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INTERVIEW/092: Petersberg II - Emrah, internationalistischer Aktivist (SB)


Interview mit Emrah am 5. Dezember in Bonn

Zum Ende des dreitägigen Aktionswochenendes gegen die Afghanistankonferenz "Petersberg II" beantwortete Emrah, ein internationalistischer Aktivist aus der Region Bonn, dem Schattenblick einige Fragen zur Politisierung migrantischer Jugendlicher und zum Alltagsrassismus, dem sie ausgesetzt sind.

Polizei sichert Afghanistankonferenz gegen Schiffsdemo - Foto: © 2011 by Schattenblick

Wacht am Rhein gegen den inneren Feind
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Emrah, kannst du etwas zu deinem Hintergrund sagen? Wo würdest du dich zuordnen, was ist dein Background?

Emrah: Ich bin Türke bosnischer Abstammung und lebe seit meinem zweiten Lebensjahr in Bonn. Ich mache viele antifaschistische Aktionen, bin aber auch gerne bereit, Friedensaktionen zu unterstützen und gegen Krieg und Abschiebung zu protestieren.

SB: Gibt es bei türkischstämmigen und migrantischen Jugendlichen eine Politisierung im linken Spektrum?

Emrah: In der Vergangenheit war es so, was ich auch an der Generation meines großen Bruders noch sehe, daß viele Jugendliche mit dreizehn, vierzehn Jahren diesen Ausländerkomplex bekamen und zum Beispiel gesagt haben, ich bin Türke und gleichzeitig auch ein Bozkurt, also ein türkischer Nationalsozialist. Bozkurt heißt übersetzt so viel wie grauer Wolf. Mittlerweile ist es zum Glück nicht mehr so, da sich viele Jugendliche mehr in die linkspolitische Richtung orientieren, vor allem migrantische Jugendliche. Wir haben seit 2007/2008 einen Bildungsstreik, und dadurch hat man sehr viele Jugendliche erreicht, vor allem Migranten in den Hauptschulen etc. Mittlerweile geht das soweit, daß die Leute in der Linkspartei, der ich nicht angehöre, sogar in den Jugendgruppierungen türkische Immigrantenkinder haben und türkische Jugendliche, die im Vorstand sitzen.

SB: Würdest du sagen, daß die Sarrazin-Debatte Einfluß auf die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf türkischstämmige oder migrantische Jugendliche hat?

Emrah: Im Endeffekt ist Sarrazin ein Versuchsprojekt gewesen. Wie weit kann man mit der Bevölkerung gehen, ohne daß irgendwer aufschreit? Wenn man die Zeitungen der Springer- oder DuMont-Presse liest, dann ist es so, daß das, was früher gegen die Opfer des Nationalsozialismus gesagt wurde, also gegen Semiten, heute als Staatsfeind auf Immigranten, Taliban und Ausländer allgemein übertragen wird.

SB: Hast du im Alltag aggressive Reaktionen von Deutschen erfahren?

Emrah: Auf jeden Fall habe ich Erfahrungen gemacht, die mich sehr geprägt haben. An eine Sache kann ich mich dabei sehr gut erinnern. Das ist jetzt ein halbes bis dreiviertel Jahr her. Ich war mit meiner Mutter, die selber sehr wenig türkisch spricht, in einem Café. Ich sagte dann zwei, drei Sätze auf Türkisch zu ihr, und plötzlich stand der Chef direkt neben uns und meinte, wir sollten den Laden verlassen, weil in seinem Lokal nur Deutsch gesprochen wird.

SB: Wie ist das in deiner Familie oder bei älteren Leuten, die du kennst, wie gehen die mit solchen Situationen um, falls sie damit konfrontiert werden?

Emrah: Das ist ganz unterschiedlich. Die meisten sind sehr aufgeschlossen gegenüber neuen Dingen, und im linken Spektrum sowieso. Allerdings gibt es auch das Entgegengesetzte. Ich hatte zum Beispiel einen Lehrer, der der Meinung war, daß wir im Unterricht kein Türkisch reden dürfen. Ich hatte auch in der Ausbildung starke Probleme damit. Allgemein kann man schon sagen, daß die Bevölkerung in dieser Frage sehr geteilt ist.

SB: Wie würdest du die Gewichtung setzen: Sind die Leute heute eher prinzipiell gegen Ausländer, gegen Türken oder gegen Muslime?

Emrah: Ich sage ganz offen und ehrlich, daß die deutsche Bevölkerung definitiv nicht gegen Ausländer ist. Natürlich gibt es überall schwarze Schafe. Allerdings nimmt der Anteil der Leute, die offen aussprechen, daß sie gegen Ausländer sind, sehr rasch zu.

SB: Meinst du undifferenziert gegen Ausländer oder speziell gegen Leute, die aus dem Orient kommen, also Araber, Türken, Iraner?

Emrah: Schon spezifisch dagegen. Natürlich kann ich nicht für Russen oder andere Nationalitäten sprechen, ich kann nur darüber sprechen, was ich erlebe. Zum Beispiel stand ich einmal neben einer alten Dame in einem Zeitungsladen, und ihr fielen zehn Euro aus der Tasche. Ich habe den Schein aufgehoben, und sie war ganz verwundert, daß ich ihr das Geld wiedergegeben habe und nicht mit den zehn Euro abgehauen bin. Oder es gibt auch solche Leute, die mich mit einem unruhigen Blick taxieren, bevor sie ihr Portemonnaie herausholen und reinschauen, als hätten sie Angst, daß ich sie beklauen würde. Das finde ich schon sehr traurig. Und so etwas nimmt dramatisch zu, wobei man auch sagen muß, daß meine "Volksgruppe", nenne ich es einfach mal, nicht ganz unbeteiligt daran ist, da es leider zu vielen Übergriffen kam.

SB: Es wird häufig der Vorwurf erhoben, daß sich insbesondere türkische Jugendliche gangartig zusammenschließen und Deutsche, wie Bundesfamilienministerin Kristina Schröder behauptet hat, nicht mehr sicher in die Schule gehen könnten, weil sie von türkischen oder migrantischen Jugendlichen angegriffen würden. Was hältst du von solchen Geschichten?

Emrah: (lacht) Tut mir leid, aber da kann ich nur lachen. Das ist Propaganda. Es gibt sehr viele Beispiele, wo der Opa rechts ist und der Vater rechts ist und dem Kind wird das dann natürlich auch aufgeprägt. Klar, in unserer Kindheit, im vierten, fünften, sechsten, siebten Lebensjahr werden wir am meisten von Familienmitgliedern geprägt, von unseren Vorbildern, und wenn die schon rechts eingestellt sind, dann ist es ganz klar, daß die Tendenz, rechts zu sein, eher vorhanden ist, als dazu nein zu sagen, ich will das nicht, ich bin aufgeschlossen. Allerdings muß ich sagen, daß das definitiv Einzelfälle sind.

SB: Du würdest aus deiner Sicht nicht bestätigen, daß sich zum Beispiel türkische Jugendliche zusammenschließen, weil sie meinen, sie werden hier diffamiert und müßten sich speziell gegen deutsche Jugendliche zur Wehr setzen?

Emrah: Natürlich gibt es so etwas. Ich streite das gar nicht ab. So etwas kommt definitiv vor. Allerdings ist das die Minderheit. Es gibt genausogut Deutsche, die sich zusammenrotten, wie jetzt die Zwickauer Terrorzelle, um aggressiv gegen Ausländer vorzugehen. Da ist Haß auf beiden Seiten.

SB: Wenn man die türkische Jugendkultur betrachtet, dann scheint sie stark vom HipHop geprägt zu sein.

Emrah: Ich rappe selber.

SB: Wenn du rappst, versuchst du auch politisch zu rappen?

Emrah: Natürlich. Ich weiß jetzt nicht, ob ich darüber offen reden darf, deswegen mache ich das auch nicht, aber es laufen zur Zeit Gespräche mit mehreren anderen Rappern für eine politische Zusammenarbeit. Es sind wahrscheinlich auch schon Bilder davon aufgetaucht, als ich am Samstag auf dem Schiff stand mit Microphone Mafia, der selber durch seine Alben sehr linkspolitisch eingestellt ist. Wir werden mal gucken, erst mal ein paar Backups und eventuell Featuring ...

SB: Gibt es eine Bewegung im HipHop, die versucht, in dieser Hinsicht wieder Klartext zu reden, um das ziemlich heruntergekommene Gepose abzuschütteln?

Emrah: Ganz klar, wer an HipHop denkt, denkt als erstes an Bushido, Fler, Sido etc., Fick-deine-Mutter-Slang und sonst was. Das ist aber kein HipHop. Wenn man sich die neuen Alben von Bushido anhört, dann redet nicht mal er davon.

SB: Bushido ist ein gutes Beispiel dafür, der Mann spielt sich mittlerweile als eine Art Sozialarbeiter auf.

Emrah: Stimmt, er spielt sich auf.

SB: Wenn man das von einem revolutionären Standpunkt aus betrachtet, dann kann man nur sagen, daß so jemand einer Jugendkultur wie HipHop die letzte Glaubwürdigkeit nimmt.

Emrah: Ich sage mal so, jeder Mensch wird älter, und Bushido hat ja auch auf der Bambi-Verleihung, als er den Integrations-Bambi erhielt, was ich sehr lustig fand, ganz klar das Maul aufgemacht und sich gegen sämtliche Gegenstimmen gewehrt, was ich auch recht gut finde. Ich bin definitiv der Meinung, daß jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat. Ich selber habe auch vor zwei, drei Jährchen noch Asi-HipHop gemacht, ja, man wird älter, und mit der Zeit kommt das Bewußtsein. Bei manchen dauert es länger, bei anderen geht es schneller.

An Bord der MS Beethoven - Foto: © 2011 by Schattenblick

Schiffsausflug mit ernstem Hintergrund
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Um noch einmal auf den vermeintlichen Skandal um den Eierwurf auf Ströbele auf der Demo am Sonnabend zurückzukommen, könntest du erzählen, wie du das erlebt hast? Du warst ja in der Menge dabei.

Emrah: Ich muß definitiv sagen, daß ich die Aktion von der Antifa, vom Schwarzen Block, berechtigt und sehr legitim fand. Das Problem war nur, daß Ströbele gesagt hat, daß er geht, wenn sie ihn nicht hören wollen. Allerdings hat das keiner mitbekommen, weil die alle viel zu sehr mit dem Schreien beschäftigt waren, und dementsprechend hat auch keiner aufgehört, als die Abstimmung zu Ende war. Das war ein Fehler. Ansonsten war es legitim und berechtigt. Der Mann ist bei den Grünen und hat zwei Gesichter. In meinen Augen ist er ein Mistkerl.

SB: In der Menge kam es teilweise auch zu körperlichen Auseinandersetzungen. Wo nimmt so etwas nach deiner Einschätzung seinen Anfang?

Emrah: Das ist im Endeffekt das gleiche Prinzip wie bei der Love Parade. Die eine Gruppe fängt an, nach vorne zu drängeln, weil sie vorwärts will und ihre Meinung sagen möchte. Die andere Gruppe drängt sie zurück, einer gerät in Panik, und dann hat man den Schlamassel.

SB: In der Demo am Samstag waren in dem Zug einige antiimperialistische Gruppen. Es waren Leute von der Linkspartei dabei und solche von der bürgerlichen Friedensbewegung. Am nächsten Tag gab es die Konferenz. Heute haben wir diese Schiffsdemo gehabt, wo du mit an Bord warst. Weißt du, wieso von den Leuten aus den antiimperialistischen Gruppen und den linksradikalen Gruppen an den beiden anderen Tagen nur wenige anwesend gewesen sind?

Emrah: Viele der Gruppen kamen aus Berlin, Hamburg, Karlsruhe etc. Das sind Wege von fünf-, sechshundert Kilometern, und die muß man nach Hause auch wieder zurücklegen. Deswegen nehme ich das den Genossen nicht einmal übel, daß sie nicht mehr da waren. Schade ist es natürlich trotzdem. Aber ich denke, das hat darin seinen Ursprung.

SB: In den linksradikalen Blocks waren sehr viele migrantische Jugendliche, während von deutschen Linksradikalen relativ wenige zu sehen waren. Die antinationalen Gruppen, die auf Demos ziemlich präsent sind, wenn es etwa um den 3. Oktober geht, waren gar nicht gekommen. Worauf würdest du das zurückführen?

Emrah: Ich habe selber viele Bekannte und Freunde in diesem Spektrum. Bei Treffen wird aber nicht unbedingt über Politik geredet. Allerdings sind sich viele dieser Gruppen zu eitel, um an so etwas teilzunehmen, muß man ganz ehrlich sagen.

SB: Was meinst du mit "zu eitel"? Es geht doch um eine ganz wichtige Sache, nämlich gegen Eroberungskriege und Besatzungspolitik.

Emrah: Ja, aber es geht nicht um Israel.

SB: Du meinst, das ist tatsächlich der Kernstreitpunkt.

Emrah: Genau, es geht um Moslems. Es geht um Perser, Iraner, Afghanen, und das interessiert sie nicht.

SB: Und wo bleibt das linke Ideal der Gleichheit, des Eintretens für Schwache und Unterdrückte?

Emrah: Das ist eine knifflige Frage. Ich bin der Meinung, daß man auf Demos geht, wenn man diesen Standpunkt auch vertreten kann. Wenn man jetzt antideutsch ist, dann mag man nicht unbedingt Araber, Palästinenser etc. Aus diesem Grund interessiert sie das nicht wirklich, was da unten los ist. Ich würde auch nicht auf eine Anti-Pelzdemo gehen. Das ist vielleicht auch gut und richtig, aber ich habe mit meinem Standpunkt dort nichts verloren.

SB: Du würdest nicht auf eine Veganer-Demo gehen?

Emrah: Nein, das ist gut und richtig, aber ich habe da nichts verloren, weil es nicht mein Standpunkt ist.

SB: Für dich ist die radikale Linke also ein Art geschlossenes Feld, aber in verschiedene Richtungen ausgerichtet.

Emrah: Es gibt wahrscheinlich auch genug Rechte, die gegen den Afghanistan-Einsatz sind. Aber die waren ja auch nicht da.

SB: Um noch einmal auf die Politisierung migrantischer Jugendlicher zurückzukommen, gibt es über den Alltagsrassismus hinaus noch Themen, die die Leute bewegen und dazu bringen, sich in eine andere Richtung zu orientieren, als nur Konsum und Unterhaltung, ein normales Leben zu führen oder vielleicht sogar ein Rechter zu werden?

Emrah: Natürlich, wenn dir jeden Tag irgendwer in die Fresse tritt, dann trittst du irgendwann zurück. Das ist das, was gerade passiert. Zehn Jahre wurde diesen Leuten, um es einmal radikal zu sagen, ins Gesicht getreten. Irgendwann treten diese Leute zurück. Dazu gibt es von einem amerikanischen Genossen einen sehr guten Gedanken: "Irgendwann wehrt sich jeder Mensch gegen das, was ihn zerstört. Die Frage ist nur, wogegen richtet er seine Wut? Gegen einen Fremden, gegen das, was ihn zerstört, oder gegen sich selbst?"

SB: Wenn du vom Black Block redest, was verstehst du persönlich darunter? Ist es mehr eine Äußerlichkeit, daß die Leute so auftreten, oder gibt es da wirklich eine innere politische Ausrichtung, die die Leute zusammenschweißt.

Emrah: Schwarzer Block, dieser Begriff wird so leicht verwendet. Schwarzer Block ist eigentlich eine Form von Autonomie. Es ist ein ganz einfaches Ding: Alle sind schwarz angezogen, alle sind vermummt. Wenn einer Mist baut, findet keiner heraus, wer es war.

SB: Gibt es so etwas wie ein revolutionäres Grundverständnis?

Emrah: Natürlich gibt es das, aber das ist wiederum wie überall in der linken Politik sehr gespalten.

SB: Inwiefern?

Emrah: Du hast genau wie überall anders den antiimperialistischen Schwarzen Block, den antideutschen Schwarzen Block oder propalästinensischen Schwarzen Block. Das, was den Schwarzen Block von der restlichen Demo unterscheidet, ist, daß diese Leute trotz ihrer unterschiedlichen politischen Ansichten dort zusammen stehen und zusammen kämpfen.

SB: Du warst heute auf einem Schiff mit lauter Leuten aus der Linkspartei und hast dich zu der öffentlichen Sitzung der linken Landtagsfraktion gesetzt. Was hat dich dazu bewogen, in eine Szene zu gehen, die eigentlich nicht deine Szene ist?

Emrah: Warum nicht meine Szene? Es ist die linke Szene, und ich bin der Meinung, daß man sich unterstützen sollte, wo man kann, solange es vertretbar ist. Das ist jetzt vielleicht nicht die Art von Demo, auf die ich normalerweise gehe, allerdings muß man dazu sagen, daß diese Leute eine sehr gerade Linie verfolgen, jetzt nicht unbedingt die Linkspartei, aber die Truppen-raus-aus-Afghanistan-Bewegung verfolgt eine sehr strukturierte Linie, die sie, wie man zugeben muß, auch sehr gezielt durchsetzen. Und so etwas verdient Respekt. Respekt ist sehr wichtig unter Menschen.

SB: Nehmen wir an, du wärst ein Berater der Linkspartei, was würdest du der Linkspartei empfehlen, um mehr Zuspruch von migrantischen Jugendlichen zu erhalten?

Emrah: Das ist schwer. Das Problem vieler linker Gruppen ist natürlich immer, daß viele Abiturienten, viele Gymnasiasten, viele Studenten darunter sind, was im Endeffekt nicht weiter schlimm ist, aber zum Problem wird, wenn du Immigranten oder Hauptschüler auf die Straße stellen willst. Dann kannst du da nicht hingehen und in einem Satz 2.000 Fremdwörter benutzen. Dann mußt du mit denen auf einer Augenhöhe reden. Wenn du denen was von Kapitalismus erzählst, dann gucken die meisten mit einem Fragezeichen im Gesicht, weil keiner von denen weiß, was Kapitalismus ist. Denen mußt du das erklären. Ich will ein gutes Beispiel dafür geben. Ich hatte vor zwei Jahren einen Bildungsstreik hier in Bonn organisiert. Wir hatten dann eine Vollversammlung an einer Hauptschule in Hennef, die ich mit einem Kollegen von mir gemacht habe, der Chemie studiert. Was dann folgte, war ganz klar vorherzusehen. Der stand kaum auf der Bühne, da flogen Papierkugeln herum und alle haben dazwischengeredet. Dann bin ich auf die Bühne gegangen und habe gesagt, haltet die Fresse, hört zu, ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen. Dann war Ruhe im Saal.

SB: Wie bist du dazu gekommen, dich für Themen wie Kapitalismuskritik oder Antikapitalismus zu interessieren? Wolltest du theoretisch weiterkommen oder würdest du sagen, das kann man alles auch aus dem Bauch heraus machen?

Emrah: Jeder soll es machen, wie er denkt. Ich persönlich habe eine Tochter, und dann habe ich angefangen, auf Bildungsstreik-Demos zu gehen, weil ich nicht wollte, daß meine Tochter durch die gleiche Hölle muß wie ich. Dann ist man da so hereingeraten, hat Leute kennengelernt, die einen auf eine Antifademo mitgenommen haben. Und dann hat man sich das erste Mal über Marx, Lenin, Anarchismus etc. informiert. Das hat mir sehr gut gefallen. Um einmal einen Kollegen zu zitieren: Es ist doch super, Mercedes und große Villen für alle beim Kommunismus, was wahrscheinlich nicht so umsetzbar ist, aber im Prinzip ist es eine gute Idee, daß man die Bevölkerung gleichstellt, egal ob Arzt, Anwalt oder Bauarbeiter, jeden stellt man gleich.

SB: Hältst du es für wünschenswert, sich zum Beispiel in dieser Richtung fitter zu machen, daß man dann den Leuten, die hier in der Gesellschaft die Eliten bilden und, wie du sagtest, über die sprachliche Befähigung verfügen, wirklich Paroli bieten kann, nicht nur auf der Straße, sondern überhaupt?

Emrah: Natürlich. Ich möchte jeden darüber informieren, daß wir in jeder größeren Stadt eine antiimperialistische oder antikapitalistische Gruppe haben, wenn ihr Glück habt sogar eine Antifagruppe. Wendet euch an sie. Sie werden euch mit Sicherheit liebend gerne alles erklären. Das ist eine gute Sache, auf die Straße zu gehen und für das einzustehen, was man denkt.

SB: Ich meine jetzt nicht nur, daß man die Leute aus einer Arm-gegen-reich-Perspektive überzeugt, sondern daß man auch genauer durchblickt, wie dieses System funktioniert.

Emrah: Das Traurige an der Sache ist ja, daß viele nicht einmal in der Partei Die Linke durchblicken, wie das System überhaupt funktioniert. Eben auf dem Boot saß einer neben mir, der zu mir gesagt hat, ich als Linksradikaler bin nicht besser als ein Nazi. Das finde ich in der Aussage an sich schon verwerflich, weil ich glaube, daß dieser Mann seinen Job nicht gemacht hat. So einer sitzt dann in der Linkspartei.

SB: Das war ein Mitglied der Linkspartei?

Emrah: Das war ein Mitglied der Linkspartei, sogar vom Vorstand. Klar, Philosophie und Reden halten sind ganz wichtig. Leute, die reden und sich artikulieren können, sind ganz wichtig, aber genauso wichtig ist der Aktivismus. Was wäre Lenin ohne seine Organisation? Was wäre Castro ohne seine Leute gewesen? Nichts.

SB: Emrah, vielen Dank für das Gespräch.

Emrah - Foto: © 2011 by Schattenblick

Emrah
Foto: © 2011 by Schattenblick

18. Dezember 2011