Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/153: "Pfade durch Utopia" - was wäre wenn - 2 (SB)


Aktivismus und Kunst für neue Lebensformen

Interview mit Isabelle Fremeaux und John Jordan in Hamburg-Altona am 29. August 2012



Im zweiten Teil des Interviews mit Isabelle Fremeaux und John Jordan, das der Schattenblick anläßlich der Präsentation des Buchs "Pfade durch Utopia" [1] und des dazugehörigen Films [2] führte, geht es um soziale Fragen des Gemeinschaftslebens und ihr eigenes Projekt in der Bretagne.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

John Jordan, Isabelle Fremeaux
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Ihr habt etwa 30 Gruppen oder Projekte in Europa in die engere Wahl für eure Reise gezogen, die ihr für "Pfade durch Utopia" unternommen habt. Könntet ihr etwas über die Kriterien eurer Auswahl und die Gründe dafür, warum ihr bestimmte Gemeinschaften nicht besucht habt, berichten?

Isabelle Fremeaux: Die Auswahl der Projekte wurde auf eine sehr praktische politische Weise getroffen. So wollten wir nur Gemeinschaften besuchen, die nicht auf hierarchischer Basis organisiert sind, weil Gurus oder Führer nicht die Art von Politik repräsentieren, an der wir interessiert sind. Und es war sehr wichtig für uns, eine breite Diversität der Projekte zu haben, um der Mutmaßung entgegenzutreten, daß ein bestimmtes wunderwirkendes Konzept, eine bestimmte Lösung propagiert werden sollte. Uns lag viel daran, die Gemeinschaften und Projekte eher als Experimente und Laboratorien denn als Modellvorstellungen zu betrachten. Daher konzentrierten wir uns auf die Bereiche Erziehung, Produktion, Sexualität und urbane Umgebungen. Weil die Vielfalt der vorgestellten Gemeinschaften uns so wichtig war, mußten wir eine Auswahl treffen. Als wir bereits viele selbstverwaltete Landwirtschaftsbetriebe ausgewählt hatten, bevorzugten wir eher Projekte, die mit anderen Themen befaßt sind. Das führte letztlich zu einem ausgeglichenen Verhältnis.

Es gab auch einige praktische Gründe für unsere Auswahl. So hatten wir nur sieben bis acht Monate Zeit für die Reise, weil ich mir ein Jahr von der Arbeit an der Uni freigenommen hatte und diesen Zeitraum nicht weiter ausdehnen konnte. Zudem mußten wir in Betracht ziehen, daß wir nicht zu weit reisen konnten. So weit ich mich erinnere, gab es kein Projekt, das unsere Anfrage negativ beantwortet hätte.

John Jordan: Am schwierigsten war es tatsächlich genau zu bestimmen, wie lange wir bei dem jeweiligen Projekt bleiben wollten. Da wir nicht ein Buch über ein Projekt machen, sondern die Vielfalt der Lebensformen zeigen wollten, da wir aber auch keine Reise im Schnelldurchgang nach dem Motto "Je einen Tag in 500 Utopias" unternehmen wollten, mußten wir eine zeitliche Balance zwischen den verschiedenen Stationen der Reise finden. Wir gelangten schließlich zu dem Schluß, daß zwei Wochen pro Projekt ein guter Zeitraum wäre.

IF: Über einige Ziele haben wir länger nachgedacht. So überlegten wir, ob wir Indymedia mit auf die Liste der vorzustellenden Projekte nehmen sollten. Wir merkten jedoch, daß wir dazu auch einen konkreten Ort benötigten, zu dem wir fahren konnten, und das war bei Indymedia eher schwierig.

SB: Habt ihr noch über ein anderes Reiseziel in Deutschland nachgedacht als das Zentrum für experimentelle Lebensgestaltung (ZEGG) im brandenburgischen Belzig?

JJ: Wir dachten über Sieben Linden nach.

SB: Es gibt hier ja noch einige Landkommunen wie etwa Niederkaufungen oder Tempelhof.

IF: Es gibt hunderte von Landkommunen in Deutschland. Wir haben uns letztlich auf das ZEGG konzentriert, weil wir bereits mehrere Landkommunen besucht hatten. Daher war es eher Ergebnis eines Ausschlußverfahrens, eben dieses Projekt zu wählen. Wir wollten einfach nicht das Risiko eingehen, daß das Buch vermitteln würde, man brauche nur aufs Land zu ziehen, eine Kommune aufzumachen und alles wäre bestens. Das wäre zwar keine gefährliche Botschaft gewesen, aber eben unbefriedigend. Ohnehin wird bei den Vorführungen des Films häufiger angemerkt, daß wir nicht genügend Gemeinschaftsprojekte in Städten besucht hätten. Dort gibt es viele Menschen, die auf der Suche nach Alternativen sind.

SB: Mein Eindruck war, daß ihr viel Wert auf ökologische Projekte, auf die Vorzüge des Landlebens und einer möglichst wenig zerstörerischen Landwirtschaft gelegt habt. Stimmt das?

JJ: Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Wenn man zum Beispiel Christiania nimmt, dann liegt es in einer nicht sehr umweltfreundlichen Stadt. Die besetzte Fabrik im serbischen Zrenjanin steht in einer Stadt, produziert pharmazeutische Artikel und ist ein Industriebetrieb. In Marinaleda arbeitet man ökologisch, aber der soziale Aspekt ist dort wichtiger, Can Maseu ist ökologisch, aber liegt am Rand einer Stadt. Selbst Land Matters mit ihrem sehr ökologischen Profil ist eine sozial orientierte Gemeinschaft, weil die Ethik der Permakultur darauf abstellt, daß Menschen sich umeinander wie um die Erde kümmern. So haben wir das ganze Spektrum abgedeckt.

John Jordan - Foto: © 2012 by Schattenblick

Soziale Beziehungen im Spiegel des Naturverhältnisses Foto: © 2012 by Schattenblick

Wir selbst verstehen uns als ökologische Antikapitalisten, unserer Ansicht nach mündet der Kapitalismus in ökologische Katastrophen. Uns geht es mehr um die Auswirkungen, die das auf die Menschen haben wird, als daß wir einer Art tiefenökologischen Doktrin anhängen. Ich halte natürlich alles Leben für wertvoll, doch wenn wir das Leben auf der Erde zerstören, wird es vermutlich in ein paar Millionen Jahren wiederkehren. Was uns wirklich beschäftigt, sind die Auswirkungen, die jede ökologische Katastrophe auf die Nahrungsmittel, auf das Land, auf die Möglichkeit der Menschen, sich zu ernähren und ein gutes Leben zu führen, haben wird. Gleichzeitig sind wir der Ansicht, daß ökologisches Denken sehr gut dafür ist, miteinander in Kontakt zu treten und zu erkennen, daß wir, wenn wir weiterhin die natürliche Welt zerstören, uns auch gegenseitig unterdrücken werden. Diese beiden Dinge sind vollständig miteinander verknüpft. Wir können nicht damit aufhören, uns gegenseitig zu schaden, ohne damit aufzuhören, der Natur zu schaden. Sie lehrt uns zusammenzuleben, gegenseitige Hilfe zu gewähren und förderliche Beziehungen aufzubauen. Indem wir Ökosysteme studieren, können wir auch unsere eigene Lebensweise untersuchen und gegen eine sozialdarwinistische Vision der Welt stellen, in der Natur als Objekt des Wettbewerbs um Ressourcen gehandelt wird.

SB: Was habt ihr für Erfahrungen damit gemacht, wie die verschiedenen Gemeinschaften ihre sozialen Beziehungen gestalten, wie sie mit Problemen der Aggression und Gewalt umgehen, zu denen es bei engerem Zusammenleben kommen kann?

IF: Auf so viele verschiedene Weise, als es unterschiedliche Gruppen gibt. Für mich war es eine der wichtigsten Erkenntnisse zu entdecken, daß es keine herausragende Form einer spezifischen Gruppe gab, Verhaltensformen und sozialen Beziehungen, Entscheidungsprozesse und Gewaltvermeidung zu organisieren. All das erfolgt auf ganz unterschiedliche Weise. Auch wenn uns einige Dinge mehr eingeleuchtet haben als andere, realisierten wir, daß es die Angelegenheit jeder Gemeinschaft selbst ist herauszufinden, wie sie ihre Probleme bewältigt. Ganz allgemein scheinen mir jene Gruppen, die seit langem zusammenleben, offener für Veränderungen zu sein als der Rest der Gesellschaft. Sie lernen geduldig, mit den Unterschieden zwischen Menschen umzugehen, und haben im Kleinen Methoden entwickelt, wie man Einverständnis erzeugt und mit Kontroversen umgeht.

JJ: Ich denke, Geschwindigkeit ist der Feind der Demokratie. Je schneller man sich fortbewegt, desto weniger demokratisch geht es zu. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts wird zusehends undemokratisch, weil es Zeit braucht, zu sprechen, zuzuhören, Entscheidungen zu treffen. Alle Kommunen hatten unterschiedliche Methoden entwickelt, um mit sozialen Problemen umzugehen. Einige gingen sehr systematisch vor, mit strukturierten Treffen und Prozessen, andere hielten sich völlig frei davon, riefen nicht einmal Gruppentreffen zusammen oder hatten keinen Sprecher. Wir selbst neigen eher zu strukturiertem Vorgehen. Tatsächlich benötigt Anarchismus eine Menge an Struktur.

SB: Wie verhält sich eine funktionsbezogene Struktur, die man in jeder Gruppe mehr oder weniger antrifft, zu dem Anspruch auf ein nicht hierarchisches Zusammenleben.

JJ: Ich glaube, wir müssen eines im Umgang mit Nichthierarchie lernen. Eine der wesentlichen Aufgaben lautet, die individualistischen Tendenzen zurückzunehmen, die der Kapitalismus in den letzten 200 Jahren entwickelt hat. Wir müssen verstehen lernen, daß Freiheit nicht bedeutet, daß das Individuum tut, was auch immer sie oder er gerade will, sondern daß es um Verantwortung geht. Das hat mehr mit einer Idee von Liebe zu tun, die den anderen Menschen dazu befähigt, frei zu sein. Es ist also eine Art dialektischer, auf Verantwortung basierender Prozeß, jemanden zur Freiheit zu befähigen und dies auch für sich selbst zu tun. Ich glaube, den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung zu erkennen und dabei zu lernen, wie sehr es darum geht, sich gegenseitig zuzuhören, ist eine der großartigsten Errungenschaften.

Während man dies mit persönlicher psychologischer Arbeit erreichen kann, gilt es zugleich keine Angst vor strukturiertem Vorgehen zu haben, die in der libertären Linken sehr ausgeprägt ist. Wir finden es wichtig zu betonen, daß man irgendeine Art von Struktur braucht, daß man Vermittler braucht und zum Beispiel mit Handzeichen bei der Arbeit kommunizieren kann. Wir bevorzugen klare und eindeutige Entscheidungsprozesse und sind in dieser Hinsicht von den 70er Jahren beeinflußt. Damals hat sich herausgestellt, daß der Verzicht auf Strukturen eine eigene Art von Tyrannei hervorbringen kann. Man konnte dabei zusehen, wie die Machtverhältnisse immer mehr aus der Balance gerieten, was in gewissem Maße natürlich immer der Fall ist, wenn einer über mehr Erfahrung und Wissen verfügt, älter ist, kulturell entwickelter ist, besser sprechen kann und so weiter.

Ich glaube, wir sollten die Kultur der Versammlung besser erforschen. Die Occupy-Bewegung war interessant, gerade weil sie Strukturen übernommen hat, die sich zum Teil in den 80er Jahren in der deutschen Friedensbewegung entwickelten, zum Teil von Friedensaktivisten in den Vereinigten Staaten ausgingen, dann wieder von der Antiglobalisierungsbewegung genutzt wurden und schließlich Occupy und die Klima-Camps beeinflußten. Viele dieser Strukturen mit Vermittlungsfunktionen und Handsignalen und Konsensbildung waren großartig, aber es gab keinen äußeren Rahmen. Jeder konnte an einem Occupy-Treffen teilnehmen, man konnte nach der Hälfte kommen und gehen oder einfach auftauchen und Entscheidungen treffen, so daß es nicht wirklich wie direkte Demokratie funktioniert hat. Man könnte es vielleicht als Plattform zum Erproben direkter Demokratie begreifen, aber es hat auch gezeigt, daß man Grenzen benötigt. Direkte Demokratie heißt nicht nur, diesen Strukturen Raum zu geben, man benötigt auch eine Art von Umgrenzung, damit man zu Resultaten gelangt.

IF: Wir brauchen Begrenzungen und Stabilität. Der Schwachpunkt der Occupy-Bewegung in London bestand in dem Mangel an Stabilität, in dem Problem, eine längere Serie von Versammlungen mit den gleichen 100 Menschen zustandezubringen. Wenn man eine ständige Fluktuation von Leuten hat, dann ist es zwar sehr inspirierend zu sehen, wie sie das erste Mal entdecken, daß sie eine eigene Stimme haben, aber gleichzeitig mangelt es an Verbindlichkeit. Es war sehr schwierig, eine starke Bewegung aufzubauen

Meiner Ansicht nach wird zu häufig der Fehler gemacht, Struktur mit Erzwingung zu verwechseln. Der Unterschied besteht genau darin, daß Struktur Erzwingung ausschließt. Ich fand es allerdings sehr interessant an einigen Orten zu erleben, daß zu viel Formalismus und Strukturierung im Leben der Gruppen wie eine Art von Erzwingung wirkten. Ich denke, hier wäre ein neuer Lernprozeß erforderlich. Estelle Friedman hat geschrieben, daß tiefliegende Formen der Repression, die in diesen völlig informellen Strukturen, bei denen es sich nichtsdestotrotz um Strukturen handelt, nicht erkannt werden, die Neigung haben, wieder an die Oberfläche zu kommen. All die uneingestandenen Unterdrückungspraktiken um Gender und Klasse sind vorhanden, während eine sichtbare Struktur zumindest in Frage gestellt werden kann.

SB: Ihr habt die Kommunebewegung der 70er Jahre damit charakterisiert, daß sie sich auf utopischen Inseln isolierte und damit den Kämpfen um die Veränderung der Gesellschaft auswich. Wie sieht euer Konzept dafür aus, eine Alternative auf dem Land aufzubauen, ohne gleichzeitig diese Form von Rückzug anzutreten?

JJ: Ich glaube das Problem bestand darin, daß es in den 70er Jahren zu einem Bruch in der Bewegung kam. Die Straßenkämpfer brannten aus, während die Utopisten ihre Inseln bezogen, ein gutes Leben führten und auf diese Weise nicht so schnell ausbrannten. Sie vergaßen jedoch den Gegner, sie vergaßen, daß sie zur Überwindung des Kapitalismus angetreten waren und daß Kommodifizierung ein permanenter Prozeß ist. Auf diese Weise verwandelten sie sich in Laboratorien, in denen neue liberale Formen der Kapitalverwertung Gestalt annahmen. Wenn Projekte nur Alternativen aufzeigen, dann scheint das unvermeidlich zu sein, wie man am zeitgenössischen Kunstbetrieb sehen kann, wo in radikalökologischen Kunstprojekten auf jeden Widerstand gegen den Kapitalismus verzichtet wird, so daß die herrschenden Verhältnisse lediglich in neue Formen gegossen werden.

Für uns ist es sehr wichtig, daß das Projekt selbst beides beinhaltet, das Ja und das Nein, das Erschaffen und den Widerstand. Es ist sehr schwierig und kostet viel Energie, beides miteinander zu vereinbaren, aber wir sind der Ansicht, daß, wenn man nur eins von beidem macht, die Gefahr besteht, entweder auszubrennen oder wieder vereinnahmt zu werden. In gewisser Weise ist dies für uns der größte Kampf, diese alternativen Lebensformen zu entwickeln, während man sich widerständig zeigt und eine Gegenkraft zum Bestehenden ist. Wir beanspruchen keinesfalls, dafür die Lösung zu wissen.

IF: Ich will noch auf die Frage eingehen, wie man damit umgeht, wenn jemand in einer Gruppe kapitalistische und urbane Positionen vertritt. Für mich ist das ein permanenter unabgeschlossener Arbeitsprozeß, weil wir selbst von diesen Einstellungen bestimmt sind. Nur weil man ein Gemeinschaftsprojekt gründet, hat man es nicht plötzlich mit einem magischen Ring umgeben, hinter dem alles verschwindet, wenn man ihn nur einmal durchschritten hat. Es hat sehr viel damit zu tun, sich darüber bewußt zu werden, was man tut, und all diese automatischen Reaktionen auf Eigentumsansprüche in Frage zu stellen. Ich finde an einem solchen Projekt interessant, Widerständigkeit und alternatives Leben praktisch parallel zu entwickeln, offen gegenüber Leuten zu sein, die sich dafür interessieren, und die eigenen Erkenntnisse weiterzutragen.

Die bloße Idee von Utopia geht in einem fortwährenden Prozeß auf, der eben nicht darauf fixiert ist, in einem Augenblick die ultimative Lösung herauszufinden. So etwas könnte zur Folge haben, daß ich jede Bewegung und jeden Fortschritt aufgebe, weil ich ja das perfekte Bewußtsein, die perfekte Gemeinschaft gefunden habe. Für mich verändert sich das stetig und wird niemals Perfektion erlangen, und der Prozeß der Überwindung des Kapitalismus wird sich vermutlich über Generationen erstrecken.

SB: Haben sich die Arbeiten John Holloways auf eure Ansichten ausgewirkt?

JJ: "Change the World Without Taking Power" war ein wichtiges Buch für uns, und wir haben ihn einige Male sprechen hören. Er arbeitet mit vielen unserer Freunde zusammen und ist stark von der Zapatista-Bewegung beeinflußt, die für uns ein wichtiger Bezugspunkt ist.

IF: Ich denke, die Schriften der Zapatistas sind für uns wichtiger als diejenigen Holloways.

SB: Die Zapatistas folgen einem Konzept von Kollektivität, das dem Bedürfnis, sich als Individuum zu präsentieren, keine besondere Bedeutung zuweist. Das ist für Europäer eine völlig ungewohnte Art und Weise, sozial zu agieren.

IF: Ich habe nie den Eindruck gehabt, daß das Individuelle in der Ideologie und Kosmologie der Zapatistas verworfen wird. Für mich ist es eine sehr poetische und mächtige Art, die Individualität zurück auf das westliche Bewußtsein zu reflektieren, was sehr gut funktioniert. Gleichzeitig sind alle Mitglieder der Zapatistas mit ihrem Vornamen bekannt. Die Verneinung des Individuums herrscht für mich eher in der traditionellen radikalen Linken vor, wo tatsächlich der Drang besteht, das Individuum zu zerstören und durch das Kollektiv zu denken. Ich glaube, daß die Zapatistas versucht haben, ihre Masken wie Spiegel zu verwenden.

Isabelle Fremeaux - Foto: © 2012 by Schattenblick

Nicht auf perfekte Lösungen hereinfallen
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Könntet ihr noch etwas zu eurem eigenen Projekt in der Bretagne sagen?

IF: Es besteht seit einigen Monaten, seit wir im Januar dorthingezogen sind. Wir haben es schließlich geschafft, sieben Hektar Agrarland zu erstehen, auf dem ein großes, seit 15 Jahren verlassenes Bauernhaus steht. Es macht also sehr viel Arbeit, das Projekt in Gang zu bringen. Wir haben es als Ensemble sehr spezifischer und gleichzeitig interdependenter Projekte konzipiert, also praktisch als Fortsetzung der Arbeit, die wir mit dem "Laboratory of Insurrectionary Imagination" begonnen haben, auf dem Land. Dort soll es permanent etabliert werden etwa im Sinn einer Schule oder eines Laboratoriums für Kunst und Aktivismus. John bezeichnet es gerne als "Bauhaus für das 21. Jahrhundert".

JJ: Die Frage ist, wie ein postkapitalistisches postindustrielles Bauhaus aussehen würde und wie wir über Kunst in einer solchen Gesellschaft nachdenken wollen.

IF: Neben dem Laboratorium gibt es noch eine selbstverwaltete Autowerkstatt.

JJ: Die funktioniert wie ein Fenster zur örtlichen Bevölkerung. Jeder braucht ein Auto, und wir bieten ihnen an, ihr Auto in aller Ruhe mit Werkzeug, das wir zur Verfügung stellen, für wenig Geld zu reparieren. Wir wollen in der Werkstatt auch Windkraftanlagen bauen und andere Formen alternativer Produktion entwickeln.

IF: Es gibt zwei weitere Projekte. Eine Landwirtin ohne Land hat sich uns angeschlossen. Sie will organischen Gemüseanbau betreiben und die mobile vegane Küche damit beliefern, die ein Mitglied des Kollektivs betreibt. Sie kann dann die Verpflegung der Besucher in den Workshops übernehmen, die wir seit vier Jahren abhalten. Die Projekte ergänzen einander, sie sind zugleich autonom und miteinander verbunden.

JJ: Zudem liegt der Hof in einem Teil Frankreichs, wo die Zusammenarbeit mit der örtlichen Bevölkerung sehr gut ist, was sehr wichtig für uns ist. Wir sind keine Fremden, die dort eine Insel schaffen. Bei der Arbeit am Buch haben wir festgestellt, daß einige Gemeinschaften zehn Jahre brauchten, um ein lokales Netzwerk aufzubauen, deshalb stammen vier Mitglieder des Projekts aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Es ist bereits ein sehr gutes Netzwerk, was die Zusammenarbeit auf dem Gebiet radikaler Landwirtschaft betrifft. Wir haben tatsächlich die Absicht, die Region in eine Art autonome Zone zu verwandeln nicht nur in Hinsicht auf Nahrungsmittel, sondern auch andere Dinge. Es ist eine kleine Gruppe, aber sie hat einigen Einfluß.

SB: Kunst ist sehr wichtig für euch. Seht ihr darin eine Möglichkeit der Kommunikation oder der Selbstverwirklichung?

JJ: Für uns ist auch die Kunst ein lebenslanger Prozeß. Es geht darum, Aufmerksamkeit für jeden Aspekt des täglichen Lebens zu entwickeln. Im Buddhismus würde man das vielleicht Achtsamkeit nennen, im Christentum nennen wir es Kontemplation, aber die eigentliche Idee besteht darin, jede Aktivität in eine künstlerische Praxis zu verwandeln. William Morris spricht davon, daß Kunst die Freude an der Arbeit sei. Ob wir nun darüber nachdenken, wie wir die Fragen in einem Interview beantworten, ob wir Zeit damit verbringen, etwas für die Wasserversorgung zu konstruieren, ob wir Haare schneiden oder auf das Kind aufpassen, all das läßt sich darunter fassen. Es ist zudem nicht von Ethik zu trennen, es geht darum, wie schön es ist, das richtige zu tun. Eine angemessene Lebensführung ist eine schöne Kunstpraxis, und das wollen wir in der Gemeinschaft auf eine Weise versuchen, die gleichzeitig praxisbezogen und ästhetisch wertvoll ist.

Die Unterrichtung von Kunst ist vielleicht die kreativste und widerständigste Art, Künstler mit Aktivisten zusammenzubringen. Künstler verfügen über viel Kreativität, sie haben einen Sinn für Poesie, aber auch große Egos und nur sehr geringe Fähigkeiten zu einem kritischen Umgang mit sozialen Fragen. Viele Aktivisten haben demgegenüber ein großes Ausmaß an sozialer Kritikfähigkeit, können sehr gut im Kollektiv arbeiten, haben großen Mut zum Widerstand, machen sich aber wenig Gedanken darüber, wie man neue Möglichkeiten des gesellschaftlichen und politischen Engagements entwickeln kann. Wir versprechen uns davon, Künstler und Aktivisten miteinander in Kontakt zu bringen, daß daraus neue Formen der politischen Sprache, des politischen Ungehorsams und der Zusammenarbeit entstehen. Auf der Farm wollen wir diese Begegnungen längerfristig möglich machen als etwa in einem achttägigen Workshop wie hier auf Kampnagel. Er war großartig, aber wir wollen dies längerfristig machen, um tiefer in die Materie einzudringen.

SB: Habt ihr eine besondere Beziehung zum Konzept der Permakultur?

JJ: Ja, für uns ist es ein sehr nützliches Werkzeug für Philosophie und Gestaltung, das wir in vielen Bereichen unseres Lebens benutzen. Es ist sehr nützlich für den Aktivismus, für die Landwirtschaft, selbst für das Organisieren. Man kann viel lernen, wenn man die Muster und Prozesse der Natur, die man im Wald beobachten kann, auf den sozialen Aktivismus und die künstlerische Performance anwendet. Und natürlich ist es für uns eine Möglichkeit, ein tieferes Verständnis für Ökologie, Biologie und Wissenschaft zu entwickeln. Bei jedem Kurs konzentrieren wir uns auf eine bestimmte Spezies. Hier in Hamburg haben wir zum Beispiel Ameisen und Pilze untersucht. So kann man als Anarchist und Libertärer ein Verständnis dafür entwickeln, daß es sich bei der Natur um ein libertäres System gegenseitiger Unterstützung handelt. Davon können wir lernen, starke selbsttragende Sozialsysteme zu entwickeln, die kein großes Ausmaß an Energiezufuhr benötigen. Was wir zudem an der Permakultur schätzen, ist, daß sie besonderes Gewicht auf die Reduzierung von menschlicher Arbeit wie auch fossiler Energieerzeugung legt.

Bei vielen ökologischen Projekten erschöpfen sich die Leute beim Bearbeiten des Bodens und anderen Verrichtungen. Wir sehen keinen Grund dafür, beim Versuch, ein umweltverträgliches Leben zu führen, die Arbeitsstrukturen des Kapitalismus zu reproduzieren. Permakultur versucht, nur wenig Arbeitskraft in bereits bestehende und gut funktionierende Systeme der Natur zu stecken und diese in ihren Funktionen so weit wie möglich auf sich selbst beruhen zu lassen. Das ist ein überaus nützliches Prinzip. Gleichzeitig müssen wir natürlich eingestehen, daß wir das kaum beherzigen, sondern wie idiotische Roboter arbeiten, weswegen wir gerade sehr erschöpft sind.

SB: In eurem Film habt ihr die Schlachtung von Schweinen in Longo Mai gezeigt. Dies fand in dem Buch praktisch keine Erwähnung. Warum habt ihr Wert darauf gelegt, dies im Film zu zeigen?

IF: Wir fanden es wichtig , weil es das Leben auf einem traditionellen Bauernhof zeigt. Zudem meinen wir, daß man den Tod von Tieren anschauen sollte, weil viele Leute dies nicht tun. Wir selbst essen Fleisch, obwohl wir mit Veganern zusammenleben. In unserer Gesellschaft wird der Tod oft verleugnet. Er ist ein wesentlicher Motor des Kapitalismus, und wir wollten zeigen, was es bedeutet, Fleisch zu essen. Die Leute sollten nicht wegschauen, sondern sich mit Tod und Verfall und dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier auseinandersetzen.

SB: Das kann in der anarchistischen Bewegung zu größerem Streit führen, wie das Beispiel des anarchistischen Treffens in St. Imier gezeigt hat, wo die Frage des Verkaufs von Fleisch für erheblichen Unmut gesorgt hat.

JJ: Es besteht kein Zweifel daran, daß wir schon aus Gründen des Wasserverbrauchs und des Klimawandels damit aufhören müssen, Fleisch auf die bisher übliche Weise zu verzehren. Die industrielle Fleischerzeugung ist eine der ökologisch destruktivsten Produktionsformen, selbst wenn man nicht nur den Schutz der Tiere im Sinn hat. Massentierhaltung ist in Sachen Ökologie, Ressourcenverbrauch und klimaschädlichen Emissionen einfach kriminell. Es gibt auch Forschungsergebnisse, laut denen ein einziges Schwein in einer Dorfgemeinschaft ökologisch nachhaltiger sein kann als der Kauf von Tofu, das mit Soja aus Brasilien produziert wurde. Die industrielle Fleischproduktion ist zutiefst problematisch. Ich denke, wenn wir Tiere so behandeln wie bisher, dann wird sich auch unter den Verhältnissen zwischen Menschen nichts ändern.

IF: Ich glaube, daß diese Debatte sehr wichtig ist, weil sehr viel von dem verdrängt wird, was es eigentlich zu besprechen gibt. Es ist sehr viel einfacher über den Luftverkehr zu diskutieren und die Frage, ob man nicht damit aufhören sollte, Flugzeuge zu benutzen. Aber beim Thema Ernährung wird etwas sehr intimes angesprochen, daher wird dies als Angriff empfunden und die Leute fühlen sich verletzt. Das Verzehren von Fleisch ist eine dieser Konsumentenentscheidungen, die enormen Einfluß haben können. Ich bin zwar nicht der Ansicht, daß das Konsumverhalten beim Kampf gegen den Klimawandel eine vordringliche Rolle spielen sollte, weil es auf einen sehr individualistischen Zugang hinausläuft. Aber die Agrar- und Nahrungsmittelindustrien stellen so große Probleme dar, daß die Auseinandersetzung mit ihnen sehr wichtig ist. Es berührt mich immer zu sehen, wie aggressiv und respektlos die zwei Veganer unserer Gemeinschaft von anderen Leuten behandelt werden.

JJ: Sie sind aus verschiedenen Gründen vegan. In einem Fall geht es um Tierrechte, im anderen Falle um den Klimawandel, so daß selbst unter ihnen eine gewisse Diversität besteht. Ich glaube allerdings, daß wir in zehn Jahren nicht mehr auf die gleiche Art Fleisch essen werden, wie es heute noch üblich ist. Das wird aufgrund des Wassermangels und anderer Probleme nicht mehr möglich sein.

SB: Isabelle und John, vielen Dank für das lange Gespräch.

Fußnoten:
[1] REZENSION/592: Isabelle Fremeaux / John Jordan - Pfade durch Utopia (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar592.html

[2] BERICHT/003: "Pfade durch Utopia" - Selbstbestimmtes Gemeinschaftsleben in Europa (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mreb0003.html

Teil 1 des Interviews siehe http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0152.html

26. Dezember 2012