Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


INTERVIEW/322: Europas Präferenzen - die Weichen sind gestellt ...    Jörg Kronauer im Gespräch (SB)


Neue Kriege fest im Visier

Interview am 1. September 2016 in Kiel



J. Kronauer in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Jörg Kronauer
Foto: © 2016 by Schattenblick

Seit langer Zeit gilt der 1. September als Antikriegstag und wird von vielen Friedensgruppen genutzt, um, gemahnend an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, den ungeachtet aller Friedensbeteuerungen geführten Kriege in Wort und Tat entgegenzutreten. Die aktuellen Entwicklungen in NATO und Bundeswehr sprechen eine deutliche Sprache. Ganz offen wird von einem gefährlichen Säbelrasseln gegenüber Rußland gewarnt, immer häufiger wird von einer allgemeinen Militarisierung in Deutschland wie auch der gesamten EU gesprochen.

Das Kieler Friedensforum nahm in Kooperation mit dem DGB-Bezirk Nord (Region KERN) all dies zum Anlaß, am 1. September eine Vortrags- und Diskussionsverstaltung mit Jörg Kronauer zum Thema "Die Neujustierung der deutschen Außenpolitik: Auf dem Weg zur Europäischen Militärunion?" im Kieler Gewerkschaftshaus zu organisieren. [1]

Der Referent gilt als Experte der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Seit vielen Jahren ist er journalistisch u.a. für die 2002 ins Leben gerufenen "Informationen zur deutschen Außenpolitik" tätig, einem nach eigenen Angaben staatsfernen und linkskritischen Internetportal, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, auf seiner Webseite german-foreign-policy.com über die hegemonialen Taktiken und Strategien des vereinigten Deutschlands aufzuklären. [2]

Im Kieler Gewerkschaftshaus hatte der Schattenblick unmittelbar vor der Veranstaltung die Gelegenheit, mit Jörg Kronauer über seine Einschätzung des Brexit, die reale Gefahr eines weiteren Weltkrieges und den aktuellen Stand der Friedensbewegung zu sprechen.


J. Kronauer spricht - Foto: © 2016 by Schattenblick

Der Referent während seines Vortrags zur Neujustierung der deutschen Außenpolitik
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Jörg, du lebst seit einiger Zeit in London. Wie hast du den Brexit dort miterlebt und was bedeutet er deiner Meinung nach für Europa?

Jörg Kronauer (JK): Das ist ein riesenkomplexes Problem. Hier in Deutschland wird ja vor allem immer der Rassismus in Großbritannien gegenüber den Menschen aus Osteuropa, die nach der EU-Osterweiterung einwandern konnten, wahrgenommen, der bei der ganzen Brexit-Debatte sicherlich eine Rolle gespielt hat. Man muß aber nach meinem Empfinden sagen, daß das ganze Problem viel, viel tiefer geht und sehr viel breiter aufgestellt ist. Die Reduzierung auf den Rassismus finde ich persönlich nicht nachvollziehbar.

Das kann man auf verschiedenen Ebenen angehen. Wenn man sich einfach die Stimmung in der Bevölkerung anschaut, hört man zweifellos sehr oft das Argument, daß die EU nicht demokratisch ist. Dieses Argument wiegt in Großbritannien ganz anders und sehr viel schwerer meinem Empfinden nach, weil es hier das direkte Wahlrecht gibt. Das bedeutet im Umkehrschluß, daß jeder Politiker und jede Politikerin selbst gewählt werden muß, wenn er oder sie ins Parlament will. Über Listen läuft da nichts. Das bedeutet, daß es eine viel stärkere Präsenz der Abgeordneten vor Ort gibt. Joan Cox ist neulich nach so einer Sprechstunde im Wahlkreis umgebracht worden. [3] Das ist genau der Punkt, der da so reingehauen hat. Das Demokratie-Empfinden ist durch dieses Wahlrecht ein viel direkteres. Die Abgeordneten sind regelmäßig vor Ort. Man kann bei ihnen auf der Matte stehen, wenn was schief läuft, und das wird auch getan.

In der EU funktioniert das überhaupt nicht so. Erstens werden die Abgeordneten hier eben doch über Listen gewählt. Die sind dann in Brüssel und weit weg. Da man man nicht einfach 'mal hinfahren und demonstrieren, wenn man das möchte. Das widerspricht in Großbritannien tatsächlich dem Demokratie-Empfinden sehr vieler Menschen, nicht unbedingt nur hochpolitisierter Menschen, sondern auch von Menschen, die nicht besonders politisiert sind, aber dann dieses Argument bringen. Das ist ein Punkt, der meiner Ansicht nach viel zu wenig berücksichtigt wird.

Bei dem Referendum fand ich ganz interessant, daß man sehen konnte, daß es tatsächlich große Gebiete gibt, vor allem alte Arbeitergebiete und -städte, die praktisch abgehängt sind von der allgemeinen Entwicklung. Da gab es eine überraschend hohe Zustimmung zum Austritt. Das betrifft zum großen Teil das alte, traditionelle Labour-Spektrum. Diese Leute haben für den Austritt gestimmt, weil die EU nach ihrem Empfinden tatsächlich ein Projekt der Mittelschichten und der Eliten ist. Das ist etwas, was man in London durchaus auch in Gesprächen von Leuten hört, die im Regierungsapparat oder seinem Umfeld tätig sind. Umgekehrt ist es ganz interessant, daß die City of London, also der Finanzdistrikt, dasselbe hohe Votum für einen Verbleib in der EU hatte wie die linksliberalen Gebiete im Norden von London. Wenn man so will, haben die linksliberalen Teile der Bourgeoisie exakt genau dasselbe Empfinden gehabt wie die Finanzelite.

SB: Die Kritik an der EU ist ja, zumindest hier in Deutschland, fast eine Domäne der Rechten geworden. EU-Kritikerinnen und -Kritiker werden schnell dem rechten Lager zugeordnet. Ist es deiner Ansicht nach ein Versäumnis der Linken, da nicht stärker Position zu beziehen?

JK: Ich denke schon. Dazu muß man sagen, daß das in Großbritannien in der öffentlichen Debatte auch so gewesen ist. Wenn man es zuspitzen wollte, ist das eine Debatte zwischen zwei Flügeln der konservativen Partei gewesen. Das ist die öffentliche Diskussion, doch da drunter gibt es noch mehr, und da würde ich sagen, ist es ein Versäumnis der Linken, nicht viel stärker aktiv gewesen zu sein.

SB: Großbritannien ist gegenüber dem Projekt einer gemeinsamen Europäischen Armee eher abgeneigt. Könnte das mit ein Grund dafür sein, daß bestimmte Kreise anscheinend gar nicht so unglücklich sind über den Brexit?

JK: Ja, das ist sicherlich ein Grund. Man kann ja sehen, daß gerade jetzt die Initiativen für eine EU-Armee wieder stärker werden. Das ist eine Reaktion darauf, daß man Großbritannien los geworden ist. Die Militärs zum Beispiel, die daran stark interessiert sind, können jetzt endlich loslegen. Dabei ist natürlich zu bedenken, daß der Austritt Großbritanniens ökonomisch auch Probleme mit sich bringt. Es ist einfach ein ganz wichtiger Absatzmarkt und Investitionsstandort zum Beispiel für die deutsche Industrie. Das muß man jetzt erst einmal alles regeln, damit es hier in Deutschland aus Sicht der herrschenden Klasse keine Verluste gibt.


Kronauer mit dem Titel des Weißbuchs, Anwesende mit im Bild - Foto: © 2016 by Schattenblick

Aufklärung tut not - das neue Weißbuch der Bundeswehr
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Im Weißbuch der Bundeswehr ist davon die Rede, daß Deutschland die Weltpolitik gestalten möchte. Nun gibt es ja verschiedene geostrategische Konzepte. Brzezinskis ist bekannt, das ist die Geschichte mit dem Schachbrett, wobei man sich vorstellt, die Kontrolle über die eurasische Landmasse wäre der Schlüssel zur Weltherrschaft. [4] Andererseits ist seitens der USA vom Pazifischen Jahrhundert die Rede, was bedeuten soll, daß die Dominanz im asiatisch-pazifischen Raum entscheidend sei. [5] Was meinst du, welche Strategie die Bundesregierung verfolgt?

JK: In ihren Papieren stellt sie fest und akzeptiert, daß die Vereinigten Staaten ihren Schwerpunkt auf den Pazifik legen, also auf den Machtkampf gegen China, wenn man es einmal auf den Punkt bringen will. Das wird wohl der Schwerpunkt der US-Außenpolitik in den nächsten Jahrzehnten sein. Auf der anderen Seite hat Obama die Soldaten aus dem Irak und aus Afghanistan nicht nur zurückgeholt, um die Kriege dort zu beenden, sondern auch, weil sie woanders benötigt werden. Aber das bedeutet natürlich, daß die Vereinigten Staaten, rein militärisch oder auch strategisch gesehen, weniger Kräfte zur Verfügung haben für diese Region.

Das heißt nicht, daß da jetzt ein Vakuum entsteht, das sicherlich nicht, aber daß es da einen Bedarf gibt. Da hineinzustoßen ist eine Strategie, die die Bundesregierung verfolgt. Das kann man in den Papieren der Thinktanks, aber eben auch im Weißbuch nachlesen. Es wird ja viel geredet über diesen Krisengürtel rings um Europa. Da eine führende Rolle zu übernehmen, ist meiner Wahrnehmung nach der nächste Schritt, den die Bundesregierung gerade anstrebt.

SB: Im Verhältnis EU-Europas zu den USA gibt es in politisch-militärischer Hinsicht die NATO, das ist klar. In wirtschaftlicher Hinsicht wird die Welt aber auch - Stichwort Triade - in Einflußsphären aufgeteilt, die eher entlang der globalen Längsachsen definiert werden und bei denen nicht unbedingt ein Zusammengehen Deutschlands bzw. der EU mit den USA angenommen wird. Wie schätzt du diese Erklärungsversuche ein?

JK: Ich würde denken, da gibt es in der realen Politik im Moment viel Pragmatismus. Zum einen setzt Deutschland weiterhin auf die EU. Das ist, glaube ich, unbestritten, das würde wohl kaum jemand im Polit-Establishment anders sehen. Auch eine EU-Armee, das heißt, eine militärische Formierung der EU, wird durchaus von der Bundesregierung forciert mit dem tatsächlich erklärten Ziel - siehe den jüngsten Artikel Steinmeiers im Foreign Affairs [6] -, da auch eine eigenständige Weltpolitik betreiben zu können, eine Weltmachtpolitik, wenn man so will. Das ist das eine.

Das andere ist, daß es natürlich das Transatlantische Bündnis gibt, das man in manchen Fragen eben auch noch braucht. Die EU-Armee existiert noch nicht, da ist militärisch noch nicht genügend Masse da, um wirklich alles allein machen zu können, was man allein machen möchte. Dazu gibt es aktuell auch schöne Zitate von Merkel. Man benötigt schlicht und einfach die Vereinigten Staaten und die NATO, um bestimmte Politiken durchführen zu können. Meinem Empfinden nach ist das im Moment so ein Lavieren zwischen beiden Optionen, also einem stetigen Ausbau der EU als deutsch-dominiertes Instrument für eine dann auch eigenständige Weltpolitik und dann aber auch einem Zusammengehen mit den Vereinigten Staaten, das für bestimmte politische Zwecke sehr nützlich sein kann.


Jörg Kronauer zeigt auf eine Europa-Karte - Foto: © 2016 by Schattenblick

Europa, Deutschland und die Welt fest in den kritischen Blick nehmen
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Du hast vor kurzem das von Steinmeier formulierte außenpolitische Grundsatzprogramm analysiert und dabei auch die Agenda 2010 erwähnt. [7] Da würde mich der Zusammenhang, wenn man so will, zwischen der außenpolitischen Rolle Deutschlands und dieser Sozialpolitik interessieren. Ist das nicht auch eine Möglichkeit, eine Brücke von der Antikriegsarbeit zu den sozialen Bewegungen zu schlagen?

JK: Ja, das würde ich echt so sehen. Das haben wir auch völlig versäumt in den 2000er Jahren, als das alles anlief. Interessant ist da, wenn man sich französische Analysen anschaut. Die sagen eigentlich durchweg, daß Frankreich in den 2000er Jahren, also von 2000 bis 2010, den Anschluß verloren hat, weil ökonomisch gesehen die Bundesrepublik in Europa durchgestartet ist mit ihrer wirtschaftsfreundlichen Politik zu Lasten breiter Teile der Bevölkerung und einer krassen Verarmung. Das hat dazu geführt, daß die Exporte der deutschen Wirtschaft ohne Ende geboomt haben und andere Staaten - Griechenland ist das Paradebeispiel, aber auch Frankreich - ins Außenhandelsminus gegenüber Deutschland geraten sind. Das führte in diesen Ländern zu gesamtwirtschaftlichen Nachteilen, von denen sie sich bis heute nicht wieder haben befreien können, auch Frankreich nicht.

Frankreich ist, um das noch einmal zuzuspitzen, in dieser Zeit in einen ökonomischen Rückstand geraten, an dem es bis heute leidet. Das liegt vor allem auch daran, daß hier in Deutschland Sozialkürzungen durchgeführt worden sind, die der hiesigen Industrie die Spielräume verschafft haben, ihre Konkurrenz in Europa weit abzuhängen. Wenn es uns gelingen würde, da zu intervenieren und diese große Bevorzugung der deutschen Industrie praktisch wieder rückgängig machen, würde das sicherlich auch dazu beitragen, die ökonomischen Krisen in Europa zu lösen.

SB: Das neue Zivilschutzprogramm der Bundesregierung hat ja Kritik auf den Plan gerufen, weil es so zivil gar nicht zu sein scheint. Ist es deiner Ansicht nach bereits ein Teil der Militarisierung?

JK: Das würde ich auf jeden Fall so sagen. Das ist, wenn man so will, die andere Seite der Medaille vom Weißbuch. Kriege werden ja nicht nur geführt, indem man Waffen irgendwo hinschickt, wie es in Afghanistan oder im Irak gewesen ist. Kriege produzieren bekanntermaßen immer auch Rückschläge, die die eigene Bevölkerung treffen und von ihr durchgestanden werden müssen. Deshalb muß sie auch bei der Stange gehalten werden. Dazu sind das Zivilschutzkonzept, aber auch andere Aktivitäten der Bundesregierung gedacht. Aber für mich sind das wirklich zwei Seiten einer Münze.

SB: Würdest du darin schon so etwas wie eine Art Kriegsvorbereitung sehen, sei es als Propaganda oder auch als konkrete Planung?

JK: Das ist immer eine gute Frage. Es gab gerade einen interessanten Text von Wilfried von Bredow, einem Politik-Professor, der meiner Meinung nach im Polit-Establishment der Bundesrepublik eine gewisse Rolle spielt, in der F.A.Z. [8] Er hat gesagt, daß die letzten Kriege ja eigentlich nicht so doll ausgegangen seien, Afghanistan ist keine blühende Landschaft geworden und der Irak auch nicht. Und zu der Frage, was machen wir denn jetzt? hat er gesagt, um es einmal zuzuspitzen, daß wir es einfach weiter probieren müssen. Das bedeutet aber im Umkehrschluß, da sind die nächsten Kriege schon im Blick, sonst würde er doch völlig anders argumentieren. Ob das jetzt schon wirklich konkrete Vorbereitungen sind über die Kriegsbaustellen hinaus, die es im Nahen und Mittleren Osten bereits gibt, weiß ich nicht, aber daß Krieg prinzipiell als Option bewußt in den Blick genommen wird, davon bin ich überzeugt.

SB: Eigentlich wird inzwischen auch in den bürgerlichen Medien gesagt, daß die Entwicklung in Syrien möglicherweise zu einer Kriegsgefahr zwischen Rußland und den USA führt. Wie schätzt du das ein, daß dies zwar recht offen diskutiert wird, aber der Widerhall in der Bevölkerung doch relativ gering ist? Warum kommt davon so wenig im Bewußtsein der Menschen an?

JK: Das ist echt eine gute Frage, ich weiß es auch nicht. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß das alles so weit weg ist. Wer ist denn schon 'mal in Syrien gewesen? Das ist doch noch weiter weg als Jugoslawien, und selbst der Krieg dort hat nicht die Prozesse angestoßen, die man sich eigentlich hätte erhoffen müssen. Diese Kriege haben hier nur geringfügige ökonomische Auswirkungen. Der Zusammenhang zu Hartz IV ist klar, aber diese Verbindung - da sind wir wieder bei der Frage von vorhin - müßte man überhaupt erst einmal herstellen. Das wäre meiner Meinung nach wirklich eine wichtige Sache.

SB: Dieselbe Frage könnte man eigentlich auch in bezug auf die Eskalationspolitik gegenüber Rußland stellen. Da wird ja auch zum Teil von ganz konservativen Politikern durchaus eine Gefahr gesehen, aber das öffentliche Echo dazu liegt im Grunde genommen bei Null.

JK: Ja. Wobei ich da noch sagen würde, daß das etwas mit den großen Medien zu tun hat. Meiner Meinung nach gibt es durchaus ein breit verankertes Echo in der Bevölkerung, das sich aber leider nur in der Rechten äußert, also bei Pegida, AfD oder solchen Gruppen. Ich habe schon den Eindruck, daß sich da noch mehr tut, was aber medial außer in rechten Medien nicht widergespiegelt wird. Vielleicht liege ich da falsch, das weiß ich nicht, aber ich würde das so einschätzen.

SB: Eine Frage noch zu den Freihandelsabkommen TTIP und CETA, die im Moment innerhalb der EU sehr kontrovers diskutiert werden. Frankreich hat schon angekündigt, wir werden da nicht mitmachen, Gabriel schwankt sozusagen. Wie würdest du in diesem Zusammenhang das Verhältnis der EU-europäischen und US-amerikanischen Interessen bewerten?

JK: Was Europa angeht, glaube ich, muß man da stark ausdifferenzieren, denn das ist sehr kompliziert. Es gibt ein starkes Interesse der deutschen Industrie an TTIP, das ist völlig klar. Das liegt schlicht und einfach daran, daß sich, was man in den letzten Jahren gut sehen konnte, durch den Frackingboom in den Vereinigten Staaten neue Chancen für die deutsche Industrie ergeben haben. Das hat zum einen zu einer Zunahme der Investitionen geführt und zum anderen auch dazu, daß die Vereinigten Staaten inzwischen der größte Abnehmer deutscher Produkte überhaupt sind, noch vor Frankreich.

Das bedeutet, daß deutsche Unternehmen ohne Ende gerade am US-Geschäft verdienen, und das läßt sich auch noch ausbauen. Die haben - das würde ich wirklich so sagen - richtig Blut geleckt. Da ist noch mehr zu holen und das soll auch geholt werden. Klar wird sich dann geprügelt über die Feinabstimmung auf Abkommensebene, da gibt es dann riesige Auseinandersetzungen. Vielleicht ist es aber auch so, daß da doch auf Papier-Ebene große Vorteile für die US-Seite drin sind. Aber die deutsche Industrie zum Beispiel sagt ganz eindeutig: Wir profitieren letztlich auch davon, wir wollen das unbedingt.

SB: Hier in Deutschland stehen gemeinsame Manöver oder Übungen zwischen Bundeswehr und Polizei bevor. Wenn man 20 Jahre zurückdenkt, ist das ein kompletter Tabubruch. (JK: Ja.) Was muß innenpolitisch seitdem geschehen sein, daß das heute mehr oder weniger sang- und klanglos durchgesetzt werden kann?

JK: (lacht) Gute Frage. Ich meine, eine gewisse Entpolitisierung muß stattgefunden haben, und in gewissem Sinn hat sie das auch. Ich würde auch sagen, daß es da eine Art Abstumpfung gibt, weil ständig neue Sachen auf einen einstürmen - hier ein neuer Krieg, da ein neuer Krieg, dann ein neues Weißbuch mit noch mehr Aufrüstung. Das ist so überwältigend, daß das alles gar nicht mehr die Reaktionen hervorruft, die es sicherlich noch vor 20 Jahren ausgelöst hätte. Die Frage ist doch, warum niemand darauf reagiert. Zwei Faktoren sind da sicherlich die Abstumpfung aufgrund der Sachen, die ständig auf einen einprasseln, und eine Entpolitisierung.


Frontansicht des Kieler Gewerkschaftshauses - Foto: © 2016 by Schattenblick

Jeder Stein dieses Hauses ein Mahnmal antimilitaristischer Positionen ...
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Die Friedensbewegung ist heute auch längst nicht mehr so stark, wie sie es zu der Zeit noch gewesen ist, dabei gibt es eigentlich mehr Gründe denn je, für eine Antikriegspolitik einzutreten oder die Frage noch grundsätzlicher anzugehen.

JK: Ja, genau.

SB: Würde es der Friedensbewegung vielleicht einen Schub nach vorn geben, am heutigen Antikriegstag zu diskutieren, was getan werden könnte, um mehr Menschen zu erreichen? Wäre das aus deiner Sicht eher einer Frage der Aufklärung oder der politischen Motivation, um nicht zu sagen Agitation?

JK: Aufklärung ist immer wichtig, finde ich, das ist ein ganz grundlegendes Element. Ohne eine inhaltliche Aufklärung kann man keine Politik machen. Über Elemente wie Hartz IV oder andere sozialen Fragen eine Brücke zu den sozialen Bewegungen zu schlagen, finde ich eine ziemlich faszinierende Idee, weil sich darüber eine Verbindung herstellen läßt zu dem, was die Menschen unmittelbar betrifft. Die Kriege bekommen wir hier nicht direkt mit, hier schlagen noch keine Bomben ein. In Frankreich sieht das inzwischen schon ein bißchen anders aus mit dem Terror, der dahin zurückschlägt. Aber uns betrifft das im Alltag relativ wenig.

So würde ich mir auch erklären, warum die Friedensbewegung noch relativ schwach ist. Historisch gesehen ist sie bzw. sind ihre Vorläufer immer dann stark gewesen, wenn es eigentlich schon viel zu spät war, nämlich im dritten oder vierten Kriegsjahr. Vielleicht ist es so, daß in den Machtzentren, die sich die Kriege erst einmal noch vom Hals halten können, indem sie sie woanders führen, tatsächlich immer zu spät zu einem Erstarken der Friedensbewegung kommt. Das wäre jetzt vielleicht eine etwas fatalistische Herangehensweise, spräche aber meiner Meinung nach doch dafür, sich nicht dadurch entmutigen zu lassen, daß im Moment nicht viel zu holen ist.

Ich denke, eine Chance könnte sich dadurch ergeben, daß gerade viele Flüchtlinge aus Syrien hier sind. Man müßte eigentlich mit diesen Menschen viel mehr über den Krieg in ihrem Land sprechen, damit sie wirklich einmal sagen können, wie sich so ein Krieg anfühlt. Und dann muß man natürlich aufklären darüber, daß dieser Krieg nicht von allein gekommen ist, sondern kräftig geschürt wurde. Dabei muß auch die Rolle Deutschlands thematisiert werden.

SB: In gewissem Maße ist Deutschland auch Akteur, sei es über den BND oder die Tornado-Aufklärung, die eigentlich schon fast eine Form der Kriegsbeteiligung in Syrien darstellt.

JK: Das ist es heute im Krieg gegen den IS auf jeden Fall. Ich habe jetzt vor allem an den Krieg in den ersten Jahren gedacht, als es die direkte Kriegsbeteiligung noch nicht gab. Daß das dann über den BND lief, ist auf jeden Fall richtig. Und wenn sich dann ein Berliner Thinktank hinstellt und sagt, wir stellen jetzt ein Regierungskonzept für ein Nachkriegs-Syrien zusammen, wie es schon 2012 mit dem The-Day-After-Projekt gemacht wurde [9], ist das schon wirklich haarsträubend. Das zu thematisieren, glaube ich, wäre auch eine ganz wichtige Sache.

SB: Vielen Dank, Jörg, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe den Bericht zur Kieler Veranstaltung im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/242: Europas Präferenzen - Schwergewicht Deutschland (SB)

[2] http://www.german-foreign-policy.com/de/info/

[3] Die 41jährige Labour-Abgeordnete Helen Joan Cox wurde am 16. Juni 2016 getötet. Der Tatverdächtige soll Zeugenaussagen zufolge zuvor "Britain first" gerufen haben.

[4] Zbigniew Brzezinski, 1928 in Polen geboren, war von 1977 bis 1981 als Berater von US-Präsident James Carter tätig. Er gilt als Vater der Idee, der Sowjetunion durch den damaligen Afghanistankrieg "ihr Vietnam" zu bescheren. Als einer der führenden US-Geostrategen neben Henry M. Kissinger und Samuel P. Huntington wurde er weltweit durch sein 1997 veröffentlichtes Buch "Das große Schachbrett" bekannt, das er den langfristigen Zielsetzungen der USA, einzige Weltmacht zu werden über die Kontrolle der eurasischen Landmasse, gewidmet hatte.

[5] Der asiatisch-pazifische Raum umfaßt einen Großteil Ostasiens, Südostasien, Australien und Ozeanien; manchmal werden auch Südasien und der Ferne Osten Rußlands dazu gezählt. Beim wirtschaftlichen Begriff der Triade wird von einer Dreiteilung der Welt ausgegangen, wobei jedem Teil ein industrialisiertes Zentrum und weitere Regionen zugeordnet werden. Neben dem Asien-Pazifik sind das Europa, der Nahe Osten und Afrika sowie die beiden bzw. drei Amerikas. Nach dem Aufstieg Chinas zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt wird im engeren Sinne anstelle der früheren Triade, bestehend aus den drei größten Volkswirtschaften USA, Japan und Deutschland, auch von einer "Quadriga" gesprochen.

[6] https://www.foreignaffairs.com/articles/europe/2016-06-13/germany-s-new-global-role

[7] https://www.jungewelt.de/2016/06-21/014.php

[8] http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/auslandseinsaetze-diese-vertrackten-kriegsentscheidungen-14399417.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

[9] http://www.swp-berlin.org/en/publications/swp-comments-en/swp-aktuelle-details/article/the_day_after_democratic_transition_in_syria.html


9. September 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang