Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/291: Treffen um Rosa Luxemburg - getrennt marschieren ...    S.E. Jorge Jurado im Gespräch (SB)


Kein revolutionärer Kampf ohne Kritik und Selbstkritik

21. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin



Botschafter Jurado auf der Rosa Luxemburg Konferenz - Foto: © 2016 by Schattenblick

S.E. Jorge Jurado, Botschafter der Republik Ecuador in Deutschland
Foto: © 2016 by Schattenblick

Kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun: Selber tun! Unter diesem Motto fand an 9. Januar 2016 in der Berliner Urania mit der diesjährigen Internationalen Rosa Luxemburg Konferenz [1] das traditionelle Treffen der radikalen Linken statt. Anlässe und Beweggründe, wenn es denn ihrer in Ermangelung einer fundamentalen Streitposition überhaupt bedürfte, gäbe es in Deutschland, einem der Standorte des aus marxistisch-leninistischer Sicht höchstentwickelten Imperalismus, in Hülle und Fülle, haben sich doch die realen wie "gefühlten" Lebens- und Arbeitsbedingungen der meisten Menschen rapide bis extrem verschlechtert. Der Gegenseite scheint es mehr denn je zu gelingen, die Lohn- oder Unterstützungsabhängigen gegeneinander zu stellen, wozu das große Heer sogenannter Flüchtlinge bzw. Migranten zu Zwecken der sozialen Spaltung und Atomisierung zusätzlich in Anspruch genommen wird.

Daß die Zuspitzung der sozialen Frage in einem der reichsten Staaten der Welt mit dessen aktiver Kriegführungspolitik Hand in Hand geht, wäre in der Tradition linker Kämpfe und Streitbarkeit der Erwähnung kaum wert. Dafür standen schon Menschen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, von der Konterrevolution vor knapp hundert Jahren ermordet, mit ihrem Leben ein. Luxemburg, Kommunistin, Revolutionärin und bahnbrechende Analystin ihrer Zeit, hat wie Lenin und andere den marxistischen Imperialismusbegriff weit vorangetrieben; er wurde später von vielen Befreiungsbewegungen der sogenannten dritten und vierten Welt aufgegriffen. Der Sieg der Revolution in Kuba und der anschließende Aufbau eines vom sowjetischen Hegemonialbereich freigehaltenen eigenständigen Gesellschaftsentwurfs "Sozialismus" waren Fanale, die weit über die Grenzen des amerikanischen Kontinents hinaus Wellen schlugen. [2]

Der Hauptfeind steht jedoch - Liebknecht zufolge - immer im eigenen Land. Bedeutet dies in einer Zeit, in der (klassen)kämpferische Inhalte alles andere als mehrheitsfähig sind, aus wahltaktischen Erwägungen die eigene Fahne immer niedriger zu hängen oder eher einer Radikalisierung den Vorzug einzuräumen, zumal die unreflektierte Beteiligung am großen Raub der Entschärfung linker Streitkultur den Boden zu bereiten droht? All diese Fragen und noch viel mehr waren von großem Interesse für die Teilnehmenden der Rosa Luxemburg Konferenz, auf der die Errungenschaften lateinamerikanischer Staaten in Sachen Sozialismus gebührend gewürdigt wurden.

Die in den vielen Jahren internationalistischer Solidarität gewachsene Verbundenheit mit den Bewegungen und Kämpfen Lateinamerikas scheint hierzulande vielfach mit dem Wunsch zu korrespondieren, aus den faktischen Erfolgen und Etappensiegen dortiger Bewegungen und als links geltender Regierungen Mut, aber auch eine Bestätigung der eigenen konzeptionellen Perspektiven zu schöpfen. Dabei wird leicht vergessen, daß dem in Staaten wie Venezuela, Bolivien oder Ecuador parlamentarisch vollzogenen Politikwechsel massenhafte Protest- und Widerstandsbewegungen vorausgingen, die die vorherigen, im Dienste nationaler Oligarchien stehenden Regierungen unter oft dramatischen Umständen zu Fall brachten oder zum Rückzug zwangen.

In Ecuador beispielsweise herrschte vor dem Amtsantritt des jetzigen Präsidenten Rafael Correa im Jahr 2006 eine extreme Armut. In den zehn Jahren zuvor hatte es acht Präsidenten gegeben - nicht selten Hoffnungsträger gerade auch der Linken -, von denen drei durch Volksaufstände aus dem Amt gejagt wurden. Correa stellte sich wie die landesweite Widerstandsbewegung gegen das Diktat von IWF und Weltbank und den neoliberalen Ausverkauf Ecuadors. In seiner Regierungszeit wurde eine Bürgerrevolution etabliert, die neue Verfassung des Landes wurde 2008 per Referendum angenommen. Nachweisbare Erfolge in der Armutsbekämpfung wie auch im Bildungs- und Gesundheitsbereich führten dazu, daß Correa 2009 als erster Präsident Ecuadors wiedergewählt und 2013 für weitere vier Jahre im Amt bestätigt wurde.

Die fortschrittlichen Staaten Lateinamerikas als links zu bezeichnen, wäre ein wenig zu kurz gegriffen, weil in ihnen keineswegs die kapitalistische Verwertungsordnung oder der staatliche Schutz der Eigentumsverhältnisse aufgekündigt wurde. Ungeachtet dessen wird im Westen, so als hätte er diese Beispiele einer sozialen Reform- und Umverteilungspolitik von oben nach unten zu fürchten, häufig der Vorwurf des Linkspopulismus erhoben. Wie aber stellt sich die hiesige radikale Linke in ihrer keineswegs homogenen Erscheinungsform zu den "roten" Staaten - Kuba nicht zu vergessen - Lateinamerikas? Werden sie als Hoffnungsträger oder Bündnisgenossen in einer internationalistischen Auseinandersetzung wahrgenommen?

An der diesjährigen Rosa Luxemburg Konferenz nahm S.E. Jorge Jurado, langjähriger Botschafter der Republik Ecuador in Deutschland, teil. Am Rande der Konferenz erklärte er sich bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten und grundsätzliche Themen der Linken, aber auch die aktuellen Entwicklungen aus lateinamerikanischer Sicht ein wenig zu beleuchten.


Schattenblick (SB): Herr Botschafter, sind Sie heute als Gast hier auf der Rosa Luxemburg Konferenz oder repräsentieren Sie auch Ihre Regierung?

S.E. Jorge Jurado (JJ): Nein, ich bin als Gast hergekommen.

SB: Berührt die Konferenz eher Ihr persönliches Interesse an grundsätzlichen politischen Fragen der Linken oder sehen Sie da auch eine Verbindung zur aktuellen Situation in Ecuador?

JJ: Erst einmal ist es mein persönliches Interesse. Selbstverständlich kann man auf so einer Konferenz, wo viele interessante Vorträge gehalten werden, eine Menge lernen. Sehr vieles können wir ohne weiteres für unsere eigene Zukunft in Ecuador verwenden. Man lernt jeden Tag.

SB: Vielfach wird in der Linken das Verhältnis zum Staat kontrovers diskutiert. Rosa Luxemburg war Kommunistin und Revolutionärin, die nach ihr benannte Konferenz gilt als Treffen einer radikalen Linken. Wie sehen Sie das Verhältnis von staatlicher Reformpolitik zu klassenkämpferischen Positionen?

JJ: Das ist sehr verschieden, diese Frage muß innerhalb des jeweiligen Kontextes beantwortet werden. Generell ist die Lage der linken Bewegung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Europas eine vollkommen andere als in den fortschrittlichen Ländern Lateinamerikas. Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Aber ich würde auf jeden Fall sagen, daß wir in unseren Ländern, zum Beispiel in Ecuador, versuchen, den Staat zu stärken. Dafür haben wir gute Gründe, weil wir schon mehrere Dekaden erlebt haben, in denen der Staat durch eine neoliberale Politik absolut abgebaut wurde.

Wenn nun von linker Seite uns gegenüber die Kritik kommen würde, daß der Staat geändert werden müsse, würde ich sofort fragen, in welcher Hinsicht denn und warum? Höchstwahrscheinlich könnten wir uns darüber in einer Diskussion auch verständigen. Aber zur Zeit ist es bei uns wichtig, daß der Staat stärker wird, damit überhaupt noch die Möglichkeit besteht, der Gesellschaft ein neues Fundament zu verschaffen und ihr die Kontrolle darüber zu geben, daß die neoliberale Politik nicht wieder durchkommt. Im Moment spielt der Staat innerhalb der fortschrittlichen Länder Lateinamerikas eine sehr große und wichtige Rolle, um die soziale Ungleichheit abzubauen.

SB: Viele Menschen, die hier in Europa solidarisch sind mit Venezuela, sind wegen der aktuellen Entwicklung sehr besorgt. Wie schätzen Sie die Kräfteverhältnisse dort jetzt ein?

JJ: Die Situation ist auch für uns in Lateinamerika besorgniserregend, weil anhand verschiedener Fehler, die gemacht wurden, jetzt leider die Situation entstanden ist, daß die radikale Rechte innerhalb Venezuelas die absolute Mehrheit im Parlament gewonnen hat. Das wird eine sehr schwierige Situation mit sich bringen, denn es gibt ansonsten, glaube ich, zur Zeit kaum noch eine Möglichkeit, gesellschaftlich etwas zu verändern. Wir müssen sehen, wie die Regierung von Präsident Maduro das handhaben wird. Die Sprüche, die es vom rechten Lager jetzt schon gegeben hat, sind eindeutig. Die wollen Maduro innerhalb der nächsten sechs Monate aus dem Amt jagen, also die Regierung zu Fall bringen. Das ist selbstverständlich eine sehr ernste Situation.

SB: Wie wirkt sich denn dieser Rechtsruck auf ganz Lateinamerika aus? Gibt es innerhalb des ALBA-Bündnisses, in dem Venezuela eine führende Rolle einnimmt, jetzt schon Veränderungen, die sich bemerkbar machen?

JJ: Zur Zeit noch nicht. Aber das ALBA-Bündnis war in den letzten zwei, drei Jahren schon etwas geschwächt, weil sich die innere Situation Venezuelas darin widerspiegelte. Die wirtschaftliche Lage und der Handel, besonders der zwischen unseren Ländern, ist auch etwas zurückgegangen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß eines der Ziele der Rechten in Venezuela heute ist, den Austritt des Landes aus der ALBA-Gemeinschaft zu verwirklichen. Ich bin mir fast sicher, daß das eines der wichtigsten Vorhaben ist, das sie überhaupt haben werden.

SB: Hat denn Ihre Regierung schon auf die aktuelle Entwicklung reagiert, indem sie beispielsweise gesagt hätte, wir müssen gerade jetzt in die Offensive gehen?

JJ: Wir müssen mit Blick auf die verschiedenen Situationen und die vielen Fehler, die sowohl in Argentinien als auch in Venezuela gemacht wurden, eine sehr starke Kritik und Selbstkritik üben. Das müssen wir auf jeden Fall tun. Ohne eine solche Kritik, glaube ich, würden auch wir verschiedene Fehler machen - nicht unbedingt dieselben, aber doch bestimmte Fehler -, die vielleicht auch unsere eigenen Bewegungen treffen könnten. Aber eines ist für uns ganz, ganz klar: Wir dürfen den Feind überhaupt nicht unterschätzen. Die Rechte ist lebendig und wird sehr stark von einer internationalen Koalition, wie wir vielleicht sagen könnten, unterstützt, und sie verfügt über ausreichende Mittel. Sie hat die Macht nie wirklich verloren, besonders nicht die wirtschaftliche. Das sind Situationen, die wir tatsächlich sehr ernstnehmen müssen.

SB: Eine Frage noch zum Schluß: Was bedeutet Rosa Luxemburg für Sie persönlich?

JJ: Rosa Luxemburg bedeutet für mich die Möglichkeit, ständig zu hinterfragen, was man macht, wie man es tut und warum. Es ist meiner Meinung nach die Haupteigenschaft Rosa Luxemburgs gewesen, alles immer wieder in Frage zu stellen, und das müssen auch wir tun.

SB: Vielen Dank, Herr Botschafter, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe auch die Konferenzberichte im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/223: Treffen um Rosa Luxemburg - Wasser predigen ... (SB)
BERICHT/224: Treffen um Rosa Luxemburg - Weichgespült ... (SB)

[2] Zu Kuba siehe im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/227: Treffen um Rosa Luxemburg - Die Gier der Märkte ... (SB)


21. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/223: Treffen um Rosa Luxemburg - Wasser predigen ... (SB)
BERICHT/224: Treffen um Rosa Luxemburg - Weichgespült ... (SB)
BERICHT/225: Treffen um Rosa Luxemburg - Eine Hälfte brennt ... (SB)
BERICHT/226: Treffen um Rosa Luxemburg - Multiform schlägt Uniform ... (SB)
BERICHT/227: Treffen um Rosa Luxemburg - Die Gier der Märkte ... (SB)
INTERVIEW/289: Treffen um Rosa Luxemburg - und niemand sieht hin ...    Nick Brauns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/290: Treffen um Rosa Luxemburg - Vergessen frißt Fortschritt auf ...    Ihsan Cibelik im Gespräch (SB)

4. Februar 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang