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INTERVIEW/387: Es geht ums Ganze - Besinnung auf die eigene Kraft ...    Gerhard Kupfer im Gespräch (SB)


Gespräch am 7. Oktober 2017 in Düsseldorf


Der Maschinenschlosser Gerhard Kupfer ist seit 45 Jahren Gewerkschafter und war bis 2014 IG-Metall-Vertrauensmann sowie Mitglied des Betriebsrats bei Daimler-Bremen. Obgleich inzwischen Pensionär, engagiert er sich weiterhin für ein Streikrecht, das diesen Namen auch tatsächlich verdient. Beim bundesweiten Grundrechtekongreß am 7. Oktober 2017 in der Volkshochschule Düsseldorf, zu dem die Initiative "Demonstrationsrecht verteidigen!" eingeladen hatte, berichtete er beim Auftaktpodium über die Kämpfe der Bremer Kollegen. [1] Zudem leitete er eine Arbeitsgruppe zum Thema "Verteidigung des Streikrechts". Dem Schattenblick beantwortete Gerhard Kupfer einige Fragen zum Zustand des Kapitalismus, zur Zukunft der Autoindustrie, zur Gewerkschaftsbewegung und zum Streikrecht.


Beim Vortrag auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Gerhard Kupfer
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Du hast deinen Vortrag mit den optimistischen Worten abgeschlossen, der Kapitalismus wanke, man müsse nur noch etwas nachhelfen. Woher nimmst du diese Zuversicht?

Gerhard Kupfer (GK): Ich komme aus der Autoindustrie, und die beweist zur Zeit, daß sie nur noch mit Lug und Betrug, ich sage bis hin zum Mord bei diesem Dieselskandal, über die Runden kommt - die Deutsche Umwelthilfe hat von fahrlässiger Tötung gesprochen, die Zahlen, wie viele Menschen dadurch jährlich ums Leben kommen, liegen auf dem Tisch. In den USA werden Konzernmanager verhaftet und in den Knast gesteckt, hier in Deutschland haben sie eine Regierung hinter sich. Es gilt kein bürgerliches Recht mehr für diese Typen. In den Betrieben kommt es zu Massenentlassungen und einer Neuaufgliederung wie bei VW, bei Daimler zu einer Neuaufgliederung in der Holding. Sie bereiten sich darauf vor, daß die noch an den Bändern verbliebenen Arbeiter massenhaft gefeuert werden. Wer übrigbleibt, wird ausgepreßt wie eine Zitrone. Jeder normale Kapitalist hat doch die Absicht, seine Arbeiter weiterhin benutzen zu können. In Bremen fangen sie jetzt an, rund um die Uhr zu arbeiten, samstags, sonntags, es bleibt keine Zeit mehr für den Menschen, es bleibt keine Zeit mehr für die Anlagen, es wird einfach auf Crash gefahren. Deswegen sage ich, das System ist absolut am Ende. Das ist jetzt nur ein Beispiel aus diesem Sektor. Ein anderes wichtiges Beispiel ist die Leiharbeit. Wenn sich der Kapitalismus nicht mehr aus der Arbeitskraft des Arbeiters entwickeln kann, ist er am Ende, er gräbt sich ja selber das Wasser ab.

SB: Zumindest Verbrennungsmotoren werden inzwischen weithin als gesellschaftliches Problem erkannt und kritisiert. Wie würdest du die Gesamtentwicklung der Autoindustrie einschätzen?

GK: Das ist ein Riesenproblem. Nicht nur die Verbrennungsmotoren, genauso die Elektrofahrzeuge, die kommen sollen, sind vorsintflutlich. Die Menschen in Kisten mit vier Rädern zu transportieren, macht keinen Sinn. Und dabei werden sie ja überwiegend gar nicht transportiert, da die Autos die meiste Zeit stillstehen. Es gibt Untersuchungen, wonach in NRW die privaten Pkws 23 Stunden täglich herumstehen. Vierzehn Tage verbringt ein Mensch jährlich im Stau. Das ist doch nicht die Zukunft! Wieso kann eine Gesellschaft ihr Transportproblem nicht lösen? Meines Erachtens hat die Autoindustrie keine Zukunft mehr, und das weiß sie auch. Deswegen haut sie mit allen Mitteln rein bis zum Mord.

SB: Welche Möglichkeiten siehst du, diese Position unter den Kollegen zu kommunizieren? Häufig wird ja mit dem Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes argumentiert.

GK: Man muß ihnen zeigen, daß es möglich ist. Wir haben das Beispiel der Moskauer U-Bahn, die heute noch im 1,5-Minuten-Takt fährt und über 2 Milliarden Menschen jährlich transportiert. Es ist möglich, auf diese Scheißkisten zu verzichten. Daß die Kollegen natürlich sagen, mein Arbeitsplatz, und sich nichts anderes vorstellen können, ist eine normale Reaktion. Sie haben ihr Leben als Lohnarbeiter gefristet und können sich kaum vorstellen, daß man diese Arbeit sinnvoll in den Bau von Bahn, U-Bahn oder andere Transportmittel umwandeln kann. Dafür fehlt noch ein bißchen die Vorstellung. Da muß man schon nachhelfen.

SB: Wie geht ihr damit um, wenn ein Werk gegen das andere ausgespielt wird und Standortvorteile oder sogar nationale Standorte gegen ausländische ins Feld geführt werden?

GK: Das war die Situation bei unserem Streik. Der Vorstand hatte für alle Werke des gesamten Konzerns vorgegeben, ein Sparprogramm umzusetzen. Das bestand im wesentlichen aus Fremdvergabe, von der alle Bereiche betroffen sein sollten. Wir haben immerhin erreicht, daß wir zwei Jahre bei uns Ruhe hatten. Jetzt hauen sie natürlich wieder rein, das ist klar, weil wir alleine sind. Die anderen Betriebsräte haben sich teilweise dafür hergegeben, die Fremdvergaben zu unterschreiben. Es ist das alte Spiel: Das Management hat gesagt, wir wollen 800 Arbeitsplätze fremdvergeben, man einigt sich dann auf 600, und der Betriebsrat erklärt, er habe 200 gerettet. So läuft das. Es ist für die Bremer Kollegen nicht so einfach und sie fragen: Warum immer wir? Wir haben öfter gestreikt, doch die anderen ziehen nicht nach. Aber es regt sich langsam auch in anderen Werken etwas.

SB: Viele Menschen sagen, lieber die Klappe halten und sich ducken, dann überstehe ich vielleicht die Probleme, die auf mich zukommen. Du hast sehr viele Angriffe erlebt. Welche Erfahrungen hast du dabei gemacht?

GK: Es gibt irgendwann einen Zeitpunkt, da wird die Entscheidung von anderen gefällt, weil sie dich nicht mehr in Ruhe lassen. Als ich vor Jahren nach der Probezeit auf einer Betriebsversammlung im Werk das erste Mal den Mund aufgemacht habe, blieben die Folgen nicht aus. Am nächsten Tag kam der Werksleiter und beobachtete mich an meinem Arbeitsplatz so von weitem. Dann folgten Versuche, mich zum Vorarbeiter zu machen. Doch als sie gemerkt hatten, daß das alles nicht zieht, war es ein für allemal geklärt.

SB: Du bist nach wie vor Gewerkschafter, wie du betonst, hast aber auch sehr viele Probleme innerhalb der Gewerkschaft gehabt. Welche Position vertrittst du in diesem Konflikt?

GK: Ich sage, wir brauchen unsere Organisierung, wie brauchen aber nicht diese Führung, die wir haben. Unsere Kollegen wählen sie und dulden sie, das ist noch das Problem. Ich kämpfe in unserer Gewerkschaft dafür, daß sich da etwas radikal ändert. Wenn man in diesen Zeiten den Streik scheut, wie der Teufel das Weihwasser, hat man schon verloren. Das geht gar nicht anders.

SB: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung ist in hohem Maße verrechtlicht und über die Mitbestimmung eingebunden worden. Das hat sich offensichtlich kontraproduktiv auf die Kampfbereitschaft ausgewirkt.

GK: Aber hallo! Nicht nur verrechtlicht, wie es mit dem berühmten Wort "Sozialpartnerschaft" ausgedrückt wird, es geht mittlerweile noch viel weiter. Ich sage das nicht gerne, aber es ist teilweise kriminell, was da gemacht wird. Man stimmt der Leiharbeit zu, indem man Tarifverträge schließt, und lauter solche Sachen. Das ist nicht mehr zu rechtfertigen.

SB: Du hast mehrfach das Beispiel Frankreich angesprochen. Wie erklärst du dir, daß dort die Kampfbereitschaft oftmals sehr viel höher als in der Bundesrepublik ist?

GK: Aus der Geschichte heraus. Das läßt inzwischen auch ein Stück nach, der Druck aus Deutschland ist groß genug. Zur Zeit des 1996er Streiks gab es riesengroße Demonstrationen und Streiks in Frankreich, die Regierung mußte zurücktreten. [2] Da haben viele auch bei uns gesagt, so müssen wir es machen. In Frankreich ist es ganz einfach, und darauf bezog sich eine konkrete Diskussion mit dem Vertrauensmann, von dem ich erzählt habe, der auf den Tisch gestiegen ist und die Kollegen aufgerufen hat, sofort etwas zu unternehmen. In Deutschland warten sie meistens ab und fragen, was die Gewerkschaft dazu sagt. In Frankreich warten sie nicht auf die da oben, im Gegenteil. Dort werden an der Arbeitsstätte Versammlungen abgehalten, es wird die Hand gehoben, wir streiken! Dann wird die Gewerkschaft beauftragt, das zu organisieren, nicht umgekehrt. Ich habe zu dem Kollegen gesagt, andernfalls wartest du noch hundert Jahre.

SB: In der Bundesrepublik gibt es keinen legalen politischen Streik. Du hast einen anderen Ansatz vorgeschlagen, wie man das Streikrecht auf nichtjuristischem Weg angehen sollte.

GK: Wir haben die Abmahnungen erwartet, daher war es kein Schock für uns, als sie eintrafen. Wir haben sie dafür genutzt, eine öffentliche Kampagne daraus zu machen. Und das ist uns unheimlich gut gelungen, wir waren praktisch in allen Zeitungen, weil die Frage bis dahin niemand so massiv gestellt hatte. 1956 fand der große Streik der Metaller in Schleswig-Holstein statt, den die Gerichte verboten haben. [3] Die IG Metall hatte gestreikt und letztendlich das Streikrecht ein Stückweit durchgesetzt. Das ist der Weg, einen anderen gibt es nicht. Im Grundgesetz ist zwar das Koalitionsrecht verbürgt, doch die Praxis des deutschen Streikrechts beruht auf Richtersprüchen. In der Nachkriegszeit waren es genau die ehemaligen Nazirichter, die im Bundesarbeitsgericht vorne saßen, Nipperdey [4] und wie sie alle hießen. Sie haben das Streikrecht so restriktiv ausgelegt. Das europäische Recht sagt etwas völlig anderes. Die Bundesrepublik wurde sogar ermahnt, weil sie das Streikrecht so restriktiv handhabt. Wir haben versucht, diese Frage auf den Tisch zu legen, obgleich es gesellschaftlich gesehen eine absolut ungünstige Zeit dafür ist, wie ich weiß, das wieder zum Thema zu machen.

SB: Du hast in deinem Vortrag nicht nur die Bedeutung die Solidarität unter den Kollegen im Betrieb und in den verschiedenen Werken, sondern insbesondere auch auf internationaler Ebene hervorgehoben. Warum ist die Solidarität aus deiner Sicht so wichtig?

GK: Das fing eigentlich schon im Betrieb an. Unsere streikende Nachtschicht hat erwartet, daß am nächsten Tag auch die Früh- und die Spätschicht etwas machen. Das hat aus verschiedenen Gründen nicht geklappt. Es war unmittelbar vor den freien Tagen an Weihnachten, die Leute waren kaputt, und es war niemand da, der kräftig genug gewesen wäre, es zu organisieren. Der nächste Punkt betrifft die Solidarität aus anderen Betrieben. Wir waren auf Tausenden Versammlungen in anderen Betrieben und Städten eingeladen, um über den Streik zu berichten. Dann fragten die Leute: Was können wir tun? Wir haben gesagt: Die beste Solidarität wäre, wenn ihr auch in den Streik tretet. Ihr bereitet ihn vor, und führt ihn durch. Das war die Hoffnung der Bremer Kollegen, daß unser Streik auch ein Signal nach außen sendet. Das hat nicht funktioniert. Es gab viele Diskussionen, aber keine Streiks. Aus dem Ausland, und das hat den Kollegen gutgetan, kam immer wieder die Frage: Was ist los mit dem Streikrecht in Deutschland? Das kann doch nicht wahr sein, hieß es aus Südafrika und wer weiß woher. Das war einfach eine tolle Erfahrung für unsere Leute. Das hilft ihnen und ermuntert sie weiterzumachen. Sie haben in einer Nacht gemerkt, daß die großen Herren nicht so wichtig sind, wie sie immer tun.

SB: Gerhard, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Gerhard Kupfer (Hrsg.): Streik und Menschenwürde. Der Kampf Bremer Mercedes-Arbeiter gegen Werkverträge und Leiharbeit, VSA Verlag 2017, 96 Seiten, 9,80 Euro, ISBN 978-3-89965-737-1

[2] Im November 1996 sperrten die Fernfahrer zwölf Tage lang ganz Frankreich an allen wichtigen Verkehrsknotenpunkten. In rund 50 Departements mußten Benzin und Diesel rationiert werden. Die Fahrer erzwangen den Ruhestand ab 55 Jahren und die Zahlung aller Arbeitsstunden, auch der Stand- und Ladezeiten. Dieser bislang schwerste Lkw-Streik in Frankreich bedeutete eine herbe politische Niederlage für den konservativen Premierminister Alain Juppé, der wenige Monate später aufgeben mußte.

[3] Der Streik um Lohnfortzahlung bei Krankheit begann am 24. Oktober 1956 in Schleswig-Holstein und entwickelte sich zum längsten Arbeitskampf in Deutschland seit 1905. Mehr als 34.000 Beschäftigte der Metallindustrie erstreikten nach 114 Tagen einen Tarifvertrag, der die Arbeiter bei Krankheit besser absicherte, da nun der Lohn weitergezahlt wurde. Damit wurde ein Grundstein für die heutigen tarifvertraglichen und gesetzlichen Regelungen zur Lohnfortzahlung bei Krankheit gelegt. Am 31. Oktober 1958 verurteilte jedoch das Bundesarbeitsgericht die IG Metall zum Ersatz des Schadens, der durch den Streik entstanden war.

[4] Hans Carl Nipperdey (1895-1968) war Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Arbeitsrecht in Jena und ab 1925 in Köln; von 1954 bis 1963 war er erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts in Kassel. Im NS-Staat gehörte Nipperdey zu den führenden Rechtswissenschaftlern, welche die Anpassung des Arbeitsrechts an die Ideologie des Nationalsozialismus vorantrieben. In einem Gutachten zum Zeitungsstreik von 1952 gegen die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes begründete er das Recht auf Schadenersatz von bestreikten Unternehmen. Diese Auffassung setzte er auch 1958 als Vorsitzender Richter des Bundesarbeitsgerichtes im Urteil gegen den Grundsatz-Streik der IG Metall zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall als Richterrecht durch (den Arbeitgebern wurden 38 Millionen Deutsche Mark Schadenersatz zugestanden).


Berichte und Interviews zum Kongreß "Demonstrationsrecht verteidigen!" im Schattenblick unter:
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BERICHT/290: Es geht ums Ganze - der Grundrechte Rückentwicklung ... (SB)

18. Oktober 2017


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