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ALTER/196: Migrantinnen und Migranten im Ruhrgebiet (mundo - TUDortmund)


mundo - Das Magazin der Technischen Universität Dortmund Nr. 12/10

Migrantinnen und Migranten im Ruhrgebiet
Es ist nie zu spät, Verantwortung für seine Gesundheit zu übernehmen

Von Katrin Pinetzki


Hunderttausende junge Männer und Frauen aus Süd- und Südosteuropa zogen in den 1960er Jahren ins Ruhrgebiet. 'Gastarbeiter' wurden sie genannt, und tatsächlich planten die meisten Arbeitsmigranten, nach einigen Jahren wieder zurückzukehren. Doch etliche Jahre später, nach Heirat und Familiengründung, wurde die deutsche Fremde für viele zur neuen Heimat. Eine Erkenntnis, die sich erst nach und nach in Politik und Gesellschaft durchsetzte - und eine Menge offener Fragen mit sich brachte. Prof. Gerhard Naegele und Dr. Elke Olbermann können einige davon beantworten. Am Institut für Gerontologie an der TU Dortmund beforschen sie das Thema Migration und Alter bereits seit knapp zwei Jahrzehnten. In ihrer aktuellen Studie beschäftigen sie sich mit der Frage, wie ältere Migranten so lange wie möglich fit und gesund bleiben können.

Die erste Generation der Arbeitsmigranten hat inzwischen das Rentenalter erreicht. "Wir haben schon zu Beginn der 1990er Jahre vermutet, dass viele so genannte 'Gastarbeiter' nicht zurückkehren werden, wenn sie aus dem Erwerbsleben ausscheiden", erinnert sich Naegele. Diesen Fall hatte die Politik jedoch lange Zeit nicht auf dem Plan. 'Rotationsprinzip' nannte man das Konzept damals: Die Menschen kommen, arbeiten ein paar Jahre in Deutschland, kehren dann zurück in ihre Heimat, neue Arbeiter kommen. "Diese Grundvoraussetzung hat noch heute Auswirkungen auf die Integration dieser und folgender Generationen. Den Neuankömmlingen wurde zum Beispiel nie Sprachförderung angeboten. Eine Integrationspolitik gab es nicht", so Naegele. Und wenn die Eltern kein Deutsch sprechen, verlagert sich das Problem auf die Kinder.

"Als Anfang der 1990er Jahre die ersten Forschungsarbeiten zur Situation der älteren Migranten am Institut für Gerontologie entstanden, war das Thema wissenschaftlich noch gänzlich unbearbeitet", sagt Elke Olbermann. In der ersten Studie ging es um die Lebenssituation der älteren Migranten in NRW, vor allem der Arbeitsmigranten - "danach hat uns das Thema nie mehr losgelassen." Es folgten Studien zu sozialen Netzwerken oder zu den Wohnbedürfnissen. Das aktuelle Forschungsprojekt dreht sich um Prävention und Gesundheitsförderung, gefördert wird es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Nimmt sich die Politik also endlich der älteren Migranten und ihrer Bedürfnisse an? "Schon, aber eher unfreiwillig", schränkt Gerhard Naegele ein: "Ausgangspunkt waren die hohen Kosten im Gesundheitssystem. Also hat man versucht, auszumachen, wo die Krankheitsrisiken mit den höchsten Folgekosten liegen. Und so ist man sehr schnell über die Gruppe der sozial Benachteiligten bei den Migranten gelandet. "Das also wurde aus den lange Zeit ignorierten 'Gastarbeitern': eine Risikogruppe im Gesundheitssystem. Und daran hat das gastgebende Land zum Gutteil sogar selbst Schuld. Denn es waren kerngesunde, fi tte junge Männer und Frauen, die da nach Deutschland einwanderten. Jeder von ihnen war durch eine intensive Gesundheitskontrolle gegangen. "Es war eine Selektion sehr gesunder Menschen", sagt Elke Olbermann, "und das spiegelte sich anfangs auch in den Krankheitsstatistiken wider. Inzwischen hat sich der Effekt längst aufgehoben, und dies ist vor allem eine Folge migrationsspezifischer Belastungen."


Sind Migranten tatsächlich kränker als gebürtige Deutsche?

Da ist zum einen die zumeist harte Arbeit selbst, die die Menschen körperlich angreift. Da ist die Trennung von den Angehörigen, die sie taurig macht. Da ist eine deutsche Gesellschaft, die sie bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls diskriminiert. "Solche physischen und psychischen Belastungen wirken sich langfristig auf die Gesundheit aus", sagt Olbermann. Dazu kommen ganz praktische Probleme. Sprachliche, soziale und kulturelle Verständigungsprobleme, unzureichende Informationen und mangelnde Informationsmöglichkeiten stehen häufig einer adäquaten und effektiven gesundheitlichen Versorgung im Wege. Viele Migranten, die in ländlichen Gegenden aufgewachsen sind, kannten auch von zu Hause keine Vorsorgeprogramme.

Dazu kommt, dass der Umgang mit Krankheit zum Beispiel in der Türkei ein anderer ist, ergänzt Prof. Naegele. "Krankheit gehört zum Alter dazu und wird eher akzeptiert. Unser neues Bild vom Alter und von den jungen aktiven Alten, das ist in den ländlichen Regionen der Türkei völlig unbekannt."

Ob Migrantinnen und Migranten tatsächlich kränker sind als gebürtige Deutsche, dazu gibt es zwar keine verlässlichen Daten. Eindeutig sind die Ergebnisse aber, was die subjektive Gesundheit angeht. Wenn man die Menschen fragt, wie sie sich fühlen, dann sagen ältere Migranten regelmäßig, dass es ihnen schlechter geht.

Als vor zehn, fünfzehn Jahren die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Migranten und Alter begann, rückte sehr schnell ein Thema in den Fokus: die stationäre Pflege. "Interessanterweise hat man sich auf dieses Problem konzentriert", sagt Elke Olbermann. Was tun, wenn Migranten pflegebedürftig werden und nicht mehr zu Hause bleiben können? "Das ist eben das greifbarste Thema", sagt Olbermann. Spätestens, wenn die Menschen Pflegefälle werden, kann man sie nicht mehr länger ignorieren. "Paradox" findet das Elke Olbermann. Schließlich lautet das Motto im deutschen Gesundheitssystem ansonsten 'ambulant vor stationär'; eine Unterbringung soll so lange wie möglich verhindert werden. Und tatsächlich werden bereits bestehende Einrichtungen, die sich auf Migranten spezialisiert haben, von der Zielgruppe nicht gut angenommen: Ein Pflegeheim in Berlin, das sich auf muslimische Migranten eingerichtet hat, wird kaum nachgefragt und überarbeitet nun sein Konzept.

Dass schon lange vor der Pflegebedürftigkeit vorbeugend etwas getan werden muss - diese alles andere als neue Erkenntnis möchten Naegele und Olbermann gerne in den Köpfen verankern. Kurse, Angebote, Projekte müssen her, um das Gesundheitsbewusstsein der Migranten zu wecken, das Gesundheitswissen zu erweitern und das Gesundheitsverhalten zu verbessern. Dass bisher vorhandene Angebote die Migranten nicht erreichen, ist für Naegele und Olbermann ein Zeichen dafür, dass es eben die falschen Angebote waren - oder dass sie falsch kommuniziert wurden. Und die Ergebnisse, die sie bei ihrem Forschungsprojekt erzielten, geben ihnen darin vollkommen recht.

Schon seit dem Jahr 2008 befragen sie in Duisburg und Mönchengladbach ältere Einwanderer zu ihrem Gesundheitsverhalten. Wie wirksam ist Gesundheitsförderung bei älteren Migranten? Kann man sie überhaupt erreichen, und wenn ja, wie? Was tun die Betroffenen bisher, um sich gesund zu halten? Diese Fragen standen im Vordergrund der Befragungen von insgesamt 40 älteren Migranten sowie Experten.

Wie bei vielen älteren Menschen ist die eigene Gesundheit auch bei Migranten ein Top-Thema. Die Aufgeschlossenheit gegenüber Gesundheitsfragen ist schon mal eine gute Voraussetzung. Tatsächlich zeigten sich die Befragten in den Interviews offen für bestimmte Bewegungsangebote. Bei muslimischen Frauen sehr beliebt sind Bewegungen zu Musik, etwa traditionelle Tänze, aber auch Yoga und Wassergymnastik. Je nach Traditionsbewusstsein und Grad der religiösen Überzeugung sind geschlechtsspezifische oder auch gemischte Angebote für Männer und Frauen erwünscht. Wichtig ist vor allem eines: "Die Frauen und auch Männer besuchen keine Kurse, wenn sie davon in der Zeitung lesen oder ein Flugblatt in die Hand gedrückt bekommen. Sie müssen persönlich, am besten über eine Gruppe, angesprochen werden", sagt Elke Olbermann. Die ideale Gelegenheit, die älteren Migranten zu erreichen, ist an einem vertrauten Ort, den sie regelmäßig aufsuchen. 'Setting-Ansatz' nennt man das in der Präventionsarbeit: Man geht dahin, wo die Zielgruppe ist und spricht sie direkt in ihrer Umgebung an. Bekannt sind solche Setting-Ansätze für Kinder, Jugendliche und Arbeitnehmer. In die Abläufe in Kindergärten, Schulen und Betrieben lassen sich etwa Sportangebote oder Ernährungsberatung bestens integrieren. "Es gibt aber viel mehr Settings als diese klassischen", meint Olbermann, "sie müssen nur wahrgenommen und genutzt werden". Auch Senioren und Migranten lassen sich in ihren Lebenswelten und Netzwerken ansprechen, sie haben schließlich ebenfalls ihre Treffpunkte, Begegnungszentren und Vereine.

In Duisburg etwa macht die Arbeiterwohlfahrt (AWO) eine Reihe von Angeboten, weshalb der Wohlfahrtsverband auch zum Kooperationspartner der Gerontologen wurde. Als ideal für die Forscher erwies sich ein türkischer Seniorentreff, der bereits seit zehn Jahren besteht. Regelmäßig treffen sich dort Männer und Frauen zum gemeinsamen Frühstück, in das mitunter Infoveranstaltungen zu Gesundheitsfragen eingebettet werden. Die Mitglieder dieser Gruppe treffen sich außerdem zum Yoga, einige singen in einem Chor oder machen einen Schwimmkurs. Die befragten Teilnehmer dieses Seniorentreffs stechen im Vergleich zu anderen Befragten deutlich hervor, sagt Elke Olbermann. "Sie sind sehr offen, haben ein größeres Selbstbewusstsein, sind aktiv und eigeninitiativ. Und sie haben ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein entwickelt." Letzteres führt sie weniger auf einzelne Vorträge und Informationen zurück als vielmehr auf den fortwährenden sozialen Kontakt. "Ein einzelner Schwimmkurs hat weniger Auswirkungen als regelmäßige Sozialkontakte, denn die bedeuten Austausch und Reflektion. Die Anbindung an solche Gruppen ist dann ein Türöffner für spezielle gesundheitsfördernde Angebote", so Olbermann. Dies bestätigen auch die Untersuchungsergebnisse am zweiten Projektstandort in Mönchengladbach. Im Interkulturellen Zentrum des AWO Kreisverbandes trifft sich regelmäßig eine Gruppe muslimischer Frauen zu einem Gymnastikkurs. Hier wurde deutlich: Frauen, die bislang keine Gruppe besuchen, sind unter Umständen über ihre Töchter zu erreichen. Oft sind sie die treibenden Kräfte, die die Mütter überzeugen, mal etwas für sich zu tun - und die die Kurse dann mit besuchen. "Ein effektiver Ansatz ist es daher, bestimmte Kurse von vornherein intergenerativ anzubieten", macht Olbermann deutlich.

Eine große Gemeinsamkeit haben Migranten mit der gebürtig deutschen Bevölkerung: Für Angebote der Gesundheitsförderung sind Frauen eher ansprechbar als Männer, die oft erst dann über ihre Gesundheit nachdenken, wenn sie schon krank sind. Männliche ältere Migranten sind am schwierigsten zu erreichen - doch auch sie sind für gesundheitsfördernde Aktivitäten zu gewinnen, vor allem wenn diese an bestehende Treffpunkte andocken. Das Forschungsprojekt von Olbermann und Naegele ist der erste Versuch, die Wirkung von Präventionsangeboten für ältere Migranten zu erheben, um daraus Empfehlungen abzuleiten. Wie stark ein Yoga-Kurs auf Migrantinnen nun tatsächlich wirkt - das können die Forscher am Ende auch nicht beantworten. "Gesundheitsförderung ist mit so vielen Faktoren korreliert, dass man die Wirkung einzelner Präventionsangebote kaum ausmachen kann", sagt Elke Olbermann. Von vornherein war daher der subjektive, der empfundene Gesundheitszustand für die Forscher der wesentliche Faktor. Legt man diesen subjektiven Gesundheitszustand zugrunde, kann man die Präventionsangebote für ältere Migranten nur einen großen Erfolg nennen. "Unsere Befragten, die schon Kurs-Erfahrung hatten, haben Kontakte geknüpft, ihr Gesundheitswissen erweitert, Gruppenkompetenz gewonnen, sie sagen, dass sie sich nun mehr zutrauen, sich im Alltag und in ihrem Umfeld mehr einbringen ", fasst Olbermann zusammen. Die Ausrede "Dafür bin ich zu alt" ist demnach kein Argument: "Die Teilnehmer haben tatsächlich noch einmal ihre Einstellung zu Themen wie Bewegung und Ernährung geändert und übernehmen mehr Verantwortung für sich und ihre Gesundheit - insbesondere dann, wenn sie langfristig in eine Gruppe eingebunden sind."

Eindrucksvoll bestätigt dies ein weiteres Projekt des Instituts für Gerontologie, das vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wird. Von den älteren Migranten selbst initiiert, entstand in einer Städtischen Senioreneinrichtung im Dortmunder Stadtteil Eving ein Interkultureller Frühstückstreff für Senioren. Der Treffpunkt zeigt in eindrucksvoller Weise, dass solche Begegnungsmöglichkeiten maßgeblich zum Wohlbefinden und zur Gesundheitsförderung der älteren Migranten beitragen. Die Ergebnisse klingen vielversprechend - die Sache hat nur einen Haken: Es gibt niemanden, der originär dafür zuständig wäre, präventive Gesundheitsförderung für ältere Migranten anzubieten. Kommunen, Wohlfahrtseinrichtungen, Krankenkassen, Migrationsarbeit, Seniorenarbeit, Gesundheitswesen, Stadtsportbund, Volkshochschule oder Bildungseinrichtungen für Erwachsene - für sie alle steht die Zielgruppe älterer Migranten nicht im Vordergrund. Braucht es einen neuen Träger, der sich exklusiv um ältere Migranten kümmert? Prof. Gerhard Naegele ist dagegen. "Am sinnvollsten erscheint es mir, die Aufgabe anzubinden an bestehende Organisationen, in NRW etwa an die Gesundheitsämter, die eine koordinierende Funktion übernehmen könnten. Gesundheitsförderung gehört bisher nicht zu deren Pflichtaufgaben, aber das kann sich ja ändern." Wichtig wäre es aber auch, diejenigen Einrichtungen vor Ort, die bereits Zugänge zu älteren Migranten haben, wie zum Beispiel Integrationsagenturen und Migrantenorganisationen, besser auszustatten, damit sie sich im Bereich der Gesundheitsförderung stärker einbringen können. Ein weiterer kritischer Punkt, an dem die Umsetzung der Ergebnisse in die Praxis hakt, ist die Finanzierung. Kursgebühren sind eine Zugangsbarriere, doch auch zur Lösung dieses Problems haben Olbermann und Naegele bereits Ideen. "Im Moment zahlt man für bestimmte Kurse zum Beispiel 100 Euro und bekommt 80 bis 100 Prozent von der Krankenkasse zurück, wenn man regelmäßig teilnimmt. Dieses Verfahren wird von Migranten aber oft nicht angenommen", beschreibt Naegele. Erstens, weil viele das Geld nicht zahlen können, und zweitens, weil sie es auch nicht wollen. "Viele sind skeptisch, dass sie es zurückbekommen. In Vorkasse zu gehen ist unüblich. Helfen würde auch hier ein Setting-Angebot, bei dem die Krankenkasse das Budget zum Beispiel einer Begegnungsstätte gibt, die dann dafür sorgen muss, dass die Leute an den Kursen teilnehmen."


ZUR PERSON
Dr. Elke Olbermann studierte Soziologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Mannheim und promovierte über Soziale Netzwerke, Alter und Migration an der TU Dortmund. Bevor sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin 2006 erneut ans Institut für Gerontologie kam, arbeitete sie unter anderem an den Universitäten Essen und Kassel.
Kontakt: elke.olbermann@tu-dortmund.de

ZUR PERSON
Das Alter und das Altern beschäftigen Prof. Dr. Gerhard Naegele schon lange: Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften in Berlin und Köln promovierte er über Soziale Ungleichheit im Alter und habilitierte sich über das Älterwerden in der Arbeitswelt. In Dortmund forscht und lehrt er seit 1981, zunächst am Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule, seit 1992 dann an der TU Dortmund, wo er den Lehrstuhl für Soziale Gerontologie innehat. Naegele ist Gastprofessor für Gerontologie an der türkischen Akdeniz-Universität Antalya und Max-Bürger-Preisträger der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Er war sachverständiges Mitglied mehrerer Kommissionen der Bundes- und Landesregierung zu Themen des Alterns und demografischen Wandels.
Kontakt: E-Mail: orka@post.tu-dortmund.de


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Quelle:
mundo - das Magazin der Technischen Universität Dortmund, Nr. 12/10, S. 46-51
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
Telefon: 0231/54 49
E-Mail: redaktion.mundo@tu-dortmund.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2010