Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/298: Treffen um Rosa Luxemburg - Verantwortlich und selbstbestimmt ...    Jennifer Michelle Rath im Gespräch (SB)


Geschlechterfragen in Bewegung

Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 10. Januar 2016 in Berlin


Die Queer-Aktivistin Jennifer Michelle Rath ist im Lesben und Schwulen Verband Deutschland (LSVD) und im Aktionsbündnis gegen Homophobie engagiert. Sie ist in der Gewerkschaft ver.di organisiert und hat dort die Arbeitsgruppe trans, inter im BAG bei ver.di-queer mitgegründet. Als Mitglied der Partei Die Linke war sie Sprecherin der BAG DIE-LINKE.Queer, kandidierte 2014 für das Amt der Bürgermeisterin im bayerischen Gersthofen und für das Europaparlament. Nach der diesjährigen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 10. Januar 2016 in Berlin beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu ihrem Engagement für die Selbstbestimmung und Gleichstellung von Minderheiten und die politische Verantwortung, die die Gesellschaft dafür zu übernehmen hat.


Offizielles Foto zu den Europawahlen 2014 - Foto: © 2014 by DiG/Trialon

Jennifer Michelle Rath
Foto: © 2014 by DiG/Trialon

Schattenblick (SB): Jennifer Michelle, warum hast du dich in einer bayrischen Stadt wie Gersthofen, wo Die Linke nicht besonders stark ist, für das Bürgermeisteramt beworben?

Jennifer Michelle Rath (JMR): Vor allem deswegen, um als Partei dort auch linke Themen zu platzieren, zumal viele Stadtväter nur eine unternehmerische Politik auf der Agenda hatten und die Bereiche Arbeit und Soziales weitgehend ausgeblendet wurden. Daß meine Wahl chancenlos war, hat mich nicht von einer Kandidatur abgehalten, weil ich der Meinung bin, daß man selbst etwas machen muß, wenn man Veränderungen durchsetzen will.

SB: Hast du im Wahlkampf Reaktionen erlebt, bei denen du als Queer-Aktivistin ins Visier genommen wurdest?

JMR: Bayern ist in dieser Hinsicht natürlich ein bißchen speziell. Einige Leute haben zum Beispiel aus dem Auto heraus den Stinkefinger gezeigt. So war es nicht einfach, Queer-Themen zu plazieren, weil diese von vornherein stigmatisiert worden sind und überhaupt wenig Möglichkeiten bestanden, etwas in diese Richtung einzubringen. Auch bei meiner Kandidatur zum EU-Parlament stieß ich in Bayern auf große Schwierigkeiten, und nicht nur, weil Die Linke bei den Wahlkampagnen insgesamt kaum eingebunden war. Als ich beispielsweise während der Europawoche eine politische Veranstaltung an der Universität besuchte, hielten Vertreter_innen der SPD, der Grünen, der CSU und der FDP Reden unter anderem zum Rettungsschirm, die aus meiner Sicht sehr konservativ ausfielen. Ich habe die Veranstalter_innen dann gefragt, warum Die Linke nicht anwesend ist. Es hieß, die Planung sei im Oktober abgeschlossen und könne nun kurzfristig nicht mehr geändert werden. Als ich mich als Europakandidatin der Linken zu erkennen gab und anbot, für meine Partei aufzutreten, wehrte man meinen Vorschlag vehement ab. Man wollte es schlicht und einfach nicht. Später hat einer der Studenten gefragt, warum Die Linke nicht offiziell eingeladen war. Daraufhin haben wir uns offiziell beschwert, weil es nicht angehen kann, daß die Linken ihre Standpunkte nicht einbringen können.

SB: Für welche Themen hast du dich als Europakandidatin stark gemacht?

JMR: Ich habe das TTIP-Thema stark eingebracht und in Freilassing wie in Deggendorf dazu gesprochen. An der Universität von Eichstätt habe ich zum Queer-Thema referiert, dabei aber weniger die politische Seite beleuchtet, als vielmehr allgemein für das Thema geworben. Ich konnte auch bei dem Bundestagsabgeordneten und Schwulenaktivisten Harald Petzold mitwirken. Bei der Kandidatur haben sich transsexuelle Menschen mir gegenüber geoutet, wobei herauskam, daß der Verlust des Arbeitsplatzes ein großes Thema ist, was in Politik und Medien nicht diskutiert wird.

SB: Du hast auch an der LL-Demo teilgenommen. Was hat dich dazu bewogen, gerade dort Flagge zu zeigen und welche Erfahrungen hast du dabei gemacht?

JMR: Ich bin hingegangen, weil es mir wichtig ist, für Sichtbarkeit zu sorgen, Egal, ob ich Zeitungen aufschlage oder andere Medien schaue, immer treffe ich auf die Zwei-Geschlechter-Ordnung, auf die männliche und weibliche Form. Gerade Transgender- oder intersexuelle Menschen, die sich selber gar nicht als männlich oder weiblich Definieren, werden dadurch stigmatisiert. Meines Erachtens ist es notwendig, alle Menschen anzusprechen. Wir sind Teil der Gesellschaft und es ist an der Zeit, daß das berücksichtigt oder wenigstens Sensibilität dafür geschaffen wird.

SB: Wie waren die Reaktionen der anderen Demonstranten?

JMR: Ich hatte die große Queer-Fahne dabei, die ich zu größeren Veranstaltungen immer mitnehme. Zu Beginn der Demo habe ich Leute gefragt, ob sie sie halten würden. Einige haben zugestimmt, andere nicht. Interessanterweise gab es auch welche, die das unterstützten, ohne daß ich sie gefragt hatte. Manche mußte ich direkt ansprechen und dafür sensibilisieren, aber dann ging es auch. Im ganzen war die Resonanz gut. Positiv begeistert hat mich vor allem, daß sich eine Person aus New York dafür bedankt hat, daß sie die Fahne tragen durfte.

SB: Auf welche Resonanz bist du in der Partei Die Linke mit deinem Engagement gestoßen?

JMR: Auf dem Bundesparteitag 2015 habe ich im Frauenplenum einen Antrag gegen die Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen und Queer eingereicht und vom Frauenplenum sehr viel Unterstützung erhalten. Dazu gibt es einen Beschluß, in dem der Parteitag alle Gremien und Gliederungen auffordert, die Situation von LSBTTIQ-Menschen bei der Bestimmung der inhaltlichen Schwerpunkte in allen Politikfeldern der Partei und bei der Wahl der Sprache in ihren Publikationen einzubeziehen und jegliche Diskriminierung zu beseitigen.

Man wird jetzt schauen müssen, wie sich die Umsetzung gestaltet, weil viele Beschlüsse immer noch gern mit der Zwei-Geschlechter-Kategorisierung verabschiedet werden. Jedenfalls habe ich verschiedene Kreisverbände mit der Bitte um Unterstützung angeschrieben, um über den Beschluß zu informieren und zu erklären, daß es mich persönlich freuen würde, wenn in ihren Texten eine genderneutrale Schreibweise verwenden würde, um die Sichtbarkeit von Transgendern und Intersexuellen zu verbessern. Mal schauen, was dabei herauskommt, aber immerhin tut sich schon etwas.

SB: Geht es dir im speziellen darum, daß man den Unterstrich verwendet oder hast du andere Vorstellungen dazu?

JMR: Ich persönlich mag den Unterstrich. Man kann aber auch ein Sternchen machen. Welche Form man wählt, ist mir völlig egal, wichtig ist nur, daß man neutral bleibt, denn alles, was ausschließt, lehne ich ab. Wenn man sich wirklich mit einer genderneutralen Sprache beschäftigt, wird man merken, daß das jetzige System der Ausgrenzung Vorschub leistet. Natürlich ist es wichtig, Frauen und Männer anzusprechen. Auch für mich gibt es diese beiden Geschlechter, ganz klar, aber es gibt auch Menschen, die sich nicht so definieren.

SB: Glaubst du, daß eine Reform der zweigeschlechtlichen Sprachtradition hilfreich sein könnte, die gesellschaftliche Diskriminierung anderer Formen der sexuellen Orientierung auszuschließen?

JMR: Interessant bei der Sprache ist, daß die Leute, die eine genderneutrale Sprache verwenden wollen oder auch müssen, auf diese Weise merken, daß es auch andere Menschen in der Gesellschaft gibt, die ebenfalls berücksichtigt, sichtbar gemacht und auch in ihren Themen angesprochen werden müssen. So kommen wir auf ganz andere Ideen, wie wir etwas schreiben und teilweise sogar weglassen können, weil es gar nicht notwendig ist. Aber man kann nur dann wirklich sehen, daß sich etwas verändert, wenn man es anwendet. Natürlich muß diese andere schriftsprachliche Regelung erst entwickelt werden. Ich finde den Unterstrich gut, weil er von Personen, die transsexuell sind, gerne verwendet wird. Ich kann aber genauso gut Sternchen machen. Ich will keinem vorschreiben, was er zu nehmen hat. Wichtig ist, daß sich die Leute selber Gedanken darüber machen.

SB: Wird die ohnehin prekäre Lage von Geflüchteten durch Trans- und Homophobie zusätzlich belastet?

JMR: Im Augenblick kommen sehr viele geflüchtete Menschen zu uns, die unterschiedliche Kulturen und ein bestimmtes Geschlechterverständnis haben. In manchen Ländern haben Frauen nicht einmal dieselben Rechte wie Männer, was für uns selbstverständlich ist. Dort sind gerade auf Grundlage der Zweigeschlechtlichkeit Transphobie und Homophobie ein großes Problem. In einigen Ländern gibt es nicht einmal Intersexuelle, zum einen wegen der Operationen und zum anderen, weil späte Abtreibungen, mitunter einen Tag vor der Geburt, zugelassen werden. Auch in Deutschland wurde das früher gemacht.

SB: Die Zweigeschlechtlichkeit ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das die biologischen Kategorien von Mann und Frau verabsolutiert. Wie siehst du dich selber?

JMR: Ich bin transsexuell, quasi ein Gegengeschlecht. Ich bin eine Frau mit Trans-Hintergrund, wie ich immer sage. Daß ich eine Frau bin, ist definitiv so, leider wird das immer noch diskriminiert. Nach dem Transsexuellengesetz (TSG) müßten in der Geburtsurkunde meines Kindes bzw. meiner Geschwister mein alter Name und mein altes Geschlecht drinstehen. Das ist ein echtes Problem und muß geändert werden. Auf gesetzlicher Seite ist noch viel zu tun. In anderen Ländern wie beispielsweise Irland ist das schon gemacht worden, was zeigt, wie wichtig es ist, auch hier nach Möglichkeiten zu suchen, um ebenfalls Fortschritte zu erzielen.

SB: Der Deutsche Ethikrat hat 2012 einen Beschluß zum Thema Intersexualität gefaßt, der auch Einfluß auf das Namensrecht hat. Könntest du einmal schildern, wo für dich über die alltäglichen Praxis der Diskriminierung hinaus noch eklatanter Veränderungsbedarf besteht?

JMR: Ein wirklich schwerwiegendes und auch belastendes Problem gibt es in der Sexualerziehung mit der Zuweisung der Geschlechter. Wie verhält sich ein Mädchen, wie ist ein Junge zu charakterisieren? Es ist doch egal, ob ein Mädchen mit Autos oder ein Junge vielleicht mit Puppen spielt. Es gibt Kinder, die wirklich mit allem spielen, wie ich es getan habe. Daran auszumachen, ob es ein Junge oder Mädchen ist, macht keinen Sinn. Nur weil es die Zuweisung der Geschlechter gibt, wird am eigenen Verhalten, wie man sich bewegt oder spricht, Anstoß genommen. Ich selbst habe schon im vierten Lebensjahr erfahren müssen, wie Kindererzieherinnen mit dem Finger auf mich gezeigt und gesagt haben: Na, bist du ein Junge oder bist du ein Mädchen - und sie haben dabei gelacht. Ich konnte das überhaupt nicht einordnen. Ich wußte nicht, was sie wollen, habe bloß gemerkt, daß man mich gedemütigt hat. Und es ist immer wieder gemacht worden.

Die anderen Kinder, die dieses Verhalten mitbekommen haben, konnten es genauso wenig einordnen. Sie haben nur registriert, daß man mich ausgelacht hat, und fingen dann an, mich abzuwerten und auszuschließen. So hat sich das durch meine Kindheit durchgezogen. Sofern man der Erwartungshaltung von anderen entspricht, wird man toleriert, aber nicht wirklich akzeptiert. Es fängt damit an, daß in der Gruppe gesagt wird: Du gehörst hier nicht her - und man schubst dich weg. Wenn die Gruppe toleriert, daß man mit dir schlechter umgeht, wird daraus ein Konsens. Aber irgendwann wird es zu langweilig, den anderen immer nur wegzustoßen, weil es für bestimmte Leute nicht mehr die Möglichkeit bietet, sich in den Mittelpunkt zu drängen. Sie müssen dann einen Schritt weitergehen und beginnen zu schlagen. Dann gibt es einige in der Gruppe, denen es auffällt, daß das zu weit geht, und sie stellen sich auf deine Seite. Du hast das Gefühl, daß dich jemand jetzt verstanden hat und daß dieser Mensch vielleicht ein Freund für die Zukunft sein könnte. Aber dann merkst du schnell, daß die Person, die dir geholfen hat, jetzt selber zur Zielscheibe der anderen wird und ganz schnell wieder von dir abrückt.

An diesem Punkt ist zu merken, wie stark die gesellschaftlichen Strukturen über die geschlechtliche Zuweisung geprägt sind. Deswegen ist in meinen Augen auch eine verantwortungsvolle Antidiskriminierungsarbeit in der Bildung so wichtig, am besten ab der Kita, um so früh wie möglich dafür zu sensibilisieren, daß alle Menschen gleichwertig sind, egal, wie sie sich verhalten oder wie sie sind.

SB: Wer entscheidet eigentlich über die Kostenübernahme für eine Operation zur Geschlechtsumwandlung und wie stehst du zu einem solchen Schritt?

JMR: Eine Person, die für sich einen anderen Lebensweg beschließt, hat viele Torturen zu bestehen. Man muß wirklich lange ausharren und jeden einzelnen Fortschritt abwarten, obwohl man eigentlich gar nicht warten möchte. Man muß außerdem bei zwei verschiedenen Psychotherapeuten in Behandlung sein, die am Schluß auch die Gutachten erstellen. Das kostet viel Geld, das man selber aufbringen muß. Die geschlechtsanpassenden Operationen werden zum Teil von den Krankenkassen übernommen. Die entgültige Entscheidung trifft der Medizinische Dienst der Krankenkassen, nach Einreichung der beiden psychotherapeutischen Gutachten. Das Outing ist dann ein Thema für sich, gerade wenn man in einem Unternehmen arbeitet. Eventuell wird man als Risikofaktor angesehen, weil sich das negativ auf die Kunden auswirken könnte. Man hat das Gefühl, bei allem, was man tut, kontrolliert zu werden. Das haben mir viele Transsexuelle erzählt. Eine Freundin hatte einen Mitarbeiter, der ihr übergeordnet war und im Endeffekt nicht mit ihr zusammenarbeiten wollte, weil er als Christ ein Problem mit der Situation hatte.

SB: Habe ich dich richtig verstanden, daß man selbst bezahltes Gutachten in Auftrag geben muß, um die Kosten für die Operation bei der Krankenkasse erstattet zu bekommen?

JMR: Ja genau. Erst einmal ist ein Probejahr zu durchstehen. Da ist es wichtig, sich auch in seiner Arbeitssituation weiblich zu kleiden und als Frau zu leben. Um keinen Ärger mit dem Chef zu bekommen, ziehen sich manche lieber Kleidung an, die beide Geschlechter tragen können, um nicht aufzufallen. Bei der Gesichtsbehaarung ist es schon schwieriger. Der Versuch, den Bartwuchs mit Epilation wegzukriegen, ist das einzige, was übernommen wird, aber das schlägt nicht unbedingt an. Bei mir hat nur eine Laserbehandlung tatsächlich gewirkt.

SB: Ist es deiner Ansicht nach überhaupt erstrebenswert, sich an äußerliche Merkmale anzupassen, anhand derer das Geschlecht identifiziert wird? Könnte es statt dessen nicht erstrebenswerter sein, die eigene Emotionalität und geschlechtliche Identität einfach so zu leben, wie man es möchte, ohne sich um die sozialen Reaktionen zu kümmern ?

JMR: Zum einen guckt die Gesellschaft natürlich komisch, wenn eine Frau einen Vollbart oder Stoppeln hat, schon ein Bartschatten kann zuviel sein. Zum anderen möchte man ja selbst die Veränderung. Transsexuelle sind im Gegengeschlecht geboren. Sie machen alles, um beispielsweise weiblich sein zu können. Ich selbst würde einen Bart nie in Kauf nehmen, und wegen meiner dunklen Stimme bin ich gerade in einer Stimmtherapie.

SB: In der linken Queer-Debatte wird das Geschlecht im wesentlichen als soziales Konstrukt behandelt und die Biologie nicht zur entscheidenden Instanz erhoben. Wenn du in deinem Gegengeschlechtsverhältnis eine eindeutige Identität anstrebst, könnte es da nicht sein, daß du damit im Grunde genommen die Konstruiertheit des Geschlechts, was für viele ein Fortschritt darstellt, wieder unterläufst?

JMR: Es gibt Transgender, die selber sagen, ich brauche das nicht und lehne operative Maßnahmen ab. Mir ist es aber wichtig, daß ich eine Frau bin. Man kann versuchen, einen Menschen sozial zu einer Frau oder zu einem Mann zu erziehen. Auch bei mir wurde versucht, mich zu etwas zu erziehen, aber es hat nie funktioniert. Ich bin immer wieder zu dem Punkt gelangt, daß ich mich anders verhalte. Das Schlimme dabei war, daß ich Angst hatte, mich zu weiblich zu geben, um nicht wieder ausgelacht zu werden. Also versuchte ich, mich in zweideutige Erklärungen zu flüchten, um nach Antworten zu suchen. Für einige Menschen ist die Situation, daß sie im gegengeschlechtlichen Körper leben, so belastend, daß sie versuchen, sich die Genitalien abzutrennen, oder sich anders verstümmeln. Dabei besteht große Lebensgefahr. Andere würden sich lieber das Leben nehmen, als so weiter zu leben wie bisher. Für diese Menschen sind Hormone und geschlechtsangleichende Operationen eine riesengroße Erleichterung.

SB: Hältst du es für wünschenswert, daß sich Zweigeschlechtlichkeit auch zugunsten der verschiedensten Formen, die nicht eindeutig identifizierbar sein müßten, gesellschaftlich irgendwann einmal aufheben läßt?

JMR: Es gibt Frauen und es gibt Männer. Ich kann nicht alles unter einen Strich setzen, indem ich sage, alles ist gleich, das haut nicht hin. Nur Frauen können schwanger werden und gegebenenfalls auch Transmänner. Männer und Frauen haben ihre eigenen Themen, und ich finde, diese Gruppen müssen auch sichtbar sein. Aber da es auch Menschen gibt, die sich hier nicht einordnen wollen oder können, dürfen diese auch nicht unter den Tisch fallen.

Wir benötigen Gleichbehandlung, Respekt und Anerkennung für alle.

SB: Die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse bringen ein spezifisch maskulines Selbstverständnis hervor, unter dem Frauen, aber auch viele Schwule oder Leute, die sich anders identifizieren, zu leiden haben, sei es in Form von Diskriminierung oder sexualisierter Gewalt. Siehst du in der erweiterten Gleichstellung einen notwendigen Reformschritt oder bereits die Verwirklichung eines emanzipatorischen Ziels?

JMR: Die Frage ist doch, welches Verständnis von einem Zusammenleben wir favorisieren; soll es eher humanistisch geprägt sein, wo auch kleinere Gruppen ein Mitspracherecht haben, oder soll alles so bleiben, wie es immer war, daß Mehrheiten über Minderheiten entscheiden. Daß Mehrheiten sich nicht immer in Quantitäten ausdrücken, wird beim TTIP ersichtlich, wo ganze Bevölkerungen außer acht gelassen werden und nur unternehmerische Interessen die Strukturen, in denen wir leben, bestimmen. Dagegen muß man sich wehren und Formen schaffen, in denen es keine Benachteiligung gibt. Die soziale Ungleichbehandlung ist eine Riesenbaustelle, darunter fallen nicht nur die ökonomischen Bedingungen, sondern auch Genderthematiken. Generell geht es darum, Unterschiede abzubauen und Chancengleichheit herzustellen. Die Gleichstellung der Geschlechter wird jedoch immer nur zwischen Mann und Frau verhandelt.

In Bayern hatte ich eine Anfrage an die Gleichstellungsstelle gemacht, und zwar ging es um die soziale und berufliche Lage von Transsexuellen und Intersexuellen. Ich habe sechs Seiten zurückbekommen. Was für mich interessant war und worauf ich immer wieder aufmerksam gemacht habe, ist, daß an der Tür draußen "Gleichstellungsstelle für Männer und Frauen" steht. Es ist schlimm, daß Queer bei den Gleichstellungsbehörden oftmals kein Thema ist. Eigentlich sollte die Behörde für Queer-Menschen gerade im Bereich Arbeitsmarktchancengleichheit eine wichtige Anlaufstelle sein. Da läuft vieles verkehrt, auch daß Transsexualität immer als sexuelle Identität eingeordnet wird. Das geht überhaupt nicht. Für mich gibt es nicht nur die sexuelle Identität. Jede_r hat ein Recht auf Anerkennung der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität. Das sind zwei verschiedene Dinge. So kann ich als transsexueller Mensch lesbisch, schwul, bi, aber auch hetero sein.

Vor kurzem habe ich bei der BAG Bildungspoliktik der Partei Die Linke an einem Positionspapier mitgearbeitet und die Forderung nach einer verantwortungsvollen Antidiskriminierungsarbeit eingebracht, die normalerweise im Kontext der Inklusion steht. Es ist bedauerlich, daß Inklusion oftmals als Maßnahmenkatalog nur für Menschen mit Behinderungen dargestellt wird. Das ist eine zu enge Auslegung, denn Inklusion umfaßt ein viel weiteres Themenfeld. Es ist auch an der Zeit, die Sexualerziehung nicht nur von der Geschlechterzuweisung her zu thematisieren, weil dies in gewisser Weise für Phobien und Ausgrenzungen sorgt. Das darf so nicht sein. In den Lehrplänen müssen endlich auch Trans- und Inter-Themen gleichwertig berücksichtigt werden, weil nur so eine verantwortungsvolle Antidiskriminierungsarbeit und ordentliche Prävention erfüllt werden können. Aufklärung und Prävention sind die wichtigsten Aufgaben für mich überhaupt.

SB: Jennifer Michelle, vielen Dank für das Gespräch.


Transparent 'Hauptsache Mensch - queer DIE LINKE' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Position beziehen auf der LL-Demo ...
Foto: © 2016 by Schattenblick


21. Rosa Luxemburg Konferenz in Berlin im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:

BERICHT/223: Treffen um Rosa Luxemburg - Wasser predigen ... (SB)
BERICHT/224: Treffen um Rosa Luxemburg - Weichgespült ... (SB)
BERICHT/225: Treffen um Rosa Luxemburg - Eine Hälfte brennt ... (SB)
BERICHT/226: Treffen um Rosa Luxemburg - Multiform schlägt Uniform ... (SB)
BERICHT/227: Treffen um Rosa Luxemburg - Die Gier der Märkte ... (SB)
BERICHT/228: Treffen um Rosa Luxemburg - Zweckvereinnahmung ... (SB)
BERICHT/229: Treffen um Rosa Luxemburg - die Pläne des Feindes ... (1) (SB)
BERICHT/230: Treffen um Rosa Luxemburg - die Pläne des Feindes ... (2) (SB)
INTERVIEW/289: Treffen um Rosa Luxemburg - und niemand sieht hin ...    Nick Brauns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/290: Treffen um Rosa Luxemburg - Vergessen frißt Fortschritt auf ...    Ihsan Cibelik im Gespräch (SB)
INTERVIEW/291: Treffen um Rosa Luxemburg - getrennt marschieren ...    S.E. Jorge Jurado im Gespräch (SB)
INTERVIEW/292: Treffen um Rosa Luxemburg - Etablierte Fronten ...    Talip Güngör im Gespräch (SB)
INTERVIEW/293: Treffen um Rosa Luxemburg - Im Herzen der Lügen ...    Thomas Zmrzly im Gespräch (SB)
INTERVIEW/294: Treffen um Rosa Luxemburg - das Ziel im Auge behalten ...    Patrik Köbele im Gespräch (SB)
INTERVIEW/295: Treffen um Rosa Luxemburg - Engels Hordentraum ...    Michael Chrapek im Gespräch (SB)
INTERVIEW/296: Treffen um Rosa Luxemburg - Revolutionärer Lernprozeß ...    Domenico Losurdo im Gespräch (1) (SB)
INTERVIEW/297: Treffen um Rosa Luxemburg - Revolutionärer Lernprozeß ...    Domenico Losurdo im Gespräch (2) (SB)

3. März 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang