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INTERVIEW/175: Johan Galtung - Zur Großmacht China und zum Syrienkonflikt (SB)


Interview am 31. Mai 2013 im Legienhof Kiel



Der renommierte Friedensforscher Prof. Dr. Johan Galtung war am 31. Mai im Kieler Gewerkschaftshaus, dem Legienhof, zu Gast. Auf Einladung der IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung) und weiterer Mitveranstalter war er Referent des Symposiums "Frieden mit friedlichen Mitteln", das von rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörern besucht wurde. Vor der Veranstaltung beantwortete Galtung dem Schattenblick einige Fragen zu zwei Brennpunkten der internationalen Politik.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Johan Galtung
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Am Mittwoch kommender Woche findet ein Treffen unter Einbeziehung von Rußland, den USA und den Vereinten Nationen statt, bei dem die geplante internationale Friedenskonferenz zu Syrien vorbereitet werden soll. Nun hat die Opposition schon angekündigt, nicht teilnehmen zu werden, falls die Hisbollah bis dahin nicht die Kämpfe eingestellt hat und sich aus Syrien zurückzieht. Welche Chance geben Sie dieser Friedenskonferenz?

Johan Galtung: Keine große, denn die Debatte der letzten vier Jahre hat nicht aufgezeigt, wie eine gute Lösung aussehen könnte. Wenn man jedoch keine Idee zur Lösung des Konflikts hat, dann wird es auch nicht zu einer Lösung kommen. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere besteht selbstverständlich in der Zusammensetzung der Konferenz. Der Iran, der nicht eingeladen wurde, hat zu einer Gegenkonferenz aufgerufen, zu der viele Teilnehmer kommen werden. Es könnte sein, daß dort bessere Ideen entwickelt werden.

SB: Könnte das bedeuten, daß die westlichen Mächte mit ihrer Strategie, Syrien zu destabilisieren, zumindest in der aktuellen Situation einen Rückschlag erlitten haben?

JG: Das war ganz sicher ein Rückschlag, für den es meiner Meinung nach zwei Gründe gibt. Erstens ist die sogenannte Opposition wie in Libyen außerordentlich gespalten, und zweitens macht der Westen den typischen Fehler: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Aber alle diese Feinde meines Feindes könnten ihre eigenen, ganz unterschiedlichen Zielsetzungen haben. Was wollen Israel, die USA, Katar, Saudi-Arabien, China, Rußland, Türkei, die Dschihadisten, Sunniten, Schiiten und Aleviten? Alle diese zehn bis zwölf Nationen und Gruppen haben Interessen in Syrien. Wenn ein Land zuvor eine Kolonie war, dann ist es ein künstliches Gebilde und existiert als Land eigentlich nicht.

Für den französischen Außenminister Sykes-Picot war Syrien 1915 im Grunde genommen nichts anderes als Frankreichs Bezahlung für die Teilnahme der Araber im Krieg gegen die Ottomanen. Der Nahe Osten wurde nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt. Frankreich erhielt Libanon und Syrien, während Irak und Palästina an Großbritannien gingen. Diese vier ehemaligen Kolonien sind auf unterschiedliche Weise gescheitert. Wenn man ein so heterogenes Land hat, dann besteht eine Bedingung darin, daß man mit einem Bundesstaat anfängt. Daraus könnte sich eine Demokratie entwickeln. Ist man eine Demokratie ohne Bundesstaat, hat man es mit einer Aufzählung der Ethnizitäten zu tun. Wie wir wissen, können auch Sunniten eine Ethnizität bilden. Das heißt nicht, daß ein Land, regiert von einer Majorität von Sunniten, ein gutes Land ist. Es könnte auch eine Majoritäts-Diktatur sein.

Heute haben wir in Syrien eine Minoritäts-Diktatur. Die Lösung besteht meines Erachtens darin, daß man zu einem Bundesstaat zurückkehrt. Aber das Problem ist, daß es nur eine Minorität gibt, die in einem eigenen Territorium lebt. Die Kurden bewohnen den Nordosten Syriens. Das ist eine schmale Strecke entlang der Grenze zur Türkei, wo ebenfalls Kurden leben. Außerdem gibt es Kurden im Iran und Irak. In einem solchen Fall gibt es nur eine Alternative, wenn man eine Demokratie errichten möchte, nämlich ein Zweikammer-System - eine Kammer für die Provinzen und eine Kammer für die Ethnien. Die einzelnen Bevölkerungsgruppen haben Angst, daß ihre Stimme nicht gehört wird. Hier muß man in Betracht ziehen, daß die Aleviten, die zwar zu den Schiiten gerechnet werden, zugleich Anhänger der Baath-Partei sind und damit zum Spektrum der säkularen Kräfte zählen.

Wir haben also genau die gleiche Situation wie früher im Irak unter Saddam Hussein. Man hat im Westen nicht verstanden, daß, wenn man ein Land mit so heterogener Bevölkerungsstruktur zu einer Kolonie macht, die Entstehung einer Demokratie kaum möglich ist. Das ist fast unmöglich. So hat sich die Baath-Partei durchgesetzt, die hauptsächlich säkular ausgerichtet ist. Saddam Hussein und der Vater des heutigen syrischen Präsidenten Assad hatten die Macht übernommen, und das will man jetzt abschaffen. Darum geht es. Ich habe schon gesagt, daß eine Zwei-Kammern-Regelung, in der sich eine Bevölkerungsgruppe behauptet und ein Vetorecht gegenüber den anderen Gruppen in Anspruch nimmt, als politisches System nicht bestehen kann. Wenn andere einen besseren Vorschlag haben, schön. Ich sehe dem mit Freuden entgegen.

SB: Die Europäische Union setzt mit Wirkung von Mitternacht heute abend das Waffenembargo aus. Ist das aus Ihrer Sicht überhaupt eine vernünftige und zielführende Option?

JG: Ja, wenn es ums Töten und Morden geht. Es ist, so könnte man sagen, eine alte europäische Tradition, Muslime zu töten. Das hat man früher getan und hat es kürzlich getan. Es hat die Kreuzzüge gegeben, und diese Tradition lebt fort, aber sie wird nichts lösen. Mag sein, daß die Europäer den Krieg gewinnen, mag sein, daß sie ihn verlieren werden. Das hängt davon ab, wie die Bevölkerung dazu steht. Es ist wichtig zu verstehen, daß die Leute, die auf der Seite der Rebellen kämpfen, zumeist von außen kommen. Es handelt sich um bezahlte Söldner. Katar hat nach Angaben der Financial Times drei Milliarden Dollar in die Rebellenarmee investiert. Da kämpfen achtzehnjährige Sunniten gegen Schiiten. Es ist schon merkwürdig, daß sie aus Katar kommen, weil die Qatar Foundation jetzt eine Versöhnung zwischen Schiiten und Sunniten anstrebt.

SB: Wurde der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten künstlich durch die westlichen Interventionsinteressen geschürt?

JG: Der Westen verfolgt dabei bestimmte Zielsetzungen. Zielsetzung Nummer eins ist selbstverständlich, den Iran und die Hisbollah zu unterminieren. Dieses Ziel steht in erster Linie auf der Agenda der Israelis. Der Westen fürchtet, wenn er nicht tut, was Israel wünscht, als antisemitisch abgestempelt zu werden. Dieses Mittel haben die Israelis inzwischen ein wenig zu häufig eingesetzt. Es ist meiner Ansicht nach nicht mehr so nützlich. Es gibt andere Schwerpunkte, die mit Öl und Mineralien zu tun haben. Wer kontrolliert diese Ressourcen? Es fließt eine Menge Öl durch Syrien, und es gibt dort wichtige Mineralien. Der Westen fürchtet, daß sie in die falschen Hände fallen könnten. In erster Linie ist damit der Iran gemeint. Die Hisbollah kämpft jetzt auf der Seite der Regierung. Daß die Hisbollah etwas mit Syrien zu tun hat, ist ja nichts Neues. Die Hisbollah ist eine starke politische Kraft im Libanon. Es gibt ein Band von Iran über Syrien in Richtung Libanon, und das hat selbstverständlich mit der Hisbollah zu tun.

Die Lage ist kompliziert. Mehr Waffen werden keine Lösung bringen. Denn was passiert, wenn die westlichen Mächte gewinnen? Dann werden wir vielleicht ein weiteres Libyen haben. Als der Krieg in Libyen angefangen hat, habe ich im Fernsehen oft gesagt, daß er wenigstens 20 Jahre dauern wird. Wir unterschätzen die Bruchlinien, von denen es sehr viele gibt. Und diese Bruchlinien werden sich behaupten. Was Gaddhafi, Saddam und Assad gemacht haben, war keine Ideallösung, aber was jetzt passiert, wird noch schlimmer. Wir sehen das in Libyen. Der ganze Süden des Landes ist in Aufruhr, und das hat sehr viel mit den Tuareg und Berbern und mit schwarzen Afrikanern zu tun. Wenn man in Libyen Richtung Süden fährt, nimmt der Anteil der schwarzen Bevölkerung stark zu. Der Westen hat nur den Streifen an der Küste von Bengasi nach Tripolis im Sinn gehabt. Er hat einen Fehler gemacht, und denselben Fehler macht er jetzt in Syrien.

Johan Galtung im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Konzentrierte Arbeit an unkonventionellen Lösungen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Ich würde Sie gerne noch etwas zum Thema China fragen. Glauben Sie, daß die neue Regierung um Präsident Xi Jinping und Ministerpräsident Li Keqiang am Ziel der finalen Verwirklichung des Sozialismus festhält?

JG: Ich glaube, man muß hier mehrere Aspekte berücksichtigen. Es ist keine Frage des Gegensatzes, sondern die einer Weiterentwicklung Chinas. Xi betrachtet es als Teil dieser Weiterentwicklung, daß China jetzt eine Rolle in der Weltpolitik spielt. Deswegen hat Xi eine Resolution mit vier Punkten über Israel-Palästina verfaßt. Ein Punkt sind gute Beziehungen zu den Nachbarländern und eine Rückkehr zu den Grenzen von 1967. Das ist ein wesentlich klarerer Standpunkt als das, was die EU in Sachen Israel-Palästina unternimmt. Die EU fördert Zusammenarbeitsprojekte zwischen Palästinensern und Israelis, macht aber keine klare Aussage über die Grenzen. Wie man weiß, hat Israel keine Ostgrenze. Israel hat nie eine Erklärung zu seiner Ostgrenze abgegeben. Östlich und nördlich von Israel liegt Syrien. Wenn Syrien sich auf die Grenzen von 1967 bezieht, dann ist damit "keine Golanhöhen für Israel" gemeint.

Darüber kann man sich vielleicht etwas diplomatischer einigen. Man könnte zum Beispiel sagen, die Souveränität gehört Syrien, aber der Golan könnte ein Gebiet der Zusammenarbeit sein, in dem keine militärischen Streitkräfte stationiert sind, weder israelische noch syrische. An diesen, sagen wir einmal, Versuchsverhandlungen habe ich am Rande selbst teilgenommen. Dabei kam heraus, daß Israel das nicht will, doch Syrien es sich vorstellen könnte, solange die syrische Flagge dort weht. Man könnte auch über eine Art Hongkong-Lösung reden. China hat sich jetzt im Syrienkonflikt zu Wort gemeldet. Dabei geht es nicht nur um chinesische Interessen in Syrien oder um die Frage einer Flotte im Mittelmeer, mit der sich der Ressourcentransport nach China sicherstellen ließe. China ist vielmehr als Akteur in der Weltpolitik aufgetreten. Ich glaube, was Herr Xi in diesem Sinne gesagt hat, ist sehr wichtig. Zwar gehörte das Gebiet ab 1915 zur Einflußsphäre des Westens, aber mit dem Einsatz Chinas wird ein neues Kapitel in der Weltpolitik geschrieben. Künftig werden wir chinesische Stellungnahmen zu Lateinamerika, zu Asien und nicht mehr nur zu Taipeh vernehmen.

Ich bin recht gut bewandert in der chinesischen Außenpolitik und gehörte zu den wenigen, die mehrmals zur Parteihochschule eingeladen wurden, um Vorlesungen für die chinesische Elite zu halten. Eines möchte ich noch hinzufügen: Die Chinesen und Russen sind entsetzt über die Libyen-Resolution, deren Idee ja darin bestand, die Zivilbevölkerung mit einer Flugverbotszone unter Schutz zu nehmen. Aber was die Amerikaner dort zum Beispiel mit norwegischer Hilfe geschafft haben, war ein Regimewechsel. Das war von Anfang an die Absicht gewesen. Deswegen weigern sich China und Rußland, im Fall Syriens wieder so einer Art neuer Libyen-Resolution zuzustimmen. Man kann Deutschland zugutehalten, daß es der Libyen-Resolution nicht zugestimmt hat. Die Bundesrepublik hat deutlich gemacht, daß sie vom Mandat nicht überzeugt war, weil darin eine alte deutsche These von Herrn Clausewitz, nämlich der Einsatz aller notwendigen Gewaltmittel, Eingang gefunden hat. Die Amerikaner versuchen immer, diese vier Worte - by all necessary means - einzuschmuggeln. Natürlich entscheiden dann die Amerikaner, was notwendig ist. Das ist bekannt. Alle wissen davon, die in diesen Dingen bewandert sind, und deswegen haben die Chinesen nein gesagt.

SB: China gilt als die Fabrik der Welt. Nun gibt es in China heftige Proteste gegen die Arbeitsbedingungen, aber gleichzeitig wird der chinesischen Regierung nicht zuletzt vom IWF angetragen, die Kosten zu senken und noch mehr zu rationalisieren. Können Sie sich vorstellen, daß die chinesische Regierung und die KP Chinas in der Lage sind, diesen Spagat zwischen dem Anspruch auf maximale Kapitalverwertung und der Befriedung der eigenen Bevölkerung auf lange Sicht durchzuhalten?

JG: Wir reden über 1350 Millionen Menschen. Man sagt, daß es jeden Tag in China fünfzehn Tiananmen-Revolten, nicht auf dem Tiananmen-Platz, sondern von derselben Größe, gibt. Das sind Streiks unzufriedener Arbeiter. Daß das überhaupt möglich ist, werte ich als Kompliment für China. In den Vereinigten Staaten würde das ganz anders aussehen. Schnell wären FBI und CIA zur Stelle, und auch das Militär würde mobilisiert werden. So hat man zum Beispiel die Occupy-Bewegung nicht nur eingedämmt, sondern ganz unterdrückt. Die Occupy-Bewegung wurde praktisch selber okkupiert. Die Frage ist doch, wie sich die chinesische Regierung zu diesen Aufständen verhält. Ich habe zumindest eine Ahnung davon.

So gibt es die 2500jährige chinesische Tradition der sogenannten Petition, die von Konfuzius herrührt. Konfuzius war der Meinung, daß jeder nur von oben regiert werden kann, und zwar von gebildeten, weißhaarigen Männern. Mit der Kulturrevolution vollzog sich ein Bruch in dieser Tradition, und mittlerweile gibt es sehr viele junge Menschen, darunter sehr viele Frauen, was sehr wichtig ist, mit einer vorzüglichen Bildung. Von den 80 Millionen Mitgliedern der Kommunistischen Partei, so habe ich gehört, verfügen mindestens 70 Millionen über einen Hochschulabschluß, also nicht nur das Abitur. Wenn eine Lokalgemeinde einen kritischen und konstruktiven Vorschlag einreicht, dann wird er ernst genommen. Deswegen gibt es in jedem öffentlichen Gebäude einen Schalter, hinter dem Bürokraten sitzen. Davor stehen die Leute mit einem Papier in den Händen Schlange. Ich habe so etwas zum ersten Mal in Nanjing gesehen. Man könnte sagen, daß es dabei um Lokal-Demokratie geht. Mein Stadtführer hat mir jedoch erklärt, daß sie diese Praxis Ideen-Demokratie nennen. Im Westen habe man dagegen eine arithmetische Demokratie. Darauf habe ich erwidert: Könnte man nicht beides haben, das Arithmetische gewissermaßen als kleine Kontrolle? Da hat er nur gelacht. Ich erzähle diese kleine Geschichte, um zu verdeutlichen, daß in China nicht alles so eindeutig und klar ist. Ein Streik oder Protest könnte Monate dauern. Daher werden die Beschwerden der Arbeiterschaft öffentlich verhandelt.

Es ist sehr wichtig zu verstehen, daß es für eine chinesische Regierung nichts Furchtbareres gibt, als das Mandat des Himmels zu verlieren. Wenn ich fragte, wie man als jemand, der nicht an Gott glaubt, weiß, ob man das Mandat des Himmels hat oder nicht, wurde mir geantwortet, daß man kein Mandat des Himmels hat, wenn es Unruhen in den Straßen gibt. Wenn ich daraufhin sagte, daß damit dann wohl das Mandat des Volkes gemeint ist, haben meine chinesischen Gesprächspartner gelacht. Wenn man also in China versucht, eine Lösung zu finden, dann spielen Ideen eine große Rolle. Wenn sie ihren Weg weitergehen können, dann deswegen, weil sie diese lokaldemokratischen Ideen ernst nehmen. Wenn man über China und Demokratie redet und das nicht weiß, weiß man nichts.

SB: Herr Galtung, vielen Dank für dieses Gespräch.

Gesprächsrunde im Garten des Gewerkschaftshauses - Foto: © 2013 by Schattenblick

Pressegespräch mit Johan Galtung im Kieler Legienhof
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnote:

Bericht zur Kieler Veranstaltung mit Johan Galtung siehe

BERICHT/151: Frieden, der Ratschluß des Stärkeren (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0151.html

12. Juni 2013