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ARBEIT/542: Bangladesch - Überlebende des Rana-Plaza-Unglücks noch nicht entschädigt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. November 2013

Bangladesch: Überlebende des Rana-Plaza-Unglücks noch nicht entschädigt

von Robert Stefanicki


Bild: © Robert Stefanicki/IPS

Hasina, die den Einsturz der Textilfabrik in Dhaka überlebte
Bild: © Robert Stefanicki/IPS

Dhaka, 4. November (IPS) - Sechs Monate nach dem katastrophalen Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch haben sich die Sicherheitsvorkehrungen in den Textilfabriken des südasiatischen Landes verbessert. Doch das Leben der Opfer und ihrer Familien ist nach wie vor schwierig.

Als am 24. April der Fabrikkomplex Rana Plaza in einem Vorort der Hauptstadt Dhaka einstürzte, wurden 1.133 zumeist weibliche Arbeiter unter den Trümmern begraben. Das Unglück war zu groß, um ignoriert zu werden. Menschen in aller Welt, die Kleidungsstücke 'made in Bangladesch' tragen, reagierten schockiert. In dem Land lassen unter anderem Firmen wie 'Tesco', 'Carrefour', 'Benetton' oder 'Walmart' produzieren.

Momentan ist das Fabrikgelände durch Stacheldraht und einen Metallzaun abgesperrt, an dem Transparente angebracht wurden. "Wie lange müssen wir nach dem Tod unserer Eltern noch auf Entschädigungen warten?" ist auf einem Spruchband zu lesen.

Was vom Rana Plaza übrig geblieben ist, kann man vom obersten Stock eines Nachbargebäudes aus sehen. Der Schutt ist weitgehend weggeräumt, doch noch ragen die Karosserien von zwei Autos aus einem Brackwasserteich hervor. "Die Fahrzeuge waren in einer Tiefgarage geparkt", sagt Hassan, einer der freiwilligen Helfer, der mit seinem Team etwa 400 Menschen aus den Trümmern retten konnte.

Hasina, eine der Überlebenden, verbirgt unter ihrem Schal einen entstellten Arm. "An dem Tag kam ich um 8.30 Uhr zur Arbeit", erzählt sie. "Von meinen Kollegen hörte ich, dass die Wände Risse bekommen hatten. Wir wollten das Gebäude nicht betreten, aber ein Aufseher zwang uns dazu." Dann fiel der Strom aus, und Hasina wurde von herabstürzenden Deckenteilen zu Boden gerissen. Sie wurde noch am selben Abend gerettet, leidet aber immer noch an den Spätfolgen des Unglücks. Da sie ihre Hand nicht bewegen kann, ist an Arbeit nicht zu denken.

Hasina hat eine Entschädigung von umgerechnet 450 US-Dollar erhalten. Da die einflussreiche Vereinigung der Textilhersteller und -exporteure in Bangladesch (BGMEA) den Überlebenden die vorläufige Fortsetzung der Gehaltszahlungen zugesagt hat, erhält sie noch rund 127 Dollar im Monat. Ihre langwierige medizinische Behandlung kostet sie zwar nichts, doch die Rikscha, die sie zum Arzt bringt, muss sie selbst bezahlen.


Entschädigungen niedriger als zugesagt

Die Tragödie in Dhaka hat Regierungen, lokale und global tätige Institutionen sowie Einzelpersonen dazu veranlasst, den Opfern umfangreiche Hilfen in Aussicht zu stellen. Die meisten Befragten erhielten jedoch nicht annähernd die Beträge, die man ihnen zugesagt hatte.

Der größte Teil der Entschädigungen kam von der bangladeschischen Regierung. Der irische Textilkonzern 'Primark', der in Rana Plaza produzieren ließ, zahlte jedem Opfer spontan und kurzfristig 200 Dollar. Diese Geste verhalf der Firma in Bangladesch zu hohem Renommee.

Über langfristige finanzielle Hilfen wird zurzeit noch verhandelt. Bei einem im September mit Unterstützung der Internationalen Arbeitsorganisation ILO der Vereinten Nationen abgehaltenen Treffen in Genf waren allerdings nur neun der 29 Unternehmen zugegen, die in Rana Plaza produzieren ließen.

Mit etwa 3,6 Millionen Beschäftigten in der Textilindustrie ist Bangladesch nach China der zweitgrößte Kleidungsexporteur der Welt. Rund 60 Prozent dieser Ausfuhren gehen nach Europa und 23 Prozent in die USA. Der Mindestlohn liegt bei 38 Dollar monatlich. Nach jüngsten Massenprotesten ist eine Erhöhung aber absehbar.


Vorwürfe gegen die Fabrikbetreiber

Die Überlebenden machen die westlichen Firmen nicht für ihr Leid verantwortlich. Normalerweise wissen die Arbeiter gar nicht, für welche Marke sie Textilien anfertigen. Abdulrahman, der seine Frau Sharifa beim Einsturz der Fabrik verlor, eine Entschädigung in Höhe von 1.700 Dollar und eine Rikscha von der unabhängigen Organisation 'Karmojbi Nari' erhalten hat, macht auch dem Eigentümer des Gebäudes keine Vorwürfe. "Er ist schließlich nicht dafür verantwortlich, dass die Stromgeneratoren in einem der oberen Stockwerke aufgestellt wurden", sagt er. "Die Vibrationen der Generatoren haben den Einsturz verursacht."

Die Schuld sieht der Witwer bei den Fabrikbetreibern, die derzeit mit dem Gebäudeeigentümer Sohel Rana in U-Haft sitzen und auf ihr Gerichtsverfahren warten. "Ich möchte nicht, dass der Fabrikant gehängt wird", sagt Abdulrahman. "Lebenslängliche Haft würde ausreichen. Und er soll sich entschuldigen."

"Ausländische Kunden sollten sich nicht aus der Verantwortung stehlen, auch wenn ihnen die Arbeiter keine Vorwürfe machen", meint Khondaker Moazzem vom unabhängigen 'Center for Policy Dialogue' in Dhaka. Moazzem, Mitautor des Berichts '100 Tage der Rana-Plaza-Tragödie', hält die bisherigen Entschädigungen für viel zu niedrig. "Nach unabhängigen Berechnungen sollten verletzte Arbeiter jeweils mehr als 25.000 Dollar erhalten."

Die Familien vermisster Opfer sind in der schwierigsten Lage. Bisher wurden 332 Menschen entweder nicht identifiziert oder nicht gefunden. Ihre Verwandten haben damit kein Anrecht auf Entschädigungen.


Unabhängige Überprüfungen zugesichert

Die Textilindustrie hat auf die Katastrophe reagiert und neue Sicherheitsvorkehrungen ergriffen. Das Abkommen über Feuer und Sicherheit in Fabriken in Bangladesch wurde unter dem Druck der Öffentlichkeit von mehr als 100 zumeist in Europa ansässigen Einzelhändlern und Herstellern unterzeichnet. Noch in diesem Jahr sollen unabhängige Inspektionen in etwa 1.600 Fabriken beginnen, in denen ausländische Firmen fertigen lassen. Die Beschäftigten sollen zudem über ihre Rechte aufgeklärt werden - auch darüber, dass sie ein Gebäude mit vermuteten Sicherheitsmängeln nicht betreten müssen.

Mit Unterstützung Großbritanniens und der Niederlande haben die Regierung in Dhaka und die ILO zudem einen 25-Millionen-Dollar-Plan gestartet, der die Sicherheit der Fabrikgebäude in Bangladesch in den nächsten dreieinhalb Jahren verbessern soll. Einige Firmen haben bereits selbst mehr als 500 Fabriken in Augenschein genommen.

Die Behörden in Bangladesch wiederum ordnen seit dem Einsturz von Rana Plaza rascher Schließungen von Fabriken an. Bis jetzt hat BGMEA rund 620 Fabriken besichtigt und die Stilllegung von 20 angeordnet. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.ilo.org/global/about-the-ilo/newsroom/features/WCMS_226985/lang--en/index.htm
http://cpd.org.bd/index.php/100-days-of-rana-plaza-tragedy/
http://www.ipsnews.net/2013/10/bangladesh-workers-short-of-compensation/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. November 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2013