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INTERVIEW/157: Morde, Folgen und Kalküle - Im Gespräch mit Arian Wendel (SB)


Anschlag auf Kurdinnen in Paris wirft Fragen auf

Interview am 12. Januar 2013 in Berlin



Arian Wendel ist Mitglied im Kurdistan-Solidaritäts-Komitee, das in der Kampagne "Tatort Kurdistan" organisiert ist. Am Rande der Rosa-Luxemburg-Konferenz beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zu den Umständen und Hintergründen des Todes dreier kurdischer Aktivistinnen, die am 9. Januar 2013 im Kurdischen Informationsbüro in Paris einem Mordanschlag zum Opfer fielen.

Im Gespräch in der Urania - Foto: © 2013 by Schattenblick

Arian Wendel
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Arian, könntest du die Kampagne "Tatort Kurdistan" einmal vorstellen?

AW: Die Kampagne "Tatort Kurdistan" wurde vom Kurdistan-Solidaritäts-Komitee 2009 ins Leben gerufen. Mittlerweile unterstützen 40 Nichtregierungsorganisationen und politische Gruppen unterschiedlichster Prägung diese Kampagne. Ich selbst arbeite im Kurdistan-Solidaritäts-Komitee Berlin. Die Kampagne "Tatort Kurdistan" ist ein bundesweiter Zusammenschluß von Kurdistan-solidarischen und antimilitaristischen Gruppen, die die Forderung nach einem Waffenexportstopp in die Türkei unterstützen.

SB: Was weißt du über die drei Frauen, die vor kurzem in Paris ermordet wurden?

AW: Sie waren wichtige Mitgliederinnen der kurdischen Frauenbewegung, die innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung eine bedeutsame Position einnimmt und zusammen mit der Jugendgruppe die tragende Säule der Bewegung bildet. Für die kurdische Bewegung und den Nahen Osten ist eine so stark organisierte Frauenbewegung ein Novum. Die drei Frauen, die am vergangenen Mittwochnachmittag in Paris ermordet wurden, repräsentieren diese kurdische Frauenbewegung und ihre Entwicklung.

Dabei handelt es sich um Sakine Cansiz, eine türkisch-kurdische Revolutionärin, die sich im Laufe der 68er-Revolte politisiert hat und zusammen mit Abdullah Öcalan zu den Gründern der Arbeiterpartei Kurdistans gehört, die 1978 gegründet wurde. Ihr wurde eine enge Freundschaft mit Öcalan nachgesagt. Lange Zeit hatte sie innerhalb der Organisation führende Positionen inne und war seit Ende der 90er Jahre in Europa maßgeblich für die Exilpolitik der kurdischen Bewegung zuständig. Sie war eine ganz zentrale, bedeutende Figur innerhalb der kurdischen Bewegung und hatte einen ausgesprochenen Prominentenstatus, bevor sie erschossen wurde. Ein Mitglied der BDP, welche nicht einmal Teil der revolutionären Struktur der kurdischen Bewegung, sondern eine legale Parlamentspartei ist, die auch für die kurdische Sache arbeitet, aber einen anderen Fokus als zum Beispiel die PKK besitzt, hat sie vor drei Tagen als die Rosa Luxemburg Kurdistans bezeichnet. Ich glaube nicht, daß man dabei auf das Denken von Rosa Luxemburg angespielt hat, deren Gedenken jetzt hier am Sonntag in Berlin bevorsteht. Das war nicht der ausschlaggebende Punkt, sondern daß Sakine Cansiz wirklich die Bedeutung, die Rosa Luxemburg innerhalb der Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung in den 20er und 30er Jahren hier gehabt hat, für die kurdische Frauenbewegung und teilweise auch für die feministische Bewegung in der Türkei besaß.

Zu diesem Kreis zählte auch Fidan Dogan. Sie hat sich Ende der 80er und in den 90er Jahren politisiert, als der militärische Konflikt im türkischen Teil Kurdistans besonders massiv war und die kurdische Frauenbewegung zum ersten Mal organisatorisch als eigene Kraft auftrat. Ab Mitte der 90er Jahre hat sich die Partei der Freien Frauen Kurdistans gegründet, die auch eigene Guerilla-Verbände aufgestellt hatte, in denen Männer überhaupt keine Rolle mehr spielten, was im Nahen Osten auf jeden Fall extrem fortschrittlich ist. Das dritte Opfer war Leyla Söylemez, eine sehr junge Aktivistin, die für die neue Generation der kurdischen Frauenbewegung stand, eine führende Position im kurdischen Jugendverband in Frankreich innehatte und insbesondere die neue Linie der PKK und der kurdischen Befreiungsbewegung repräsentierte.

Abdullah Öcalan war ab 1993 zu dem Schluß gekommen, daß eine militärische Lösung und eine Revolution im vietnamesischen oder kubanischen Stil für die kurdischen Gebiete unmöglich ist. Deswegen schwebte ihm eine Perspektive wie beim ANC in Südafrika vor, um mit dem Guerillakampf auch international einen so starken Druck auf die türkische Regierung aufzubauen, daß eine umfassende Demokratisierung der Türkei eingeleitet werden muß und es zu einer Kompromißlösung von beiden Seiten kommt. Seitdem propagiert er, daß die kurdische Bewegung neben dem bewaffneten Kampf noch andere Rückhalte entwickeln muß. Am Ende der 90er und in den 2000er Jahren ist die kurdische Zivilgesellschaft viel stärker auf den Plan getreten, während in den 80er und 90er Jahren vor allem die Guerilla als Vorhut der kurdischen Bewegung fungierte. Jetzt übt die Guerilla nur noch eine unterstützende Funktion aus und die Hauptkraft liegt nun bei den Massendemonstrationen. Vor allem die Newroz-Demonstration im türkischen Teil Kurdistans, an der bis zu 1,5 Millionen Menschen teilnehmen, zeigt die Stärke der kurdischen Bewegung.

Nach der Niederlage des Realsozialismus hat es auch innerhalb der PKK ein Umdenken gegeben. Man hat sich basisdemokratischen und anarchistischen Konzepten angenähert - ähnlich wie die Sozialforumsbewegung, die in der Antiglobalisierungsbewegung entstanden ist und eher horizontale Hierarchien anstrebt - und aus dem Scheitern der realsozialistischen Staaten eine Kritik am Konzept des Staates, der nationalen Befreiung und auch an den autoritären Strukturen geübt hat. Die PKK, die gerade bei ihren Kritikern für ihre straffen autoritären Strukturen bekannt war, versucht sich heute im Projekt des demokratischen Konföderalismus basisdemokratisch zu organisieren.

Die junge Aktivistin Leyla Söylemez stand vor allem für dieses neue Paradigma und den Abschied der kurdischen Bewegung von alten realsozialistischen Modellen, die sich an Befreiungsideen aus den 50er und 60er Jahren orientiert hatten. Die PKK hatte sich vor allem an der kubanischen und vietnamesischen Revolution orientiert. Das seitdem entwickelte Paradigma ist mehr auf Basisstrukturen, Basisselbstverwaltung, Rätestrukturen und weniger auf den Aufbau von Parteien und bewaffneten Kräften fokussiert.

SB: Bisher ist offiziell nichts ermittelt worden. Welche Verdachtsmomente lassen darauf schließen, daß die von kurdischer Seite vertretene These, laut der der türkische Geheimdienst hinter den Morden steckt, zutrifft?

AW: Ich würde lieber andersherum anfangen. In den französischen wie deutschen, aber vor allem in den türkischen Medien haben wir, als der Schock der Morde verflogen war, erlebt, wie die öffentliche Meinung in die Richtung gelenkt wird, daß die Frauen einer internen Auseinandersetzung in der PKK und kurdischen Befreiungsbewegung zum Opfer gefallen sind. Angeführt werden dabei die autoritären Strukturen innerhalb der PKK. Ich möchte nicht abstreiten, daß es solche Auseinandersetzungen in der kurdischen Bewegung wie in den meisten Befreiungsbewegungen auf der Welt gegeben hat und daß diese auch durchaus unschön geführt wurden.

Gerade in den 80er Jahren gab es heftige Flügelkämpfe innerhalb der PKK. Trotzdem spricht im Moment absolut nichts dafür, daß diese Frauen Opfer von Auseinandersetzungen innerhalb der PKK geworden sind. Zwischen den führenden Personen in der Exilorganisation in Europa und der offiziellen Position der kurdischen Bewegung und auch der PKK gibt es überhaupt keine Widersprüche, die militant ausgetragen werden. Auch hat die PKK nach dem Jahrtausendwechsel ein neues Paradigma entwickelt und ist mit den autoritären Parteistrukturen hart in die Kritik gegangen. Die Fehler der 80er und 90er Jahre wurden schonungslos analysiert und dabei auch das teilweise rigide Vorgehen gegen parteiinterne Kritiker oder Leute, die man angeblich als Agenten des türkischen Staates enttarnt hatte, verurteilt. Es ist in den letzten zehn Jahren nichts dergleichen mehr bekannt geworden.

Es gibt hartgesottene PKK-Kritiker, die in der Organisation in führenden Positionen waren und im Gegensatz zu der PKK-Mitbegründerin mit der Parteilinie offiziell gebrochen haben und in türkischen Zeitungen als Kronzeugen gegen den bösen Terror der PKK angeführt werden. Niemandem von denen ist bisher ein Haar gekrümmt worden. Aber dennoch werden der PKK schon seit Jahrzehnten irrsinnige Taten unterstellt. So soll sie Olof Palme ermordet haben und am Attentat gegen den Papst beteiligt gewesen sein. Es gibt viele Verschwörungstheorien um die PKK. Wenn man sich die Realität der letzten 30 Jahre in der bewaffneten Auseinandersetzung der Kurden in der Türkei anschaut, dann hat es zwar Morde gegeben und vielleicht sind Abweichler auch umgekommen, aber nicht mehr als fünf bis zehn in der Geschichte der PKK. Dagegen wurden etwa 10.000 kurdische Intellektuelle, Menschenrechtler und Journalisten in den letzten 30 Jahren tot aufgefunden, verscharrt in irgendwelchen Massengräbern in türkischen Gebieten Kurdistans.

Es gab in Europa auch in den 80er und 90er Jahren viele gezielte Ermordungen durch entweder rechtsextreme türkische Kräfte oder Mitglieder des türkischen Geheimdienstes, was übrigens oft deckungsgleich ist. Wenn man sich zum Beispiel den NSU-Skandal in Deutschland vor Augen hält, muß man im Hinterkopf haben, daß damit nur ein kleiner Teil des sogenannten Gladio-Apparates aufgedeckt wurde. Der Gladio-Apparat bestand aus geheimdienstlichen paramilitärischen Strukturen, die die NATO, allen voran die USA, in Europa, aber auch in der Türkei aufgebaut hat. Dabei hat man mit Rechtsextremen und Nazis zusammengearbeitet, sie aufgerüstet und finanziert, um im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion über Guerilla-Gruppen zu verfügen, die gegen sowjetische Besatzer agieren können. Im Rahmen dieser Gladio-Strukturen wurden europaweit rechtsextreme Gruppen und Terrororganisationen aufgebaut.

Ich erinnere an die P2-Loge in Italien, an das Bombenattentat in Mailand 1968 oder an die antiterroristischen Gruppen in Spanien, die Sympathisanten der ETA aus dem bürgerlichen und intellektuellen Spektrum, also Schriftsteller und Journalisten, in den 80er Jahren erschossen haben. Ich erinnere auch an die Wehrsportgruppe Hoffmann, die in der BRD vom Verfassungsschutz aufgebaut wurde und die dann das Attentat auf das Münchener Oktoberfest 1980 verübt haben soll. Der Gladio-Apparat wurde nach dem Ende des Kalten Krieges 89/90 größtenteils von der NATO politisch kaltgestellt, aber trotzdem hat man die Kontakte auf einem kleinen Niveau weiterlaufen lassen. Überall wurde der Gladio-Apparat demobilisiert, außer in einem Land, nämlich in der Türkei. Dort hat er eine besondere Dynamik gewonnen. Die Türkei war das einzige Land, von Griechenland der 50er und Italien der 60er Jahre einmal abgesehen, das in den 70er Jahren kurz davor war, ins sowjetische Lager zu wechseln.

Von 1977 bis 1980 tobte ein Bürgerkrieg in der Türkei zwischen der revolutionär-kommunistischen Arbeiterbewegung und rechtsextremen nationalistischen Kreisen, die mit der CIA zusammengearbeitet haben, die sogenannten Bozkurts. Dem Bürgerkrieg sind Tausende Menschen zum Opfer gefallen. Die NATO und die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung haben, um den Sieg der Kommunisten in der Türkei zu verhindern, die türkischen Faschisten, die damals auch im Parteiprogramm noch Anhänger der NSDAP und Adolf Hitlers waren, gezielt aufgebaut, unterstützt und bewaffnet, um ein militärisches Bollwerk gegen die erstarkenden kommunistischen Bewegungen und die Arbeiterbewegung im Land zu errichten. Das hat zu diesem Bürgerkrieg geführt, der 1980 durch einen faschistischen Militärputsch beendet wurde. Die gewählte Regierung der Türkei wurde gestürzt und eine quasi-faschistische Militärdiktatur etabliert, die bis Ende der 80er Jahre fortgedauert und 10.000 Menschen ins Gefängnis gesteckt hat. Ähnlich wie bei den Contra-Kriegen in Lateinamerika hat sich durch die Polarisierung der Auseinandersetzung eine eigene Dynamik innerhalb des türkischen Staatsapparates und innerhalb der von der NATO finanzierten rechtsextremen Gladio-Strukturen entwickelt, die in der Zeit der Militärdiktatur sehr tief in den türkischen Staat vorgedrungen sind und dort eigene Pläne verfolgten.

Die kurdische Bewegung und die türkische Linke nennen dieses vor allem die 90er Jahre betreffende Phänomen "tiefer Staat". Der informelle Geheimdienst JITEM, der für paramilitärische Aktionen gegen die kurdische Bewegung und die türkische Linke zuständig war, hat in den 90er Jahren einen schmutzigen Krieg geführt, dem Tausende Menschen zum Opfer fielen: Leute, die man für PKK-Mitglieder, für Sympathisanten oder einfach nur für Fürsprecher der kurdischen Bewegung in der Öffentlichkeit gehalten hat.

Gleichzeitig hat die türkische Regierung immer eine gezielte Kill-Politik gegenüber Funktionären der PKK verfolgt. Man muß vor dem Hintergrund, daß die autoritären Strukturen in der PKK fünf bis zehn, vielleicht fünfzehn Menschenleben gekostet haben, auch sehen, daß Paramilitärs und einzelne Fraktionen innerhalb des türkischen Staates, die auch unabhängig von der Erdogan-Regierung oder der AKP agieren, schon seit 20, 30 Jahren im Staatsapparat, Militär und in der Polizei sitzen. Die Hauptaufgabe dieser faschistisch politisierten Kemalisten ist der Krieg gegen die PKK und die Kurden. Sie wollen sich mit der Perspektive, daß im Moment Friedensgespräche zwischen der PKK-Führung und dem türkischen Staat geführt werden, nicht abfinden. Diese Fraktionen innerhalb des türkischen Staates versuchen daher, die Annäherung an die PKK auf jeden Fall zu sabotieren. Meiner Ansicht nach war die Mordaktion vor drei Tagen in Paris ein Ausdruck dieser Politik.

Auf der anderen Seite muß man aber auch sagen, daß die offizielle türkische Regierung sich von dieser Politik nie distanziert hat. So hat Erdogan noch vor 14 Tagen, nachdem Hinweise durchsickerten, daß er sich mit Öcalan getroffen habe und es zu ersten Gesprächen über eine friedliche Lösung des Konfliktes gekommen sei, gegenüber der türkischen Presse harte Kante gegenüber der PKK gezeigt. Unter anderem hat er damals gesagt, wir werden euch überall finden, wo immer ihr auch seid.

Von der türkischen Presse wurde das zwei Wochen vor diesen Morden vor allem als Drohung an die PKK-Führung, die in den irakischen Bergen sitzt, interpretiert. Dank der Weiterentwicklung der Drohnentechnologie, die die USA in Pakistan anwenden, wird die Luft für die PKK-Führung in den Kandil-Bergen immer dünner. Die Türkei ist zwar nicht in der Lage, dort einzumarschieren und die PKK militärisch zu besiegen. Durch Drohnen jedoch, die die Führer der PKK exekutieren, sieht sich die kurdische Bewegung einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt. Aber natürlich können auch Exilpolitiker davon betroffen sein.

Gleichwohl würde ich die These aufstellen, daß die AKP-Regierung und die Erdogan-Leute damit nicht in erster Linie etwas zu tun haben, sondern daß eigenständige faschistisch-nationalistische Kräfte innerhalb des tiefen Staates im Militär und türkischen Geheimdienst auf eigene Faust handeln, um den Friedensprozeß zu sabotieren. Die AKP-Regierung hat eigene Interessen, die für die türkischen Militärs nicht gelten und sehr kurzfristig sind. Erdogan möchte das Verfassungsreferendum in einem halben Jahr gewinnen, um, ähnlich wie Putin, ein Präsidialsystem zu installieren, daß ihn längerfristig mit mehr Vollmachten ausstattet. Dazu braucht er einen Großteil der Bevölkerung hinter sich, weswegen er auch eine Beruhigung der Kurdenfrage herbeiführen will, um sich dies als Verdienst ans Revers zu heften.

SB: Inwieweit sind deine Schilderungen über paramilitärische Gruppen und Sonderkommandos des Geheimdienstes verifiziert? Schließlich wurde nach dem Skandal um den Verkehrsunfall in Susurluk eine parlamentarische Untersuchungskommission einberufen, allerdings ohne daß sich die frühere Ministerpräsidentin Tansu Çiller für ihre Verstrickungen in den tiefen Staat verantworten mußte. Mit welchem Material läßt sich deine Darstellung belegen?

AW: Für die 80er, aber vor allem für die 90er Jahre ist es eindeutig belegt. Es gibt genügend Untersuchungen von Amnesty International und der Europäischen Menschenrechtskommission. Die EU vertritt jedoch, daß sich dies in der Türkei lediglich bis 1999, also dem Zeitpunkt, als der türkische Geheimdienst Öcalan entführt hat, so verhalten habe. Danach habe sich die PKK erst einmal aus der Türkei zurückgezogen. So entwerfen die Europäische Union und offizielle Juristen ein Bild der Türkei, in der eine Demokratisierung eingesetzt habe, zumal bald darauf die AKP-Regierung an die Macht gekommen ist und damit angefangen hat, mit den Kemalisten und dem tiefen Staat aufzuräumen.

Andererseits ist es teilweise von der türkischen Geschichtsschreibung, aber auf jeden Fall in der internationalen Öffentlichkeit belegt und anerkannt, daß die Türkei in den 80er und 90er Jahren einen schmutzigen Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung geführt hat und dabei unzählige Unschuldige ermorden ließ. Daß dabei parastaatliche Strukturen am Werk waren, ist hinreichend belegt. Das ist ähnlich wie in Lateinamerika der 70er und 80er Jahre. Auch dort läuft jetzt die Aufarbeitung und es werden gegen Leute, die teilweise mit den Mördern von damals verbandelt waren, Prozesse geführt. So wurden vor kurzem die für die Ermordung Víctor Jaras 1973 verantwortlichen Militärs in Chile angeklagt. Man ist vordergründig bemüht, die schlimmsten Verbrechen ans Tageslicht zu bringen, aber gleichzeitig wird von vereinzelten Verfehlungen gesprochen, um - ähnlich wie beim NSU-Prozeß - das System, das dahintersteht, zu decken.

Obwohl der Terror für die 80er und 90er Jahre belegt ist, wird er vom türkischen Staat heutzutage geleugnet. Auch die europäischen Staaten, die die Türkei geheimdienstlich unterstützen und ihre politischen Gefangenen dorthin abschieben, wollen diese Realität nicht wahrhaben. Der Susurluk-Vorfall war in dieser Hinsicht sehr bedeutsam. So gab es eine große Kampagne in der kurdischen Bewegung und der türkischen Linken, die "Eine Sekunde Dunkelheit für ewiges Licht" hieß. Das klingt religiös, meint aber die Aufklärung all dessen, was in dieser verdunkelten Geheimdienstecke wirklich läuft.

Bei dem Verkehrsunfall in Susurluk 1996 wurde ein wichtiger Vertreter der damaligen türkischen Regierungspartei DYP verletzt. Der damalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul, ein führendes Mitglied der Grauen Wölfe und eine mit ihm liierte Schönheitskönigin kamen ums Leben. In dem Wagen befanden sich ein Koffer voller Geld, Waffen und auch Drogen. Bei diesem Unfall kam die Vernetzung zwischen Faschisten, Militärs und Mafia-Strukturen ans Licht. Laut dem Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission wurden die Grauen Wölfe vom Staat instrumentalisiert. In diesem Zusammenhang wurde auch deutlich, daß Staatsorgane in den 70er Jahren gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen initiierten, um den Militärputsch 1980 möglich zu machen.

Es ist davon auszugehen, daß es den tiefen Staat immer noch gibt, allerdings unter veränderten Bedingungen. Seit 2002/2003 ist die AKP an der Regierung, die die nationalistisch-kemalistische Staatsideologie, die sowohl die türkischen Faschisten als auch die Sozialdemokraten prägte, also eigentlich alle Teile der türkischen Gesellschaft, selbst Teile der kommunistischen Bewegung, nicht im Parteiprogramm führt. Diese Staatsideologie richtet sich stark gegen die kurdische Bewegung und schreibt einen zentralistischen Einheitsstaat Türkei - ein Volk, eine Sprache, eine Nation - fest. Die AKP-Regierung setzt eher auf den islamischen Glauben.

Daraus entsteht ein Konflikt, weil Kemal Atatürk den Islam nicht besonders geschätzt und sich beim Aufbau des türkischen Staates am französischen Modell orientiert hat. Atatürk war ein großer Bewunderer Napoleons. Er hat das arabische Alphabet verbieten lassen, ist gegen die Moscheen vorgegangen und hat das Tragen von Kopftüchern in Berufen und an den Universitäten untersagt. Die AKP-Regierung weicht diese Staatsgrundlage der Türkei immer mehr auf, was negativ zur Folge hat, daß wieder eine starke Islamisierung um sich greift, Frauenrechte beschnitten werden und auch der Tonfall gegen religiöse Minderheiten in der Türkei, der schon immer übel war, von Mal zu Mal härter wird. Dies hat jedoch den im Ansatz positiven Effekt, daß die kemalistisch-geheimdienstliche Militärkooperation, dieser tiefe Staat, an Macht verliert. In der Türkei hat das Militär, das sich stets als Speerspitze der kemalistischen Idee verstand, seit 1960 dreimal geputscht. Eigentlich war der oberste Militärgerichtshof bis 2002 die zentrale Institution des Landes. Es war absolut klar, daß eine von ihm kassierte Gesetzesvorlage auch vom Parlament zurückgenommen wird, sonst stand die Möglichkeit eines weiteren Putsches im Raum.

Erdogan ist es teilweise gelungen, die Macht dieser Seilschaften im Staatsapparat zu brechen. Es gab den Ergenekon-Prozeß, in dem große Teile der führenden Militärs und Staatsanwälte, das Rückgrat dieser kemalistisch-nationalistischen Strömung innerhalb des Staatsapparates, wegen Verschwörung angeklagt wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, einen Militärputsch geplant zu haben, um die AKP abzusetzen. Schritt für Schritt hat es Erdogan geschafft, immer mehr Gewährsleute im Staatsapparat und Militär zu positionieren und die Macht der Militärs und der Kemalisten Stück für Stück zurückzudrängen.

Ich halte es für eine nicht unrealistische Option, daß eine Fraktion innerhalb des türkischen Geheimdienstes Erdogan schädigen möchte. Es müssen nicht unbedingt Leute sein, die mit Ergenekon oder mit dieser kemalistischen Elite zu tun haben. Es müssen nur Leute sein, die der Herrschaft der AKP und Erdogans Pläne, Präsident zu werden, nicht gutheißen und Angst haben, daß die Grundlagen des türkischen Staates unterhöhlt werden. Wenn Erdogan eine Einigung mit der kurdischen Bewegung erzielen will, muß er Zugeständnisse machen, die das Selbstverständnis des türkischen Staats radikal in Frage stellen werden. Die Türkei wurde aus dem Bürgerkrieg nach dem Ersten Weltkrieg, dem Genozid an den Armeniern und der Konkursmasse des Osmanischen Reiches mit der nationalistischen Staatsideologie des Türkentums herausgepreßt. Das war damals notwendig, um aus den vielen verschiedenen Ethnien einen funktionierenden Staat zu bilden. Deswegen wurde auch die türkische Sprache als Amts- und Verkehrssprache durchgesetzt. Die Türkei ist ähnlich wie Frankreich extrem zentralistisch aufgebaut.

Die Anerkennung der kurdischen Sprache und Identität sowie der Aufbau eines föderalen Staatssystems wie in Spanien, der keineswegs durch eine sozialistische Revolution zustande kommen müßte, wären notwendige Bedingungen, um die kurdische Bewegung zu beruhigen und die Guerilla von den Bergen herunterzubringen. Darunter ist es nicht zu machen. Die kurdische Bewegung ist Millionen Menschen stark. In den kurdischen Gebieten erhält die kurdische Partei unglaublich viel Zuspruch. Sie ist jetzt endlich legal, was in den 80er und 90er Jahren nicht möglich war. Damals war der bewaffnete Kampf die einzige Option, weil keine legalen kurdischen Parteien zugelassen wurden. Heutzutage gehen Millionen Kurden auf die Straße, um für ihre politischen Rechte zu kämpfen.

Was Erdogan jetzt dazu treibt, neben seiner Präsidentschaft eine Friedenslösung anzustreben, hat natürlich auch eine außenpolitische Dimension. Wenn das Assad-Regime zusammenbricht, entsteht in den kurdischen Gebieten Syriens eine Selbstverwaltung. Die syrischen Kurden folgen vor allem der Schwesterorganisation PKK. Im Irak gibt es bereits die Selbstverwaltung, in Syrien wird sie bald kommen. Wenn das syrische System fällt, ist der Iran als nächstes an der Reihe. Sobald der Iran destabilisiert ist, bedeutet das das Ende für die Türkei. Es gibt sieben Millionen Kurden in Syrien, sechs Millionen im Irak, zehn Millionen im Iran. Und wenn sie alle ihre Autonomiegebiete bekommen, werden sich die zwanzig Millionen Kurden in der Türkei, die einen Gutteil der Bevölkerung stellen, nicht weiter unterdrücken lassen.

Dem türkischen Staat ist völlig klar, daß ihm, wenn er jetzt keine Lösung à la ANC oder Nordirland erreicht, eine geostrategische Katastrophe bevorsteht, weil seine Ostgebiete auf jeden Fall verlorengehen. Wenn es ein unabhängiges Iranisch-Kurdistan, Irakisch-Kurdistan und Syrisch-Kurdistan gibt, werden sich die kurdischen Gebiete auf türkischem Territorium, die der Kern der kurdischen Befreiungsbewegung und des kurdischen Nationalbewußtseins sind, nicht im türkischen Staatsverbund halten lassen. Um das zu verhindern, müßte eine umfassende Dezentralisierung und Föderalisierung des türkischen Systems eingeleitet werden. Da kommt bei den Kemalisten Krisenstimmung auf. Ich glaube nicht, daß Erdogan wirklich ein föderalistisches System möchte, aber er will die Präsidentschaft gewinnen. Daher überlegt er, wie er die Kurden für seine Pläne einspannen kann, indem er ihnen ein paar Zugeständnisse macht. Aber im Endeffekt wird es ohne dieses föderale System keine Lösung geben. Dem türkischen Geheimdienst wird klar gewesen sein, daß Erdogan mit dem Feuer spielt. Daß die kurdische Bewegung in der Türkei in den beiden letzten Jahren auch politisch an Macht gewonnen hat, läßt sich nicht mehr leugnen oder ungeschehen machen, egal, wieviele Leute sie ins Gefängnis stecken.

Wenn die türkische Regierung die kurdische Bewegung jetzt anerkennen würde, indem sie offizielle Gespräche mit ihr führt, wird ihnen die Sache aus kemalistischer Perspektive um die Ohren fliegen. Die zentralistische Türkei wird dann in ein paar Jahren Geschichte sein. Und davor haben die Kemalisten Angst. Sie würden statt dessen noch einmal 30 Jahre Krieg in Kauf nehmen. Damit können Militärs und Geheimdienste ja ganz gut leben. Ich denke, daß eher eine dissidente Fraktion innerhalb des tiefen Staates im türkischen Staatsapparat für die Morde in Paris verantwortlich ist und nicht die Regierung Erdogan, obwohl dies auch nicht ausgeschlossen ist, wenn man sich die Politik der Türkei in den letzten Jahrzehnten anschaut. Wirft man einen Blick auf die Politik Israels gegenüber den Palästinensern, so ist nichts Verschwörungstheoretisches daran, daß man die obersten Kader bzw. den Vorsitzenden der Gegenseite erschießen läßt. So sind Staaten schon immer vorgegangen.

SB: Stimmt es, daß Öcalan das Zugeständnis abgerungen werden soll, die föderalistische Idee im Rahmen dieser Friedensgespräche nicht weiter zu verfolgen?

AW: Das ist der zentrale Punkt, den die türkische Seite vorbringen wird, aber es wird nicht durchzuführen sein, weil es schlicht den objektiven Realitäten widerspricht. Anders wäre die Geschichte, wenn man Öcalan dazu bringen würde, dem Sozialismus abzuschwören. Öcalan orientiert sich ohnehin an Kanada, Spanien, Quebec und Irland, letztlich an Modellen, die nicht unbedingt das Ende des islamischen Morgenlandes bedeuten würden. Es wäre kein Weltuntergang, nicht einmal für die Türkei, sondern eine vernünftige Sache auch im Sinne der Türkei. Innerhalb der türkischen Bourgeoisie und auch der AKP-Regierung gibt es Leute, die sich sicher sind, daß es ohne eine Modernisierung der Türkei, wie sie die Grünen und die 68er in Deutschland durchgeführt haben, nicht möglich sein wird, das Staatswesen aufrechtzuerhalten. Am wichtigsten ist ihnen, daß mit der Demokratisierung auch eine Lösung des Kurdenproblems auf einer kapitalistischen, türkisch-islamischen Grundlage gefunden wird. Das ist durchaus möglich, wie auch der Nordirlandkonflikt auf einer Grundlage, die England nicht zu Fall gebracht hat, gelöst werden konnte.

Das Problem besteht in der nationalistischen Politisierung der Türkei, deren Staatsideologie der türkischen Bevölkerung seit 50 Jahren gepredigt wird. Für die türkische Gesellschaft sind Kurden PKK-Kindermörder. Als die Todesstrafe von Öcalan in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wurde, hat die Türkei einen regelrechten Aufstand erlebt. Jetzt könnte die faschistische Partei in der Türkei, die bei den Wahlen ungefähr auf zehn Prozent kommt, für Gegenwind sorgen. Die MHP verfügt über eine sehr große Anhängerschaft, nicht nur im Polizei- und Militärapparat, sondern auch auf der Straße. Wenn Erdogan jetzt anfängt, mit Öcalan zu verhandeln, macht er sich unglaubwürdig, weil die Türkei 50 Jahre lang massiv gegen Kurden vorgegangen ist. Davon kann man sich nicht so einfach lösen, auch wenn zentrale Leute innerhalb der türkischen Bourgeoisie und des Staatsapparates als auch in der AKP vielleicht auf eine konföderale Lösung eingehen würden. Die nationalistische Politisierung der türkischen Bevölkerung verhindert dies.

Aber auch unter Kurden gibt es Animositäten und Ablehnung gegenüber den Türken. Dies liegt vor allem am ausgeprägten antikurdischen Rassismus, der von großen Teilen der türkischen Gesellschaft geteilt wird. Man will einfach nicht einsehen, warum man mit den Kurden jetzt Friedensverhandlungen führen sollte. Das ist anders als das Vorgehen der Engländer gegen die IRA und die katholische Bevölkerung in Nordirland. Die Spaltung in der Türkei geht tiefer. Da gärt der gegenseitige Haß schon so lange, daß die Politiker sehr vorsichtig agieren müssen. Es könnte durchaus passieren, daß nicht nur die kurdische Bewegung Friedensgespräche verweigert und volle Souveränitätsrechte einfordert, sondern daß auch die türkische Rechte, deren Stärke nicht zu unterschätzen ist, sich dagegen stellt und die Erdogan-Regierung zu Fall bringt. Deswegen steckt die AKP in einer komplizierten Situation. Sie kann nicht tun, was der gesunde Menschenverstand, jetzt einmal von linken revolutionären Idealen abgesehen, gebietet.

Jeder französische oder deutsche Politiker, der die Verhältnisse in der Türkei ernsthaft betrachtet und sieht, was da mit Journalisten und gewählten parlamentarischen Vertretern passiert, weiß, daß die Türkei das Land auf der Welt ist, das nach dem 11. September 2001 den größten prozentualen Anteil seiner Bevölkerung ins Gefängnis gesteckt hat. Das ist Wahnsinn. Alle Länder zusammengenommen kommen nicht auf soviele Antiterrorverfahren wie die Türkei. Die Antiterrorgesetze gegen Al Kaida wurden in der Türkei seitdem bereits 9.600mal angewandt. Nicht einmal die USA kommt auf einen solchen Umfang von Antiterrorprozessen.

Die Türkei ist darin weltweit der absolute Spitzenreiter. Selbst China, zählt man die Kriminalisierung von Journalisten hinzu und vergleicht prozentual zur Einwohnerzahl, was in den Knästen stattfindet, bleibt hinter der Türkei zurück. Jedem vernünftigen kapitalistischen Investor und jedem parlamentarischen Politiker aus einer Region der Welt, die nicht von Warlordisierung und Bürgerkrieg geprägt ist, wird klar, daß das so nicht funktionieren kann und man den Kurden mehr Rechte zugestehen muß: ein bißchen mehr Zucker und ein bißchen weniger Peitsche.

Man kann es zwar postulieren, aber nicht einfach in der Türkei umsetzen. Selbst so simple Gedankenspiele, wie dem türkischen Staat eine kanadische oder spanische Struktur zu geben und den Kurden die Rechte einzuräumen, die die Katalanen und Basken mittlerweile haben, mit denen sie auch nicht zufrieden sind, wenn man sich die aktuelle Situation in Katalanien und im Baskenland anschaut, greifen ins Leere. Bereits diesen Status quo durchzusetzen, ist in der Türkei schon deswegen im Moment undenkbar, weil erst einmal die nationalistische Politisierung und dieser antikurdische Rassismus gebrochen werden müßten, und das ist auf jeden Fall schwierig.

SB: Arian, vielen Dank für deine ausführliche Stellungnahme.

Transparent mit ermordeten Aktivistinnen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Auf der Liebknecht-Luxemburg-Demo
Foto: © 2013 by Schattenblick

22. Januar 2013