalakkumulation gebracht wird, in seinem bourgeoisen Distinktionsstreben in Erscheinung tritt, so dramatisch wird sie als finale, bereits 1992 als Ende der Geschichte paraphrasierte Überwindung humanistischer und sozialistischer Grundsätze in Szene gesetzt. Forschen Schrittes geht man bei der Durchsetzung dieser historischen Formation den Weg des geringsten Widerstands. Das dabei angestimmte Lamento, von einer linken "Gutmenschen"-Kamarilla am Aussprechen der "Wahrheit" gehindert zu werden, appelliert an einen propagandistisch zweckmäßigen Opferstatus, hinter dem die Revanche für das angeblich erlittene Leid lauert.

Sarrazin unter FDP-Banner - © 2011 by Schattenblick

Etatistischer Liberalismus ... eine Mesalliance?
© 2011 by Schattenblick

Um das in seiner zukunftsweisenden gesellschaftlichen Destruktivität bislang kaum analysierte Aufkommen des nationalistisch verbrämten und kulturalistisch armierten Sozialrassismus besser zu verstehen, kann der Besuch einer Veranstaltung seines derzeitigen Exponenten in Deutschland durchaus von Nutzen sein. Seit einem halben Jahr befindet sich Thilo Sarrazin auf einer Dauertournee durch die Bundesrepublik, die als Präsentation seines Ende August 2010 erschienenen und bald 1,3 Millionen Mal verkauften Buches "Deutschland schafft sich ab" unzureichend beschrieben ist. Das über 450 Seiten starke Werk fungiert als Katalysator einer Mobilmachung sozial- und islamfeindlicher Art, in der das Ressentiment gegen arbeitsfähige Empfänger sozialer Transferleistungen und in Deutschland lebende Muslime auf salonfähige Art geschürt wird.

Wie dies vonstatten geht, konnten zwei Redakteure des Schattenblick auf dem Dreikönigstreffen des FDP-Kreisverbands Steinburg in Schleswig-Holstein miterleben. Zutritt zu der geschlossenen Veranstaltung erhielten neben der Presse auch nicht der FDP angehörende Bürger, sofern sie den Eintrittspreis von 25 Euro berappen konnten. Die Veranstalter hatten jedoch in Anbetracht der Proteste mehrerer Organisationen gegen die Nutzung des Theaters für diese Veranstaltung und die Anmeldung einer Demonstration mit bis zu 500 Teilnehmern Vorsorge getroffen, um die wortreich angemahnte Freiheit der eigenen Meinung nicht durch die radikal Andersdenkender einschränken zu lassen. Taschenkontrollen beim Einlaß durch dort postierte Polizeibeamte und die diskrete, aber unübersehbare Präsenz weiterer Polizisten im Gebäude machten deutlich, daß die Thesen Sarrazins längst das Stadium einer theoretischen Auseinandersetzung hinter sich gelassen haben und die Brisanz des zentralen gesellschaftlichen Konflikts in herrschaftsichernde Bahnen gelenkt wurde.

Im Foyer des Veranstaltungsgebäudes - © 2011 by Schattenblick

Itzehoes bessere Gesellschaft beim Pflichttermin
© 2011 by Schattenblick

"Ganz viele Polizisten sind hier und passen auf uns auf", freute sich der FDP-Kreisvorsitzende Willi Götsche in seiner Eröffnungsansprache denn auch ohne jeden ironischen Unterton, während die draußen vor der Tür bei der Abschottung des Theaters gegen die auf einen Nebenplatz abgedrängten Demonstranten um so offensiver auftretende Staatsmacht ihre Arbeit verrichtete. "Wir müssen diesen Staat auch verteidigen", meinte der FDP-Politiker einschränkend, nachdem er das Versammlungsrecht, wie es einem Liberalen zweifellos gut zu Gesicht steht, prinzipiell konzediert hatte. Dennoch war unmißverständlich klar, daß die Anwesenden im Saal sich in ihrem Selbstverständnis als staatstragende Leistungsträger scharf von den Gegnern Sarrazins abgrenzen. Diese nehmen, zumindest in der Vorstellungswelt wirtschaftsliberaler Doktrin, nicht nur das zugestandene Ausmaß an Kritik in Anspruch, sondern überschreiten es in Form eines sozialen Widerstands, der dem offen zum Ausdruck gebrachten Ärgernis über die Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen dadurch entspricht, diese nicht mehr als notgedrungenes Almosen zu erbitten, sondern als Grundrecht einer arbeitsteiligen, die Menschen dem Nutzen der Kapitaleigner unterwerfenden Gesellschaft einzufordern.

Nun gehörte die Bühne dem Hauptgast des Abends, ohne den, wie Göttsche eingestand, das Dreikönigstreffen bei weitem nicht so gut besucht worden wäre. Gleich zu Beginn des etwa 45 Minuten währenden Vortrags stellte Sarrazin mit der Behauptung, man habe keine der von ihm angeführten Tatsachen widerlegt, klar, daß es seinen Kritikern offensichtlich nicht um Fakten und damit nicht um die Wirklichkeit ginge. Seine Unterstellung, nämliche Wirklichkeit sei bei aller zugestandenen Vielfalt möglicher Betrachtungsweisen durch Faktizität eindeutig bestimmbar, weist den Volkswirt Sarrazin als Hobbywissenschaftler aus. Abgesehen davon, daß er sich aus dem verfügbaren Datenmaterial aussucht, was seinen Behauptungen dient, und ignoriert, was sie widerlegen könnte, erfüllen die daraus gezogenen Schlußfolgerungen und Prognosen keinesfalls den Anspruch unumstößlicher Gewißheit. Ihre Gültigkeit steht und fällt mit der Veränderung der verwendeten Daten im zeitlichen Verlauf. Das gilt insbesondere für über viele Jahrzehnte reichende demografische Prognosen wie diejenige, daß die "deutsche" Bevölkerung aufgrund einer zu geringen Geburtenrate absehbar verschwindet.

Die sogenannte Debatte dreht sich jedoch nicht um beliebiges statistisches Datenmaterial, sondern die daraus abgeleiteten Behauptungen, die als Argumente für zentrale politische Weichenstellungen ins Feld geführt werden. Erst die Bewertung und Beurteilung erhobener Daten generiert sogenanntes Wissen und führt zu politischer Handhabe. Die Inanspruchnahme der Wirklichkeit als Lehen Sarrazinscher Deutungen stellt nichts anderes dar als den Versuch einer dogmatischen Verabsolutierung dessen, was im demokratischen Streit erst zu einer möglichen politischen Veränderung heranreift. Der linken Kritikern seines sozialrassistischen Gesellschaftsentwurfs angelastete Gesinnungstotalitarismus ist daher ganz auf der Seite der rechten Offensive zu verorten, der Sarrazin Gesicht und Stimme gibt.

Zudem darf bei dem von Sarrazin als Beweis unwiderlegbarer Relevanz in Anspruch genommenen Datenmaterial nicht vergessen werden, daß bereits der Fragestellung, unter der es erwirtschaftet wird, eine spezifische gesellschaftliche Interessenlage eigen ist. Die "Wahrheit", in deren Besitz sich Sarrazin seinen Anhängern zufolge befindet, ist Ergebnis eines Kampfes um Deutungshoheit, der als solcher keineswegs widerspruchsfreie Postulate hervorbringt. Wenn, wie Sarrazin es vornehmlich tut, verschiedene Gruppen der Bevölkerung anhand ihrer ethnischen Herkunft, ihres religiösen Bekenntnisses, ihrer sozialen und kulturellen Praxis wie ihrer biologischen Konstitution auf den Leisten einer von ihm und seinesgleichen definierten Verwertungstauglichkeit geschlagen werden, dann drückt sich darin ein mit Hilfe empirischer Sozialwissenschaften artikulierter Klassenanspruch aus. Wie sich gerade im Bereich der Sozial- und Wirtschaftwissenschaften zeigt, sind die dort generierten Erkenntnisse hochgradig abhängig von der Intention ihrer Urheber. Anders wäre es wohl kaum möglich, daß die neoliberalen Ökonomen, die jahrelang das Lied unbegrenzter Kapitalakkumulation gesungen haben, sich mit den Ergebnissen der auch von ihnen zu verantwortenden Wirtschaftskrise arrangiert haben, ohne daß die faktische Widerlegung ihrer Wachstumsdoktrin zu ihrer Diskreditierung geführt hätte.

So geht es auch bei den Behauptungen des Volkswirts Sarrazin um eine interessenbedingte Sicht der Gesellschaft, die der von ihm in Anspruch genommenen Ratio Hohn spricht. Sein Schwadronieren gegen vermeintlich unproduktive Mitglieder dieser Gesellschaft unterschlägt grundsätzlich alle nicht im Rahmen von Erwerbsarbeit erfolgende Tätigkeiten produktiver und reproduktiver Art. Was sich nicht auf kapitalistische Weise verwerten läßt, existiert für Sarrazin ausschließlich als sozialökonomischer Kostenfaktor, den erwerbstätige Menschen zu ihren Lasten zu finanzieren haben. Das darin aufscheinende Menschenbild könnte nicht armseliger sein, kennt der umfassend durchkapitalisierte homo oeconomicus doch nichts anderes als das von fremden Interessen permanent bedrohte Eigene. Was immer das Deutschland, das Sarrazin und seine Anhänger meinen, darstellen soll, reicht nicht über den Horizont einer individualistischen Überlebensdoktrin hinaus. Es gegen seine Abschaffung zu sichern und zu verteidigen, ist das ganz profane Streben, zu Lasten des anderen zu überleben.

Diesen Anspruch gegen andere Menschengruppen in Stellung zu bringen scheint das vordringliche Anliegen Sarrazins zu sein. Seine mit bürokratischem Phlegma vorgetragene Demografie propagiert eine Bevölkerungspolitik, die den Menschen zum Rohstoff seiner Verwertung erklärt und dementsprechend überall dort zur Belastung für ein national bestimmtes und darüber hinaus ausschließlich hypothetisches Allgemeininteresse degradiert wird, wo er zu alt oder zu dumm, wo er nicht innovativ oder gebährfähig genug ist. Die Möglichkeiten, daß dem Alter ganz andere, ökonomisch nicht quantifizierbare Qualitäten innewohnen können, daß Schlauheit oder Dummheit keine Kriterien auf kognitive Adaptionsfähigkeit orientierter Intelligenztests sein müssen, daß der kapitalistische Innovationsdruck die Crux der zerstörerischen Logik unabläßlichen Wachstums ist und das Heranziehen neuer Generationen in einer Welt voller notleidender Kinder nicht über die freizügig in Anspruch genommenen biologischen Leistungen deutscher Frauen erfolgen muß, kommen in der buchhalterischen Bilanz eines Sarrazin nicht vor.

Das von ihm propagierte und vom Publikum begeistert bestätigte "Wir" erweist sich denn auch als Chiffre einer kulturellen Degeneration, die im nationalistischen Raubkollektiv zu sich selbst kommt. Die beamtische Einfalt einer national bestimmten Biopolitik, aufgrund derer die nach einhelligem Selbstverständnis keiner weiteren Definition bedürfende "deutsche" Bevölkerung die ihr fremden Elemente gewinnträchtig assimilieren oder schadensbegrenzend entsorgen soll, wäre einem Johann Wolfgang von Goethe, den Sarrazin mit einem Zitat aus dem West-östlichen Divan als angeblichen Islamkritiker zu vereinnahmen versucht, ein Graus. Die von Unkenntnis über die Vielfalt islamischer Lebenswelten zeugende Verallgemeinerung, laut der das Gebiet der Türkei, des Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas ein Hort rückständiger Ansichten und minderer Tüchtigkeit ist, verdichtet die kulturalistischen Thesen eines Bernard Lewis und Samuel Huntington zu einem zivilreligiösen Ressentiment, das seinem Hohepriester schlichte Feindseligkeit gegenüber Muslimen attestiert.

Sarrazin verwahrt sich gegen den Vorwurf pauschaler Fremdenfeindlichkeit, indem er verschiedene migrantische Gruppen anhand ihrer angeblich bemessbaren Integrations-, sprich Anpassungs- und Leistungsbereitschaft gegeneinanderstellt und auf ihren Nutzen für die deutsche Volkswirtschaft hin überprüft. Daß man selbst Muslime "zu guten Deutschen" machen kann, will Sarrazin zwar nicht ausschließen, seine Prognose vom absehbaren Aussterben der "deutschen" Bevölkerung und ihrer Verdrängung durch migrantische Gruppen insbesondere muslimischer Art schwebt jedoch wie ein Damoklesschwert über der demografisch düster überschatteten Zukunft. Abhilfe schafft da nur eine strikte Selektion künftiger Einwanderer nach ihrer ökonomischen Verwendungsfähigkeit und die Abwehr weiterer Migranten, bei denen es sich vor allem um Wirtschaftsflüchtlinge, Asylanten und illegale Einwanderer handeln soll.

Wer aus Gründen der Not oder politischen Verfolgung nach Deutschland kommt und die institutionalisierte Flüchtlingsabwehr der EU durch unerlaubten Grenzübertritt aushebelt, wird mithin einer Kategorie Menschen zugeschlagen, die sich diesen Titel kaum mehr verdienen kann. Sarrazin versteht es, die Angst davor, der Beute eigener Vorteilsnahme durch das globale Elendsproletariat wieder verlustig zu gehen, zu schüren und gleichzeitig den vorbehaltlosen, allein wissenschaftlichen Erkenntnissen verpflichteten Autor zu geben. Wie irreführend dieser Eindruck ist, zeigt auch seine Behauptung, daß die systematische Anwerbung sogenannter Gastarbeiter in Anbetracht der heutigen Quellen der Migration für die Zusammensetzung der in Deutschland lebenden Migranten nicht mehr relevant sei. Auf diese Weise versucht er, in Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen ein zentrales Argument für ihren Anspruch auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aus der Hand zu schlagen.

Thilo Sarrazin mit Moderator Lars Bessel  - © 2011 by Schattenblick

Moderator Lars Bessel hat Sarrazins Werk gut studiert
© 2011 by Schattenblick

Wie sehr Sarrazin zur Lichtgestalt deutschnationaler Restauration geworden ist, zeigt sich schon daran, daß ein Großteil des Publikums an seinen Lippen klebt, obwohl sein Vortrag über weite Strecken vom Abarbeiten jener Zahlen und Daten bestimmt ist, aus denen sich angeblich die Wahrheit über die Zukunft des Landes schöpfen läßt. Das Auftreten des Moderators Lars Bessel und der Podiumsgäste Willi Göttsche, Adnan Vural vom türkisch-moslemischen Kulturverein in Itzehoe und Martin Meers, Geschäftsführer der AWO-Gesellschaft "Bildung und Arbeit", verspricht zwar, die Bühne etwas zu beleben. Doch verbleibt die nun folgende Diskussion weitgehend im Rahmen des bereits Gesagten, das nun insbesondere anhand des türkischen Disputanten auf den Prüfstand gestellt wird.

Adnan Vural war bei seiner Vorstellung durch den FDP-Chef nicht von ungefähr für seinen Mut, sich dieser Herausforderung zu stellen, gelobt und mit Applaus bedacht worden. Mittlerweile dürfte auch dem nichtinformierten Teil des Publikums klar geworden sein, daß Sarrazins Angriff auf angeblich unproduktive Menschen im Feindbild des Moslem den schwächsten, zur Verallgemeinerung des sozialrassistischen Angriffs besonders geeigneten Punkt findet. Während "deutsche" Langzeitarbeitlose in seinen Augen nur genügend unter Druck gesetzt werden müssen, um seinen Vorstellungen sozialökonomischer Rentabilität gerecht zu werden, stellt die Sarrazinsche Völkerschau "bildungsfernen" erwerbslosen Muslimen eine denkbar schlechte Prognose aus. Vor die Frage gestellt, wie er sich bei den Ausführungen des prominenten Gastes fühle, antwortet Vural denn auch mit gebotener Deutlichkeit, daß ihn die Meinung anderer zwar nicht besonders tangiere, er dem Urteil Sarrazins über Muslime jedoch keineswegs zustimmen könne. Wenn er ihn richtig verstanden habe, dann müßten in der Türkei alle Menschen dumm sein, das könne ja wohl nicht sein, verwahrte sich Vural gegen die pauschale Verunglimpfung seiner Landsleute und Religionsgemeinschaft. Von seinem Glauben wolle er sich keinesfalls abbringen lassen, bekräftigte er und widersprach Sarrazins Abqualifizierung türkischer Erwerbstätiger mit der Aussage, für ihn sei es nicht akzeptabel, wenn Türken, die es nicht weiter als bis zum Bäcker oder Dönerverkäufer gebracht hätten, aufgefordert würden, in die Türkei zurückzukehren.

Gesprächsrunde - Vural spricht - © 2011 by Schattenblick

Thilo Sarrazin, Lars Bessel, Adnan Vural, Martin Meers
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Zu einem regelrechten Streitgespräch zwischen Sarrazin und Vural kam es nicht, wurde das Gespräch von Moderator Bessel doch auf eine Weise organisiert, daß die jeweiligen Stellungnahmen ohne große Resonanz der Runde blieben. Lediglich beim Thema des Familiennachzugs kam es zu einer kurzen Kontroverse zwischen den beiden Hauptkontrahenten, an der deutlich wurde, daß mit Sarrazin nur zu reden ist, wenn man zuvor die von ihm aufgestellten Thesen akzeptiert. Diese sind, wie der von ihm erhobene und von Göttsche bekräftigte Vorwurf eines "Zuzugs in die Sozialsysteme" belegte, von vornherein durch Unterstellungen belastet, die dem andern eine Bringschuld aufbürden, der er nur mit der Unterwerfung unter die Suprematie seines Gegenübers entsprechen kann. Wenn Sarrazin "deutsche" Frauen auffordert, mehr Kinder zu gebären, während er gleichzeitig türkischstämmigen Bürgern und in Deutschland lebenden Muslimen unterstellt, sich mit einer hohen Geburtenrate Sozialleistungen erschleichen zu wollen, dann zeigt sich von vornherein, daß er einer selektiven Bevölkerungspolitik rassistischer Art das Wort redet. Daß er im Kern sozialeugenische Ziele verfolgt, zeigt die in seinem Buch erhobene Forderung, Personen, die Grundsicherung beziehen, das Kindergeld zu kürzen, während Akademikerinnen bei Geburt eines Kindes vor dem 30. Lebensjahr eine Gebärprämie von 50.000 Euro in Aussicht gestellt werden soll.

Der AWO-Geschäftsführer Martin Meers hätte aufgrund dieser und anderer Forderungen reichlich Gelegenheit gehabt, das Gedankengut Sarrazins dort zu verorten, wo es seine giftigen Blüten treibt. Er verwahrte sich zwar gegen den Anwurf, Hartz 4-Empfänger seien praktisch selbst an ihrer desolaten Lage schuld, ließ jedoch das Problem der Langzeiterwerbslosigkeit als auf diese oder jene Weise zu verwaltenden Mißstand bestehen. Zu einer Gesellschaftskritik, die die Frage nach den systemischen Gründen millionenfacher Dauererwerbslosigkeit aufgeworfen hätte, verstieg sich Meers nicht. Seine Einlassungen hielten der Doktrin Sarrazins, Erwerbslose unter schärferen ökonomischen Druck zu setzen, um sie zu produktiver Arbeit zu nötigen, die Sicht des Sozialarbeiters entgegen, der zwar Verständnis für die mißliche Lage seiner Klientel hat, dieses jedoch niemals so weit treibt, daß er Gefahr liefe, sich auf kämpferische Weise mit den Betroffenen zu solidarisieren.

Heitere Gesprächsrunde - © 2011 by Schattenblick

Willi Göttsche, Thilo Sarrazin, Lars Bessel, Adnan Vural
© 2011 by Schattenblick

Natürlich sollte dem Publikum das Thema Islam und Terrorismus nicht erspart bleiben, bildet die Unterstellung, diese Weltreligion sei genuin gewalttätig, doch das argumentative Kernstück der hierzulande um sich greifenden Islamfeindlichkeit. Hier spitzte Sarrazin mit der Behauptung, gerade besonders gut in Europa integrierte Muslime der zweiten und dritten Einwanderergeneration neigten zur fundamentalistischen Radikalisierung, seine These von einer sozialökonomisch und biologistisch bestimmten Malaise des Islam zur generellen Stigmatisierung dieser Religionsgemeinschaft als Hort des Terrors zu. Ohne weitere Umschweife stellte Sarrazin damit vier Millionen in Deutschland lebende Muslime kollektiv unter Terrorverdacht.

Diesen Affront ließ Adnan Vural in seiner abschließenden Stellungnahme nicht unkommentiert. Er verteidigte seinen Glauben als friedliche Religion, erinnerte an die Brandanschläge auf Berliner Moscheen und warf dem Zwischenrufer, der ihn dazu aufforderte, sich vom Terrorismus zu distanzieren, vor, seine Kenntnisse aus der Bild-Zeitung zu beziehen. Unter höhnischem Gelächter und empörtem Protest aus dem Publikum warf Vural die Frage auf, ob es denn kein Terrorismus sei, wenn US-amerikanische Bomber Afghanistan und israelische Bomber Gaza angriffen.

Sarrazin gab in seinen abschließenden Worten noch einmal den Wolf im Schafspelz, indem er behauptete, über den Islam als Religion gar keine abwertende Aussage getroffen, sondern lediglich festgestellt zu haben, daß bei dem Islam in seiner realen historischen Ausprägung Islam und Islamismus nicht zu trennen seien, es also einen gleitenden Übergang vom fundamentalen Islam zum Islamismus und damit zum Terrorismus gebe. Sarrazin hat die Methode, auf indirekte Weise massive Unterstellungen in die Welt zu setzen und anschließend ganz unschuldig zu behaupten, nichts derartiges getan zu haben, zur Perfektion entwickelt. Mit der zum Schluß wiederholt aufgeworfenen Frage, welche Einwanderung "uns" nützt, und der darauf wiederholt gegebenen Antwort, die Immigration " kulturell andersartiger, wenig qualifizierter Menschen nützt uns nichts", brachte Sarrazin sein sozialrassistisches Weltbild noch einmal auf den Punkt, um den es ihm die ganze Zeit geht. Dem feindseligen Charakter seines Nationalmythos liegt nichts anderes zugrunde als ein sozialökonomisches Verwertungsdiktat, dem die Abwehr der Migration insbesondere aus islamisch geprägten Ländern lediglich der äußere Kreis eines neofeudalen Absolutismus ist, dem subalterne Herkunftsdeutsche nicht minder bloße Verfügungsmasse sind als das globale Elendsproletariat.

Publikum läßt sich Sarrazins Buch signieren - © 2011 by Schattenblick

Großer Andrang beim Signieren
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Insofern greift der gegen ihn erhobene Vorwurf völkisch-nationalistischer Stimmungsmache zu kurz. Sarrazin ist auch kein bloßer Rassist, wie die Befürwortung einer ökonomisch selektiven Einwanderung zeigt. Nicht nur mit dieser Forderung befindet sich der SPD-Politiker im Mainstream bundesrepublikanischer Politik, sind die Kapital- und Funktionseliten doch längst dabei, das ihnen unnütze, weil nicht genügend leistungsfähige und anpassungswillige Volk abzuschaffen, um statt dessen eine Bevölkerung nach Maßgabe ihrer Erfordernisse zu bilden. Die dazu eingesetzten sozialtechnokratischen Praktiken bedienen sich Steuerungsmittel des Zwangs und der Sanktionierung, der Gratifikation und Anerkennung, die völlig unverdächtig erscheinen, wenn man einmal dem Grundsatz zugestimmt hat, daß der Mensch nur nach Maßgabe seiner Verwertbarkeit Mensch sein darf. Sarrazins Aufgabe besteht darin, diesem Grundsatz auch unter der von Armut und Ausbeutung betroffenen Bevölkerung Akzeptanz zu verschaffen, was durch das Feindbild des parasitären Fremden gelingen soll. Das gehobene Bürgertum wiederum gewinnt er mit dem Argument einer kulturalistischen Bedrohung, die die Frage danach, was denn bedroht sein könnte, mit der Selbstevidenz kultureller Suprematie auf schmeichelhafte Weise beantwortet.

Es kann daher nicht erstaunen, wenn der langhaarige Arbeitslose bekundet, Sarrazin in 85 Prozent dessen, was er sagt, zuzustimmen. Das von ihm angeführte Beispiel Sarrazins, daß die Heizkostenübernahme bei Leistungsempfängern zu rücksichtslosem Verbrauch führe, läßt sich zwar durch die Erklärung, daß Erwerbslose sich vorzugsweise zuhause aufhalten, leicht entkräften, doch darum geht es nicht. Die Hoffnung darauf, als "Deutscher" nicht aus dem angeblich übervollen Boot geworfen zu werden, vernebelt den Verstand so sehr, daß die Verzweiflung über die mißliche Lage in bedingungslose Gefolgschaft umzuschlagen droht.

Es ist auch kein besonderes Rätsel, warum FDP-Politiker wie Göttsche, der den Autor als "Noch"-SPD-Mitglied vorstellte, um einen Demagogen werben, der dem klassischen bürgerlichen Liberalismus gerade aufgrund der Affinität Sarrazins zu staatsbürokratischen Lösungen suspekt sein müßte. Die von diesem auf die Spitze der sozialdemokratischen Losung, wer nicht arbeitet, solle auch nicht essen, getriebene Verabsolutierung der Arbeitsproduktivität schlägt alle humanistischen und demokratischen Werte, die einige FDP-Politiker noch vertreten, in den Wind der angekündigten globalen Stürme. Diese erfolgreich zu überstehen verlangt in den Augen einer wachsenden Zahl von Bundesbürgern danach, auch vor außerordentlichen Maßnahmen wie der Suspendierung grundrechtlicher und demokratischer Garantien nicht zurückzuschrecken. Die Gefährlichkeit Sarrazins besteht darin, daß er sich mit originär rechtem Gedankengut einem Krisenmanagement andient, das zum bevölkerungspolitischen Durchgriff starker Legitimation bedarf.

Publikum im Theater - © 2011 by Schattenblick

Gut gefüllter Saal des Theaters Itzehoe
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12. Januar 2011