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INTERVIEW/097: Petersberg II - Claudia Haydt, Informationsstelle Militarisierung (IMI) (SB)


Interview mit Claudia Haydt am 4. Dezember 2011 in Bonn


Seit 15 Jahren analysieren und bewerten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung e.V. in Tübingen Entwicklungen gesellschaftlicher, militärischer und sicherheitspolitischer Art aus friedenspolitischer Sicht. Dem Selbstverständnis der Organisation "als ein Mittler zwischen der Friedensbewegung und der wissenschaftlichen Bearbeitung von Konflikten und Konfliktkonstellationen durch die Wissenschaft" [1] gemäß bieten sie antimilitaristischen Aktivistinnen und Aktivisten die Möglichkeit, kritische Erkenntnisse über internationale Kriegführung und Besatzungspolitik, über den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg oder die Verschränkungen zwischen Militär und Zivilgesellschaft zu erweitern und zu vertiefen. Für diese Arbeit wurde IMI dieses Jahr der Aachener Friedenspreis verliehen [2]. Claudia Haydt vom Vorstand der IMI beantwortete dem Schattenblick auf der Internationalen Antikriegskonferenz anläßlich der Bonner Afghanistankonferenz Anfang Dezember einige Fragen.

Claudia Haydt - Foto: © 2011 by Schattenblick

Claudia Haydt
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Der Informationsstelle Militarisierung wurde in diesem Jahr der Aachener Friedenspreis verliehen. Im Vorfeld kam es allerdings zu einigen Irritationen. So wurde dem Aachener Friedenspreisträger Walter Herrmann der Vorwurf des Antisemitismus gemacht. Wie sind Sie persönlich damit umgegangen?

Claudia Haydt: Das Grundproblem mit dem Antisemitismusvorwurf ist, daß er zur Zeit inflationär benutzt und so leider jeglichen Kerns entledigt wird. Interessanterweise dient er nur noch als Kampfbegriff gegen linke Gruppierungen. Ich habe das Gefühl, daß er auch ein gewisses Maß an Verunsicherung erzeugen soll. Wir sind uns dieses Klimas bewußt, und daher fragen wir zuerst einmal, warum ein solcher Vorwurf erhoben wird. Nachdem wir unter den Aktivisten des Aachener Friedenspreises nichts finden konnten, was den Vorwurf rechtfertigen würde, war das für uns kein großes Problem mehr. Aber grundsätzlich ist es schon so, daß wir genau hinschauen, und das gilt bei solchen Vorwürfen im besonderen.

SB: Der Aachener Friedenspreis hat immer ein großes Renommee gehabt. Glauben Sie, daß dieser Ruf beschädigt worden ist, oder sehen Sie darin nur einen innerlinken Streit?

CH: Zumindest für die Region Aachen und die regionalen Zeitungen war es leider nicht nur ein innerlinker Streit, sondern hat auch die Mainstreammedien erreicht. Deswegen vermute ich, daß der Verein durchaus einen gewissen Schaden genommen hat. Wir wollten nicht noch weiter dazu beitragen, indem wir uns einmischen, was wir, bevor wir den Preis bekommen haben, auch niemals gemacht hätten. Schließlich wollen wir nicht, daß wichtige Begriffe als Kampfbegriffe benutzt und so in ihren Kernaussagen zerstört werden.

SB: Ist die Informationsstelle Militarisierung von antimilitaristischen Aktivistinnen und Aktivisten gegründet worden?

CH: Ja natürlich. Wir haben die Informationsstelle Militarisierung 1996 in Tübingen gegründet. Der äußere Anlaß war die Aufstellung des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Calw, praktisch eine Nachbarstadt von Tübingen, gerade einmal eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Als wir Studenten der Politikwissenschaft, die damals noch links bei den Grünen oder zum Teil auch Linke in der SPD waren und aus unterschiedlichsten antimilitaristischen politischen Zusammenhängen kamen, angefangen haben, Materialien darüber zu sammeln, was eigentlich in Calw passiert, haben wir bald gemerkt, daß sich niemand wirklich dafür interessiert. Die herkömmlichen Friedensorganisationen waren sehr darauf fixiert, daß die Blockkonfrontation vorbei ist und die Armeen abgerüstet werden.

Der Vorwurf lautete, wie könnt ihr denn jetzt behaupten, daß da auf einmal eine neue aggressive Außenpolitik betrieben wird. Dafür gäbe es nicht die geringsten Anhaltspunkte. Wir haben allerdings gesagt, wer immer so eine Truppe aufstellt, der setzt sie auch ein oder hat Konzepte für ihren Einsatz. Auf diese Weise hatten wir eine Marktlücke entdeckt und auch eine Aufgabe für uns gefunden, die explizit zu verfolgen Sinn machte. Es ging darum, kritische Informationen vor allem über die deutsche Militärpolitik zusammenzustellen, die aus unserer Sicht neue deutsche Großmachtansprüche begründete, vor allem durch die Art und Weise, wie diese vorbereitet und umgesetzt werden sollten. Mir wäre es nur recht gewesen, wenn wir uns geirrt hätten, aber wie die letzten 15 Jahre gezeigt haben, war es nötig, die Entwicklung zumindest kritisch zu begleiten.

SB: Haben Sie den Eindruck, daß der Bedarf an kritischen Informationen aufgrund dieser Entwicklung steigt? Verfügen Sie über objektive Möglichkeiten, das anhand der Verbreitung der IMI-Publikationen zu überprüfen?

CH: Wir haben mehrere Indikatoren dafür, wie sehr die Informationen, die wir produzieren, gefragt sind. Der eine Teil ist die Anfrage von Referenten. Jeder von uns könnte jeden Tag auf mehrere Veranstaltungen gehen und dennoch könnten wir nur einen Bruchteil dessen bedienen, was tatsächlich von uns angefordert wird. Das versetzt uns auch in die wunderbare Situation, daß wir auswählen können, wo wir hingehen wollen und was für uns strategisch wichtig ist, aber umgedreht zeigt sich natürlich auch, daß wesentlich mehr Menschen gebraucht werden, die kritische Informationen zur Verfügung stellen. Wir sind nicht besonders glücklich darüber, eine der wenigen Gruppen zu sein, die dieses Feld bearbeiten, und hätten es lieber, wenn sich mehr Menschen daran beteiligten.

Das Positive dabei ist, daß es uns über 15 Jahre gelungen ist, stets neue Menschen für unsere Sache zu gewinnen, also auch mehr Mitglieder zu bekommen. Wir leben praktisch von deren Beiträgen. Mitgliedsbeiträge und Spenden sind unsere feste Bank. Davon können wir leben, weil immer genügend Leute dazu gekommen sind. Wir haben zuerst ein kleines Büro gehabt, dann ein größeres und ein zweites und können jetzt nach Bedarf weitere Flächen zum Lagern anmieten. Durch die Mitglieder und den Zuspruch ist es uns möglich geworden, zumindest so zu arbeiten, wie wir es tun. Ich weiß, daß andere Vereine größere Probleme haben, überhaupt den Status quo zu halten. Uns gelingt es wenigstens, einen gewissen Drive nach vorne zu haben. Wir könnten sicher noch vieles mehr gebrauchen, vor allem Gehälter für Mitarbeiter, was wir kaum schaffen. Aber zumindest besitzen wir eine arbeitstechnische Infrastruktur. Das ist schon gar nicht schlecht.

Das ist der eine Teil des Indikators, der andere sind die Printpublikationen, die in der Regel sehr gut laufen. Daß wir sie auch vertreiben können, liegt vornehmlich daran, daß wir versuchen, keinen Gewinn daraus zu ziehen, sondern sie zum Selbstkostenpreis anzubieten. Bei unserem Online-Vertrieb können wir nachvollziehen, wie häufig unsere Texte abgerufen werden. Daran gemessen gehören wir innerhalb der deutschen linken Seiten sicherlich zu den Großen. Ich habe das jetzt nicht im Kopf, aber IMI zählt zu den drei meistbesuchtesten Seiten im linken Spektrum, obwohl wir eine sehr textlastige Seite sind. Darüber beschweren sich viele, da sie gern ein paar Bilder mehr zum Anschauen hätten, aber sie gehen trotzdem auf die Seite.

SB: Bestreiten eure Mitarbeiter ihren Lebenserwerb mit der Tätigkeit bei IMI?

CH: Nur begrenzt. Uns ist es seit ungefähr zwei Jahren möglich, denjenigen, die sonst kein anderes Einkommen beziehen, teilweise diese eigentlich sozialpolitisch schwierigen, aber sozialversicherungspflichtigen Minijobs anzubieten. Weil es in der Regel Honorare für Vorträge gibt, wird der Lohnbeutel aufgebessert. So ist es uns gelungen, komplett aus dem Ehrenamt herauszukommen und den Menschen eine Absicherung zu geben, damit niemand Hartz IV ausgeliefert ist. Aber es sind keine klassischen Jobs, die auch nur annähernd nach Tarif bezahlt werden, was sicher ein Problem ist, aber diejenigen, die das machen, wollen das auch machen. Zweifelsohne gehört dazu viel Idealismus. Und dann gibt es einige wie mich, die andere Jobs haben und zusätzlich bei der IMI arbeiten. Wir haben alles vom wissenschaftlichen Mitarbeiter bis zum Reiseleiter und ein breites Spektrum von Menschen, die verschiedene andere Berufe ausüben und dann eben ehrenamtlich bei der IMI tätig sind. Ohne diese Menschen, die fest im Büro sitzen, würde das gar nicht funktionieren.

SB: Woher beziehen Sie Ihre Expertise? Kommen die Mitarbeiter aus dem sicherheitspolitischen Spektrum?

CH: Ich würde sagen, 90 Prozent unserer Quellen sind offen zugänglich. Es sind Informationen, die man im Internet finden kann, sei es in Regierungsverlautbarungen oder in Armeendokumenten. Die NATO hat den Großteil ihrer Strategiepapiere tatsächlich öffentlich verfügbar gemacht. Das will nur niemand zur Kenntnis nehmen. Allerdings sind sie im Netz im Militärjargon verfaßt, weswegen wir sie so aufzubereiten versuchen, daß sie jeder zumindest verstehen kann. Wir leisten damit einen wichtigen Übersetzungsdienst, denn die Militärpapiere sind mit Absicht so geschrieben, daß sie niemand versteht, aber ihre Urheber behaupten können, daß sie alles offenlegen. So stellt das Militär sicher, daß kein Widerstand aufkommen kann, weil die Menschen mit der Sprache überfordert sind.

Um so wichtiger ist es, daß wir von den Texten und Dokumenten dieser Sicherheits-Community Übersetzungsarbeiten für die Friedensbewegung machen. Daran sind viele Menschen interessiert, auch kommen immer mehr Studenten auf uns zu und wollen Informationen haben. Sie fragen etwa: Wir müssen eine Seminararbeit schreiben über Responsibility To Protect, über humanitären Interventionismus, könnt ihr uns nicht Tipps geben, wie wir das kritischer gestalten können? Das funktioniert sehr gut. Zum Teil benutzen auch Professoren unsere Materialien als Grundlage für Seminare, wie zum Beispiel neulich unsere UN-Broschüre, in der es darum geht, wie die UN militarisiert wurde. Wir haben dabei festgestellt, daß es eigentlich nichts Vergleichbares im sonstigen wissenschaftlichen Bereich gibt, weswegen selbst Universitäten auf unser Material zurückgreifen. Auch wenn sie unsere Ansichten nicht teilen, erkennen sie, daß es sich um Informationen handelt, die man zur Kenntnis nehmen muß. Für uns ist es natürlich schön, daß wir so auch in den Wissenschaftsbereich hineinwirken können, der die Grundlage für politische Weiterentwicklung ist.

SB: Die IMI-Mitarbeiter haben im wesentlichen einen akademischen Hintergrund. Daraus könnte man schließen, daß IMI eine Art Think Tank darstellt, allerdings aus einer Ecke heraus, in der es normalerweise keine Think Tanks gibt.

CH: Ja. Die meisten Think Tanks, die es in der Welt gibt, sind entweder rechts, rechtsliberal oder rechtskonservativ. Wirklich linke Think Tanks sind mir nur selten untergekommen. Es gibt ein paar ganz wenige. Wir verstehen uns auch so und haben dafür den Aachener Friedenspreis bekommen. Es war Teil der Begründung, daß IMI als ein Think Tank der Friedensbewegung fungiert. Am Anfang dachten wir, bescheiden wie wir sind, daß es völlig übertrieben wäre, uns so zu benennen. Dann haben wir aber gemerkt, daß wir tatsächlich diese Funktion erfüllen. Und irgendwann ist man auch stolz auf das, was man macht.

SB: Antimilitaristische Arbeit ist im NGO-Bereich kaum präsent. Hingegen gibt es viele NGOs, die im Rahmen der Zivilmilitärischen Zusammenarbeit in Kriegsprojekte eingebunden sind. Wie ist euer Selbstverständnis in dieser Hinsicht beschaffen?

CH: Wir sind eine Nichtregierungsorganisation, das läßt sich gar nicht wegdiskutieren. Und wahrscheinlich sind wir das mehr als die meisten anderen, die sich als solche bezeichnen. Wenn man sich Nichtregierungsorganisation nennt, aber 80 Prozent seiner Gelder von Regierungsquellen bezieht, dann ist man nur sehr begrenzt eine NGO. Im Entwicklungshilfebereich gibt es relativ viele, bei denen das der Fall ist, und auch im Sozialbereich existieren einige mit einem solchen Hintergrund. Ich gönne den Menschen ihr Geld. Das hat jetzt nichts mit Neid zu tun, sondern es ist einfach eine Frage der Unabhängigkeit. Ich glaube, je mehr es um den Kern von Macht geht, umso wichtiger ist Unabhängigkeit. Beim Militär und der Polizei geht es um nichts Geringeres als den Kern von Macht, und beides sind Instanzen, die wir sehr kritisch beobachten, deren Agieren und Planung wir aufmerksam verfolgen. Deswegen ist es nur logisch, daß wir keine staatlichen Gelder bekommen. Das kann gar nicht anders sein. Ich glaube, wir müßten sehr vorsichtig und selbstkritisch sein, wenn wir staatliche Gelder bekämen, denn dann hätten wir möglicherweise etwas falsch gemacht.

SB: Aber ihr habt kein Problem damit, eine Studie für die Partei Die Linke zu erstellen oder als Experten zu einer Anhörung im Bundestag geladen zu werden?

CH: Wir nehmen durchaus zur Kenntnis, was sich wo tut und welche Auseinandersetzungen sich anbahnen. Wir stellen uns nicht allen, aber nahezu jeder Debatte. Wenn in einem parlamentarischen Gremium zum Beispiel über die Zukunft der Zivilmilitärischen Zusammenarbeit debattiert wird und wir dazu eingeladen werden, dann nehmen wir das an und legen unsere kritische Positionierung dar. Man muß allerdings wissen, daß es für diese Bundestagsanhörungen kein Geld gibt. Das liegt unter anderem daran, daß die geladenen Experten in der Regel Angestellte zum Beispiel der Bundeswehr oder sonstiger Institutionen sind und von daher schon ein gutes Gehalt bekommen. Für uns ist es eher ein großer Aufwand, einen Tag hinzureisen, einen Tag abzureisen und einen Tag lang für Anhörungen zur Verfügung zu stehen und dafür kein Geld zu erhalten. Nicht, daß wir es einfordern, aber um darauf hinzuweisen. Wir wollen unseren politischen Standpunkt darlegen und wir erstellen auch so etwas wie Studien, aber immer unter der Voraussetzung, daß wir keinerlei inhaltliche Abstriche an unseren Forderungen machen. Wenn jemand unsere Positionierung teilt, kann das dann durchaus zum beiderseitigen Vorteil sein.

SB: Es können sich daraus allerdings auch Konfliktsituationen ergeben. So hat man Ihnen im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz seitens autonomer Gruppen den Vorwurf gemacht, dort als IMI-Mitglied an einer Podiumsdiskussion teilgenommen zu haben.

CH: Es ging um eine Debatte mit Wolfgang Ischinger, also dem Organisator der Sicherheitskonferenz, der zu dem Zeitpunkt vor zehn Jahren, als der Afghanistankrieg beschlossen wurde, Botschafter in Washington und maßgeblich für die sogenannte uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit den USA verantwortlich war, also den Kriegseintritt Deutschlands im Rahmen dieser neuen deutschen Militärpolitik vorantrieb.

Nichtsdestotrotz ist zu sagen, daß wir bessere Argumente als er haben und auch seine diplomatische Rechtfertigung mit klaren Fakten zerlegen können. Der Fehler aus meiner Sicht war, dies nicht an einem neutralen Ort zu machen wie an der Volkshochschule oder etwas Vergleichbarem, sondern sich in einem Haus zu treffen, das für linke emanzipative Gruppierungen bekannt ist. Eine solche Veranstaltung gewissermaßen im Wohnzimmer der linken Szene zu machen, war sicherlich eine falsche Entscheidung. Deswegen kann ich es nachvollziehen, warum sie gestört worden ist. Es hätte mehr Sinn gemacht, wenn wir die Veranstaltung selbst organisiert hätten, wozu ich gerne bereit gewesen wäre, weil ich diese Art der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, wo es um das bessere Argument geht, sehr spannend finde, wenn wir also die Personen für die Moderation gestellt und damit auch das Thema diktiert hätten, ohne uns von außen dreinreden zu lassen, wie es in einem Raum, der suggeriert, es geht nur um linke Inhalte, kaum zu vermeiden ist. Umgekehrt finde ich es aber auch ganz gut, daß Ischinger dabei gemerkt hat, daß die Debatte um Krieg und Frieden nicht wie jede andere ist, daß er, wenn es um Tod und Leben geht, auch mit Buhrufen und Widerstand rechnen muß. Jetzt nicht mit körperlichem Angriff, ich finde Argumente immer wichtiger als alles andere, aber er hat schon begriffen, daß er nicht willkommen ist. Ich denke, es war für ihn ein deutliches Signal, daß es Menschen gibt, die sehr gute Gründe haben, ihn und seine Position falsch zu finden.

SB: Würden Sie den Eindruck bestätigen, daß der Widerstand innerhalb der Linken gegen Krieg, obwohl immer mehr Konflikte militärisch ausgetragen werden, eher abnimmt? Auf Demonstrationen sind die Zahlen der Teilnehmer längst nicht mehr so hoch wie früher. So sollen gestern zwischen 3000 und 5000 Kriegsgegner zusammengekommen sein, ein bescheidenes Kontingent, wenn man bedenkt, daß gegen einen Krieg demonstriert wurde, der von Deutschland mitbetrieben wird.

CH: Ein zentraler Punkt könnte dabei sein, daß Menschen verwirrt sind, vor allem angesichts der Frage, was wäre, wenn die Bundeswehr aus Afghanistan abzieht. Da spielt ein Element, das ich immer stärker auch in der deutschen Innenpolitik erlebe, eine wichtige Rolle, nämlich das Phänomen der Islamophobie. Der Islam an sich wird als Problem betrachtet, das so schlimm und dämonisch sei, daß demgegenüber alles andere, was wir - wer auch immer dieses Wir letztendlich ist - machen, nicht so schlimm sei. Dann kann man Menschen bombardieren und sie mit Krieg überziehen, denn der Islam ist immer noch schlimmer. Das ist ein Phänomen, das sich immer mehr einschleicht und das ich für katastrophal halte. Deswegen denke ich, muß der Kampf nicht nur gegen die Militarisierung gehen, sondern auch gegen die Feindbilder und Konzepte, mit denen diese Militarisierung legitimiert wird.

Daher meine ich, daß wir auch gesellschaftliche Auseinandersetzungen führen müssen, bevor wir die Menschen wieder in größeren Zahlen auf die Straße kriegen. Allerdings sehe ich das nicht rückläufig, sondern Bewegungen haben Konjunkturen. Wenn Menschen das Gefühl haben, jetzt steht eine Entscheidung an, jetzt können wir etwas verändern, so wie zu Beginn des Irakkrieges, dann kriegt man sie auch massenweise auf die Straße. Wenn Menschen jedoch das Gefühl haben, daß das zu kompliziert ist, wird es auch schwierig, sie für die Straße zu mobilisieren. Aber ich merke, daß vor allem viele junge Menschen in letzter Zeit wieder Interesse an dem Thema bekommen. Sie wollen sich nicht von der älteren Generation sagen lassen, was sie alles falsch machen und was man früher schon alles gewußt hat, sondern ihren eigenen Weg finden. Da erlebe ich genügend wache und fitte Menschen, die bereit sind, sich wieder zu organisieren und Dinge zu verändern.

SB: Können Sie sich vorstellen, daß die soziale Frage, die jetzt in einem größeren Maße thematisiert wird, enger an die Frage des Krieges gekoppelt wird, weil es objektive Gründe dafür gibt, das eine mit dem anderen in einem Zusammenhang zu bringen?

CH: Für mich selbst hängen Frieden und Gerechtigkeit immer untrennbar zusammen. Es kann global keinen Frieden geben, wenn es nicht auch Gerechtigkeit gibt, vor allem wenn man die Frage der Verteilungsgerechtigkeit in den Blick nimmt. Was wir im Augenblick als imperialistische Kriege erleben, ist natürlich der Versuch der Reichen und Mächtigen, ihre Vorherrschaft zu erhalten und gegen andere zu verteidigen, die auch gerne reich und mächtig werden wollen. Es gilt aber auch, an armen Staaten, die die Spielregeln nicht mehr einhalten, ein Exempel zu statuieren. Afghanistan ist sicher ein Exempel. Wenn mit der NATO keine Verträge abgeschlossen werden, dann muß man mit Krieg rechnen. Das ist ein klares Signal, das damit gesendet worden ist.

Wir müssen diese Fragen überall zusammendenken. Wir von der Informationsstelle Militarisierung versuchen sowohl den globalen Kontext herzustellen als auch innenpolitisch darauf hinzuweisen. Obwohl wir angeblich eine Krise haben, bekommt das Militär immer mehr Geld, in den letzten zehn Jahre eine Steigerung von 40 Prozent, und das, obwohl wir von Verbündeten umgeben sind, während gleichzeitig im sozialen Bereich massiv soziale Rechte abgebaut worden sind. Die Menschen darauf hinzuweisen, daß die beiden Dinge zusammenhängen, ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit.

SB: Frau Haydt, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnoten:

[1] http://www.imi-online.de/uber-imi/

[2] http://www.aachener-friedenspreis.de/

IMI im Schattenblick:
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/ip_medien_altern_imi.shtml

Gespräch im LVR-Museum Bonn - Foto: © 2011 by Schattenblick

Claudia Haydt mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

27. Dezember 2011