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INTERVIEW/396: Olivenzweig - geleugnete Stoßrichtung ...     Leyla Imret im Gespräch (SB)


Leyla Imret kann ihr Amt als Co-Bürgermeisterin der Stadt Cizre im Südosten der Türkei nicht ausüben, weil sie durch die repressive Politik der AKP-Regierung gegenüber der kurdischen Bevölkerung dazu gezwungen ist, im Exil in der Bundesrepublik zu leben. Geboren in der mehrheitlich kurdischen Stadt Cizre im Südosten der Türkei erlebte sie in jungen Jahren den Krieg zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Bevölkerung. Ihr in der kurdischen Befreiungsbewegung aktiver Vater wurde 1991 in einem Gefecht mit den türkischen Streitkräften getötet. Im Alter von sieben Jahren wurde Leyla von ihrer Familie aus Sicherheitsgründen zu Verwandten nach Norddeutschland geschickt, wo sie bis 2013 in Osterholz-Scharmbeck nahe Bremen lebte. Nach ihrer Rückkehr nach Cizre nahm sie 2014 als Kandidatin der BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) an den Kommunalwahlen teil und wurde im Alter von 26 Jahren jüngste Bürgermeisterin der Türkei.

Als der türkische Staat im Sommer 2015 den Friedensprozeß mit der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) einseitig aufkündigte, riefen zahlreiche davon betroffene Städte und Verwaltungen die demokratische Selbstverwaltung aus. Im Rahmen des nun entfesselten Krieges gegen die kurdische Zivilbevölkerung wurden Dutzende Städte weitgehend zerstört und unter Zwangsverwaltung des türkischen Staates gestellt. 500.000 Menschen flohen vor dieser Form von innerem Kolonialkrieg in andere Regionen des Landes oder das Ausland. Im September 2015 wurde gegen Leyla Imret ein Verfahren wegen der Aufwiegelung des Volkes zum bewaffneten Aufstand gegen den Staat und Propaganda für eine Terrororganisation eröffnet. Nachdem sie von den türkischen Behörden ihres Amtes enthoben und mehrmals vorübergehend festgenommen worden war, kehrte sie in die Bundesrepublik zurück, wo sie im politischen Asyl lebt. Ihre bewegte Lebensgeschichte ist auch Gegenstand des 2017 erschienenen Dokumentarfilms "Dil Leyla".

Am Rande einer Veranstaltung an der Universität Hamburg, in der unter dem Titel "Quo vadis, Türkei?" über die aktuelle politische Lage in der Türkei und die deutsch-türkischen Beziehungen diskutiert wurde, beantwortete Leyla Imret dem Schattenblick einige Fragen zu ihrer Geschichte.



Im Interview - Foto: © 2017 by Schattenblick

Leyla Imret
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Imret, Sie sind bei den Kommunalwahlen 2014 zur Co-Bürgermeisterin von Cizre gewählt worden. Wie lange konnten sie dieses Amt ausüben?

Leyla Imret (LI): Bis zum Ende der Zwangsverwaltung Ende 2016, wenngleich ich bereits im September 2015 vom türkischen Innenminister Selami Altinok angeblich wegen terroristischer Propaganda und Anstiftung zur Rebellion meines Amtes enthoben worden bin. Weil diese Entscheidung für mich jedoch keine Gültigkeit hatte, habe ich das Amt weiterhin zusammen mit dem Co-Bürgermeister bis zur Zwangsverwaltung ausgeübt.

SB: Mußten Sie fliehen, weil Sie eine dauerhafte Inhaftierung befürchteten?

LI: Nach der Zwangsverwaltung habe ich mich bis November 2016 in Cizre aufgehalten und auch ohne politisches Amt weiterhin für die Belange der Bevölkerung eingesetzt. Während des Ausnahmezustands erging dann ein Festnahmebefehl gegen mich. Weil ich nicht mehr geglaubt habe, daß der Richter unabhängig entscheiden kann, wollte ich mich dem Gericht nicht stellen und entschied, mich zurückzuziehen, bis sich die Lage normalisiert hat, also der Ausnahmezustand aufgehoben wird.

SB: Haben Sie hier in Deutschland einen offiziellen Asylstatus?

LI: Ja, dennoch engagiere ich mich auch weiter von hier aus für die Menschen in Cizre, die mich gewählt haben. Als politische Vertretung fühle ich mich für die Stadt und die Bevölkerung verantwortlich und verrichte diplomatische Arbeiten im Namen der Partei HDP.

SB: Der Ausnahmezustand in Cizre währte 79 Tage. Wie haben sich die Menschen in dieser Zeit versorgen können, wenn sie nicht aus dem Haus gehen durften?

LI: Das war ja die zweite Ausgangssperre, die erste dauerte neun Tage. Wenn die erste Ausgangssperre noch einen oder zwei Tage länger angehalten hätte, wären viele Menschen zu Hause vor Durst und Hunger ums Leben gekommen. Aber vor der zweiten Ausgangssperre hat man schon geahnt, was passieren würde. So hat die Regierung vorher eine SMS an ihre Beamten verschickt mit der Aufforderung, daß sie die Stadt verlassen sollen. Das geschah drei Tage vor der zweiten Ausgangssperre. Daher wußten wir, was auf uns zukommt, und haben damit gerechnet, daß es diesmal eine längere Ausgangssperre wird. Aus diesem Grund haben die Menschen vorher Lebensmittel und Trinkwasser zu Hause deponiert, um für zwei oder drei Monate auszukommen.

Tatsächlich hat die türkische Armee die städtischen Wasserdepots unter Beschuß genommen, damit es kein Wasser mehr gibt. Auch hat die Armee die Häuser direkt beschossen, damit die Menschen aus ihren Wohnquartieren fliehen. Ziel dieser Militäroperationen war, die Einwohner der Stadt zu vertreiben, um so den Widerstand gegen den militärischen Angriff im Keim zu ersticken. Diejenigen, die dennoch geblieben sind, mußten einen hohen Preis bezahlen. Die Bombardierungen waren so massiv, daß viele Menschen, darunter auch Verletzte, in den Kellern vor allem im Stadtteil Nur bei lebendigem Leibe verbrannt worden sind.

SB: Wissen Sie, wie viele Menschen in Cizre Opfer der militärischen Operation wurden?

LI: Während der ersten und zweiten Ausgangssperre sind in Cizre 279 Menschen ums Leben gekommen.

SB: Hat die Regierung Erdogan all das offiziell mit dem
Antiterrorkampf begründet?

LI: In erster Linie ging es darum, die Ausrufung der Selbstverwaltung in Cizre wieder rückgängig zu machen, weil behauptet wurde, daß sie das Ziel verfolge, die Regierung in Ankara komplett auszuschließen. Das ist aber nicht richtig. Tatsächlich wurde die Selbstverwaltung ausgerufen, weil wir die jetzige Regierung für undemokratisch halten. Wir wollten mehr Demokratie, waren aber durchaus bereit, mit Ankara zusammenzuarbeiten. Statt dessen hat die Regierung das Ganze manipuliert und gesagt, die sind gegen den türkischen Staat und daß sich in Cizre nur Terroristen aufhalten würden. Deshalb wurde eine Ausgangssperre ausgerufen. Als der türkische Staat seine Beamten aus der Stadt herausgeholt hat, war ihm die zivile Bevölkerung in Cizre völlig egal, zum einen, weil sich die Menschen dort für die Selbstverwaltung entschieden hatten, und zum anderen, weil wir Kurden sind. Hinzu kam, daß in den Augen der Regierung alle Menschen in Cizre ohnehin als Unterstützer oder Sympathisanten der PKK gelten.

SB: Gleichwohl gibt es auch unter der kurdischen Bevölkerung Anhänger der AKP. Waren sie in gleicher Weise von der Repression betroffen?

LI: Offiziell gibt es ungefähr 4000 Wähler der AKP in Cizre, 2000 haben die radikalislamische Partei Hüda Par gewählt. Diese Wähler leben entweder in sicheren Ortsteilen, die während der Bombardierungen unbehelligt blieben, oder hatten ihre Häuser freiwillig geräumt. Strenggenommen waren der Türkei alle Menschen, die die Stadt nicht verlassen hatten, unwichtig. Letzten Endes sind es Kurden, auch wenn darunter AKP-Wähler sind.

SB: Welche Prinzipien und konkrete Schritte der Selbstverwaltung konnten Sie in Ihrer kurzen Zeit in Cizre realisieren, beispielsweise im Verhältnis von Männern und Frauen?

LI: Als wir zur Wahl gingen, haben wir unser Programm zum Aufbau der Demokratischen Moderne vorgestellt und daß darin Ökologie und Frauenbefreiung eine große Rolle spielen. Dazu haben wir unsere Projekte so gestaltet, daß wir die einzelnen Schritte zusammen mit den Menschen dort umsetzen. Natürlich haben wir vor allem für die Frauen positive Entscheidungen getroffen und das Budget dafür erhöht, weil Frauen schon immer im Hintergrund gelassen worden sind. Und auf einmal war ich die erste Frau, die für das Bürgermeisteramt gewählt wurde. Das hatte natürlich grundlegende Änderungen für die Frauen zur Folge und spiegelte auch die Sichtweise auf das zivile Leben in der Stadt wider. Aus diesem Grund haben wir auf der Verwaltungsebene alle Entscheidungen, die speziell die Frauen betrafen, mit unseren sieben Stadträtinnen und den 45 in den Ressorts tätigen Mitarbeiterinnen besprochen und entsprechende Projekte organisiert. Diese haben wir dann vor den gesamten Stadtrat gebracht und ihn über unsere Entscheidungen in Kenntnis gesetzt. Das heißt, im Stadtrat wurde nicht darüber diskutiert, was zu tun ist, sondern Frauen haben selbst über ihre eigenen Belange entschieden.

Dieses positive Verhältnis zwischen kommunaler Verwaltung und Bevölkerung bezog sich nicht nur auf Frauen und Kinder, sondern wir haben durchaus versucht, eine Stadtentwicklung mit Verbesserung der Lebensumstände für alle Menschen zu organisieren. Das war auch wirklich sehr erfolgreich, bis der staatliche Druck und die Zwangsverwaltung alles zunichte machten. In den Kindergärten beispielsweise, wo kurdisch gesprochen wurde, war dann nur noch das Türkische erlaubt. Überhaupt wurden die Kindergärten völlig zweckentfremdet, indem dort Korankurse auf arabisch stattfanden. Auch unsere Fraueninstitutionen, die Gewalt gegenüber Frauen bekämpften, wurden in das Ressort Frau und Familie umgewandelt und damit wurde ihr Inhalt in das komplette Gegenteil verkehrt. Frauenbefreiung und der Kampf gegen Sexismus wichen der islamistischen Sicht, daß die Aufgabe der Frau darin bestehe, zu Hause zu bleiben oder bestenfalls für einen Familienzweck und nicht für sich zu arbeiten. Das ist alles Teil der neuen Türkei, in der Menschenrechte und vor allem Frauenrechte mit Füßen getreten werden.

SB: Könnten Sie sich vorstellen, daß man in der Türkei, wenn sich die politischen Verhältnisse verändern sollten, wieder aufgreift, was Sie einmal begonnen hatten?

LI: Als ich vom Innenminister des Amtes enthoben wurde, war ich am nächsten Tag auf der Straße und natürlich total traurig. Aber die Menschen draußen haben mir gesagt, dich kennen wir, dich haben wir gewählt. Für uns bist du immer noch unsere Bürgermeisterin. Trotz dieser schwierigen Zeit und des Schmerzes haben sie versucht, mir Mut zu spenden. Weil alles eigentlich nur zur Hälfte erledigt ist und ich viele Projekte und Vorstellungen erzwungenerweise wegen Erdogans Politik nicht verwirklichen konnte, liegt es noch immer in meinem Herzen, mich weiter für mein Volk und die Menschen in Cizre einzusetzen. Wenn sie es wünschen, würde ich mich gerne wieder für dieses Amt zur Verfügung stellen.

SB: Frau Imret, vielen Dank für das Gespräch.


Berichte und Interviews zur Podiumsdiskussion "Quo vadis, Türkei?" im Schattenblick unter:
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5. Februar 2018


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