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INTERVIEW/219: Bündnis breit und gegen ... - Widerstandssignale, Yilmaz Kahraman im Gespräch (SB)


Vom Wolf im Schafspelz

Interview am 24. Mai 2014 in Köln



Yilmaz Kahraman studierte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn Islamwissenschaften und Orientalische Kunstgeschichte. Parallel zu seinem Studium engagierte er sich beim Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V. (BDAJ) und wurde im Jahr 2009 der erste hauptamtliche Mitarbeiter des Verbandes. Seit November 2011 ist er bei der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V. (AABF) [1] in Köln im Projekt "Zeichen setzen! Für gemeinsame demokratische Werte und Toleranz bei Zuwanderinnen und Zuwanderern" beschäftigt. Seit Juni 2013 ist Herr Kahraman Bildungsbeauftragter der Alevitischen Gemeinde Deutschland. An der Pädagogischen Hochschule Weingarten gehört er dem Lehrkörper im Bereich Alevitische Religionspädagogik/Theologie an. [2]

Als Presseverantwortlicher der Alevitischen Gemeinde und einer der Organisatoren der Großkundgebung gegen den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Köln am 24. Mai hatte Yilmaz Kahraman alle Hände voll zu tun. Dennoch erklärte er sich gern bereit, unmittelbar vor Beginn der Auftaktkundgebung dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.

Neben dem Lautsprecherwagen stehend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Yilmaz Kahraman mit SB-Redakteur
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Kahraman, ich möchte Sie eingangs fragen, aus welchen Gründen die heutige Gegendemonstration anläßlich des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Köln organisiert worden ist.

Yilmaz Kahraman: Wir demonstrieren gegen Erdogan, weil er ein Antidemokrat ist. Wir möchten hier ein Zeichen setzen, daß wir uns für die Demokratie, für die Gleichberechtigung der Menschen, für eine plurale Gesellschaft, für eine Gesellschaft, in der Menschen frei ihre Meinung äußern können, einsetzen. Das Problem besteht darin, daß die genannten Gegebenheiten in der Türkei nicht existieren. Und als sei das für sich genommen nicht schon schlimm genug, kommt Erdogan jetzt auch noch nach Deutschland und versucht, die hier lebenden Menschen ebenfalls zu polarisieren. Deshalb möchten wir heute ein Zeichen setzen und klar und deutlich sagen: Nein, Erdogan, nach Deutschland darfst du nicht kommen! Wir möchten nicht, daß du nach Köln kommst! Wir zeigen da ganz klar unsere Position.

SB: Welche konkreten Vorwürfe erheben Sie gegen Herrn Erdogan?

YK: Sein Regierungsstil ist von Korruption geprägt, es findet eine schleichende Islamisierung, eine Radikalisierung des Landes statt, die inzwischen so weit geht, daß Polizisten das Volk angreifen. Das haben Sie bei den G7-Protesten gesehen, das haben Sie auch vor zwei Tagen in Istanbul gesehen. Dort wurden sogar zwei junge Menschen von der Polizei erschossen. Das sind unübersehbare Signale, die man mit Blick auf eine demokratische Gesellschaft entsprechend einordnen muß. Unter dieser Regierung ist die Türkei offensichtlich keine Demokratie und kein Rechtsstaat. Und insbesondere ist Erdogans Politik durch Korruption geprägt, wie wir das in der vergangenen Woche beim Grubenunglück in Soma erleben mußten, bei dem es sich nicht nur um einen Unfall, sondern um Mord gehandelt hat. Die Sicherheits- und Schutzbestimmungen wurden nicht eingehalten, obwohl es zuvor durchaus kritische Stimmen gegeben hatte, die dringend eine Überprüfung anmahnten, ob die Sicherheit der Arbeiter in der Grube gewährleistet ist. Diese Kritiker fanden schlichtweg kein Gehör, weil die Korruption so ausgeprägt ist.

SB: Das Wirtschaftswachstum der Türkei, die der wichtigste Handelspartner der Bundesrepublik ist, wurde jahrelang von deutscher Seite hoch gelobt. Inzwischen ist dieses Wachstum eingebrochen, während zugleich deutlich wird, zu welchem Preis und zu wessen Lasten dieses Wachstum erwirtschaftet worden ist, nämlich mit niedrigen Löhnen und unzumutbaren bis gefährlichen Arbeitsbedingungen, wofür das Grubenunglück von Soma ein Beispiel ist.

YK: Genau. Es gibt eine bestimmte Gruppe, die Verbindungen zu Erdogan oder seiner Regierungspartei hat und immer reicher wird. Es werden unablässig Bauvorhaben vorangetrieben, wozu man klipp und klar sagen muß, daß durch dieses Baugeschäft auch sehr viel Geld verlorengeht. Ich habe bereits die Korruption angesprochen, durch die insbesondere auch beim Straßenbau und der Errichtung neuer Siedlungen im großen Stil Geld verschwindet. Das wird auch immer wieder kritisiert, doch gibt es bis heute keine Klarheit darüber, in welche Kanäle diese Gelder fließen. Und wir haben gesehen, wozu Korruption ebenfalls führen kann, nämlich dazu, daß bürgerkriegsähnliche Zustände in Istanbul und an vielen anderen Orten im Land herrschen.

SB: Wie würden Sie das Verhältnis der deutschen Regierung zur Türkei beurteilen? Es wirkt auf den ersten Blick sehr widersprüchlich. Ist es tatsächlich so widersprüchlich?

YK: Zum Teil ja. Erdogan hat sich immer der Taktik bedient, sich gegenüber Deutschland und Europa als Demokrat und Reformator der Türkei darzustellen. Inzwischen sollte aber jedem klar sein, daß er ein Wolf im Schafspelz ist. Sie haben seine Aussagen bezüglich des Grubenunglücks in Soma und der Protestaktionen gehört. Ich glaube, den Europäern und auch der weltweiten Öffentlichkeit wird jetzt immer klarer, daß Erdogan ein Wolf im Schafspelz ist. Ich denke, wir konnten in dieser Woche in den Medien gut verfolgen, daß sich die verschiedenen Fraktionen und auch türkeistämmige Lokalpolitiker klar gegen Erdogan positioniert haben. Sie haben indirekt zum Ausdruck gebracht, daß er eine Persona non grata in Deutschland ist. Doch Erdogan wollte das nicht hören und hat trotzdem beschlossen, nach Köln zu kommen.

SB: Welche Botschaft wollen Sie der deutschen Bevölkerung mit der heutigen Großkundgebung übermitteln?

YK: Ich möchte die Botschaft geben, daß wir gegen Radikalisierung sind und daß wir uns auf jeden Fall als Gesamtgesellschaft für unseren höchsten Wert, nämlich die Demokratie, einsetzen sollen. Und wenn sich bestimmte Gruppierungen, die Ableger von Erdogans Regierungspartei sind, in Deutschland organisieren, muß man sehr genau hinsehen. Man darf diese Organisationen nicht fördern, sondern muß sie ganz im Gegenteil kritisch beurteilen, da sie unsere Demokratie und unser friedliches Zusammenleben hier gefährden können.

SB: Die Alevitische Gemeinde in Deutschland und Europa stellt den weitaus größten Teil dieser Demonstration. Wie man sehen kann, haben sich aber auch zahlreiche andere Gruppierungen angeschlossen. Es handelt sich offensichtlich um ein breites Bündnis des Protests gegen Erdogan und die AKP-Regierung.

YK: Wir haben die Demonstration angemeldet, wir veranstalten und organisieren die Großkundgebung. Es gibt natürlich sehr viele Nicht-Aleviten oder nicht-alevitische Organisationen, die ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht haben, mitzudemonstrieren, mit dabeizusein und ebenfalls zu zeigen, daß sie Erdogan gegenüber kritisch eingestellt sind. Wir haben das im Sinne einer demokratischen Meinungsäußerung natürlich begrüßt und gesagt, ihr könnt gerne kommen. Solange es sich um keine radikalisierten Gruppen handelt, die dann auf andere losgehen, begrüßen wir das auf jeden Fall. Wir Aleviten sind die einzige türkeistämmige Gruppe, die wirklich Türken, Kurden, Armenier, Aleviten, Sunniten und die verschiedenen politischen Lager zusammenbringt und in einer friedlichen Demonstration eine große Kundgebung organisieren und durchführen kann. Das haben wir letztes Jahr in Köln am Heumarkt gezeigt und das haben wir schon vor zwei Jahren in Bochum unter Beweis gestellt.

SB: Herr Kahraman, vielen Dank für dieses Gespräch.

Stilisierte Silhouette eines Bergmanns - Foto: © 2014 by Schattenblick

Fanal gegen mörderische Arbeitsbedingungen
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://alevi.com/de/

[2] http://www.ph-weingarten.de/alevitische_religion/YilmazKahramanVita.php?navanchor=1010025


Bericht zur Großkundgebung gegen den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Köln im Schattenblick unter
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BERICHT/180: Bündnis breit und gegen - Nadel, Faden, Erdogan (SB)

9. Juni 2014