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INTERVIEW/470: Die Linke - gegen Parteipräferenzen ...    Thies Gleiss im Gespräch (SB)


Thies Gleiss ist Gründungsmitglied der WASG und der Partei Die Linke. Als Mitglied im Parteivorstand und Sprecher der Antikapitalistischen Linken (AKL) steht er für jene Prinzipien linker Politik ein, die der auf dem Weg zur Regierungstauglichkeit unabdinglichen Sozialdemokratisierung der Partei hartnäckig im Wege stehen. Am Rande der Gründungsversammlung der BAG Bewegungslinke, die am 14. und 15. Dezember 2019 in Berlin stattfand, hatte der Schattenblick Gelegenheit, Thies Gleiss einige Fragen zum Verhältnis zwischen parlamentarischer Arbeit und außerparlamentarischem Protest zu stellen.


Im Gespräch bei der Gründungsversammlung der Bewegungslinken - Foto: © 2019 by Schattenblick

Thies Gleiss
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Du hattest gestern im Hinterzimmergespräch gesagt, eine Bewegungslinke könne es sich eigentlich einfach machen, indem sie die radikalen Forderungen sozialer Bewegungen übernimmt. Ist nicht auch in sozialen Bewegungen eher ein Mangel an Radikalität festzustellen?

Thies Gleiss (TG): Das glaube ich nicht, die Bewegungen sind schon sehr radikal. Die Jugendlichen von Fridays for Future sind ja so frech zu sagen: Liebe Arbeiter, streikt mal am nächsten Freitag. Wer traut sich das schon, das ist eine sehr radikale Position. Sie waren damit so erfolgreich, daß alle Gewerkschaftsvorstände zu Sondersitzungen zusammengekommen sind und gefragt haben, wie verhalten wir uns dazu, daß die Jugend, unsere Kinder quasi, uns auffordert, am nächsten Freitag oder die nächsten Freitage zu streiken. Die Bewegung ist durchaus radikal.

Gestern abend meinte ich noch etwas anderes: Die Partei Die Linke muß Sprachrohr der Bewegungen sein, so wie sie sind. Das mindeste ist doch, wenn die Bewegung 13 oder 15 Euro Mindestlohn fordert, was jetzt nicht besonders radikal ist und der Sozialverband Deutschland auch fordert, da darf eine linke Bundestagsfraktion doch nicht besserwisserisch hingehen und sagen, wir erlauben euch aber nur 12,76 oder 12,86 Euro, weil irgendwelche Finanzexperten uns das ausgerechnet haben. Das ist doch Wahnsinn, wenn man sich so dagegenstellt. Deswegen mein Vorschlag: Guckt euch die Forderungen an, so wie sie sind. Sie fordern 15 Euro Mindestlohn, 1200 Euro Mindestgrundsicherung, greift das auf, schreibt das auf als euer Unterstützungsprogramm. In einem zweiten Schritt kann man darüber reden, wie wir diese Forderung vermitteln können. Dann spielen Diskussionen um taktische Bündnisse, Mehrheitsbeschaffung usw. eine Rolle. Aber am Anfang muß stehen, klipp und klar zu sagen, was man will, und da muß man Sprachrohr der Bewegung sein, nichts anderes ist man.

SB: Der Begriff der Bewegungslinken hat etwas von einem weißen Schimmel, müßte eine Linke doch immer auch eine Bewegung sein, sofern das Anliegen gesellschaftlicher Umwälzung noch ernstgenommen wird. Wieso formiert sich innerhalb der Linkspartei eine Bewegungslinke?

TG: Das ist das generelle Problem eigentlich mit allen Strömungen. Wir haben eine antikapitalistische Linke, die impliziert dadurch auch, alle anderen Bewegungen wären angeblich nicht antikapitalistisch. Wir haben eine sozialistische Linke, wir haben eine emanzipatorische Linke oder diese große Strömung Forum Demokratischer Sozialismus. Mir hat das nie gefallen, mir wäre lieber, wenn man gesagt hätte, ich bin Strömung Nummer eins, Strömung Nummer zwei, Strömung Nummer drei. Aber das entspricht nicht der Kultur in der deutschen Linken.

Insofern ist die Bewegungslinke zum großen Teil daraus entstanden, daß man sich in den parteigeschichtlichen Abläufen abgrenzen wollte von den anderen Strömungen und man irgendein Etikett, einen Namen brauchte, das ist das eine. Aber das andere ist, der Name ist schon ein bißchen fragwürdig, wie auch der Name Die Linke fragwürdig ist, weil er eine gewisse Anmaßung ausdrückt.

Bewegungslinke ist eigentlich eine Reduzierung dessen, was man will. Das findet man auch in den Diskussionen. Da sind wir zum Beispiel in der AKL ein bißchen weiter. Wir sagen, daß wir alles, was die Bewegungslinke will, auch wollen. Aber man muß sich zu Fragen wie der einer Regierungsbeteiligung oder der Zukunft einer sozialistisch-demokratischen Gesellschaft schon Gedanken machen. Das macht die Bewegungslinke auch im einzelnen, aber als Gründungsdokument oder als Gründungsposition will sie das nicht wirklich haben. Da spreizt sie sich plötzlich stark auf.

SB: Im Protest sozialer Bewegungen ist meist auch Kritik am Parlamentarismus und am Bürokratismus politischer Parteien enthalten. War dieser in der Linken schon immer ausgeprägt oder hat er sich erst über die strukturierende Wirkung des Parlamentarismus herausgeformt?

TG: Daß die Erstarrung im Parlamentarismus und auch im Bürokratismus immer schlimmer wird, bringt die objektive Verankerung in den entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen mit sich. Aber Die Linke ist wirklich mit Abstand diejenige Partei, die das in keiner Weise zu einem Problem erklärt hat. Alle linken Parteien, gerade die Neugründungen nach dem Zweiten Weltkrieg, waren sich dieses Problems bewußt. In der Bundesrepublik haben die Grünen in den ersten zehn Jahren ihrer Existenz intensivst darüber nachgedacht, wie sie Bürokratisierung verhindern können, und kamen auf die Rotation. Heute ist kaum noch bekannt, daß sie ihre Bundestagsabgeordneten in den Anfangsjahren nach zwei Jahren ausgetauscht haben. Davon wollen die Grünen heute nichts mehr wissen.

Die Linke hat dies nie problematisiert, und sie hat zusätzlich quasi als Geburtsbeigabe einen extrem großen Apparat aus der ehemaligen SED geschenkt bekommen. Wir sind damals mit der WASG als klitzekleiner Amateurclub in die große PDS eingetreten. Die hat auf einen Schlag im Karl-Liebknecht-Haus oder Karl-Liebknecht-Amt, wie ich immer bösartig sage, 80 bezahlte Stellen gehabt. Damit wirst du erschlagen. Ich bin da als Mensch hereingekommen, der 50 Jahre Politik auf dem Buckel hat. Ich habe als kleiner Schüler angefangen, der sich im Grunde genommen nie darum gekümmert hat, woher das Geld kommt. Ich habe Politik und Aktionen gemacht, dann gab es Umlagen, Finanzierungen, auch mal Verschuldung. Jetzt kriegst du plötzlich einen Apparat mit 80 vollbezahlten Stellen vor die Nase gesetzt - das hat die Bürokratisierung der Linken sehr stark gepusht.

Jetzt gucken alle wie wild auf Parlamentsposten, es gibt diese schreckliche Hierarchisierung von Vorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden, all diesen ganzen Popanz. Dieser Entwicklung hat sich Die Linke überantwortet, und keiner problematisiert das. Wir von der AKL haben es problematisiert, und heute morgen hat die Bewegungslinke dies einmal zum Thema gemacht, indem gefragt wurde, wie diese Haupttendenzen der Partei zu bremsen und zurückzudrängen sind.

SB: Viele soziale Bewegungen richten sich nach dem Konsensprinzip und haben angefangen, eine Institutionalisierung oder eine Apparatebildung durch basisdemokratische Strukturen zu unterbinden.

TG: Ich würde sogar weitergehen: Gerade diese neuen Bewegungen fangen nicht nur damit an, sondern sie versuchen, das bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Ich schlage für die Bewegungslinke auch vor, sich an dem Konsensprinzip zu orientieren. Als Strömung mußt du das sogar. Die Gesamtpartei kann so nicht funktionieren. Da muß auch mal eine Abstimmung gemacht werden, mit Mehrheit und Minderheit. Da müssen nur die Rechte der Minderheit garantiert sein, und das ist in der Partei Die Linke nicht genügend der Fall.

Eine Strömung ist ja nicht mehr als eine Ideengeberin, eine vorschlagende Kraft, die sich an die Gesamtpartei richtet. Da ist man entweder einer Meinung und macht diesen gemeinsamen Vorschlag, oder aber man ist nicht dieser Meinung, dann kann man das nicht vorschlagen. Man kann mit dem Konsensprinzip in einer Strömung wunderbar arbeiten. Wir in der AKL machen es im übrigen auch, wir haben eine Satzung, die sehr hohe Quoren vorschreibt bei Abstimmungen, also quasi Einstimmigkeit. Wir kommen vielleicht mal auf ein Prozent Abweichung, aber Kampfabstimmungen kennt die AKL nicht.

SB: Parteien schauen ihrer parlamentarischen Funktion gemäß stark auf Wahlergebnisse, was sich auch in der Linkspopulismusdebatte zeigt. Wie sind die Prioritäten für dich sortiert: Weiche ich meine Positionen ggf. auf, um möglichst viele Leute zu erreichen, oder bleibe ich meinen politischen Grundsätzen treu und riskiere damit, bei der Bevölkerung unter den herrschenden Bedingungen öffentlicher Meinungsbildung keinen breiten Zuspruch zu finden?

TG: Ich habe da eine klare Rangfolge. Die politische Klarheit in den Positionen, für die man eintritt, kann man nicht in Frage stellen, das ist ein Muß, dafür haben wir uns gegründet, dafür haben wir unsere moralische Integrität erworben, die Glaubwürdigkeit auch bei den Menschen. Wenn wir plötzlich feststellen, daß die Leute uns nicht mehr wählen, dann haben wir Fehler gemacht bei der Vermittlung unserer Positionen. Man kann auch sagen, die Positionen waren falsch. Ich bin immer dafür, auch Selbstkritik zu üben und sie zu ändern, aber am Anfang heißt es immer: Wofür stehen wir ein, was sind unsere programmatischen Inhalte? Dann organisiert man drumherum Wahlkämpfe, Kampagnen, das ist das eine.

Das andere ist, ich bin deutlich optimistisch, was den Zustand des politischen Bewußtseins in Deutschland angeht. Wir haben eine ziemlich starke Polarisierung, die einen sind konservativ rechts, aber ein mindestens ebenso großer Block in der Gesellschaft ist zu sehr radikalen Maßnahmen bereit. Wenn Fridays for Future, also Jugendliche an den Schulen, sagen: Bitte Leute, streikt doch mal an einem Freitag, an einem ganz normalen Arbeitstag, und dann stellt man fest, daß im September anderthalb Millionen diesem Aufruf folgten, selbst wenn es nur eine verlängerte Mittagspause war oder jemand krank gemacht oder Überstunden abgegolten hat. Das zeigt doch, daß die Menschen zu sehr viel bereit sind. Fridays for Future ist ziemlich radikal und wird eigentlich auch immer radikaler.

Da ist Die Linke meiner Ansicht nach sehr schlecht beraten, wenn sie sich nicht an die Spitze dieser Bewegung stellt und sagt: "Das mindeste, was ihr wollt, wollen wir auch". Stattdessen präsentieren sie sich als Filter der Bewegung: "Wir wollen jetzt mal vermitteln zwischen euch und der Gewerkschaftsbürokratie oder zwischen euch und den Arbeitgebern". Was soll der Quatsch, nein: "Ihr seid das, wofür wir auch stehen, und ihr traut euch mehr als wir, und wir freuen uns darüber, daß ihr euch mehr traut. Und ab sofort trauen wir uns das auch." So müßte das Verhältnis sein.

SB: Du hast zwar die ersten 30 Jahre deines Lebens in Hamburg verbracht, wohnst aber seit langem in Köln. Dort befindest du dich nahe an einem Fokus widerständiger Bewegungen, dem Rheinischen Braunkohlerevier [1].

TG: Ja genau, da bin ich wieder ein bißchen jugendlich geworden (lacht).

SB: Hast du den Eindruck, daß die Entwicklung der Bewegung gegen Tagebaue und die Kohleverstromung zu einer gewissen Politisierung der Bevölkerung in der Region und in NRW geführt hat?

TG: Ja, das spielt eine ganz starke Rolle. Ich bin als Jugendlicher in der Schülerbewegung groß geworden, dann kamen internationalistische Bewegungen, aber der wirklich große Schub war in der Mitte der 70er Jahre die Anti-AKW-Bewegung in Brokdorf. Da fand eine mit heute vergleichbare Situation statt, vor allem in der Zeit von 1976 bis 1980, bis die Grünen gegründet wurden, als fast im Wochen- oder Tagesrhythmus neue Initiativen entstanden und immer wieder neue Zusammenschlüsse mit der Haupttendenz, sich zu radikalisieren. Ich war damals genauso aktiv wie die Schüler heute in der Umweltbewegung.

Jetzt kommen 50.000 Leute zum Hambacher Forst, obwohl es mühsam ist, da hinzugelangen, und ein ganzer Tag für die Teilnahme an einem solchen Protest in Anspruch genommen wird. Einfach super, wer da alles mitmacht, wie es das Tagesthema beherrscht. Man konnte nicht nur in Köln mit T-Shirts "Hambi bleibt" oder "Alle Dörfer bleiben" herumlaufen, und du wurdest regelmäßig auf der Straße oder in der Bahn, und zwar zu 99 Prozent positiv, angesprochen. Das hat sehr viel bewirkt. Und diesen Impuls muß eine Partei wie Die Linke natürlich aufgreifen, und das tut sie viel zu wenig.

SB: Thies, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] Berichte und Interviews zum Widerstand im Rheinischen Braunkohlerevier siehe
http://www.schattenblick.de/infopool/redaktio/ip_redaktio_report_geschichten_aus_dem_widerstand.shtml


Berichte und Interviews zur Gründungsversammlung der Bewegungslinken im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT

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10. Januar 2020


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