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ARBEIT/556: Brasilien - Tödliche Sonderschichten vor der Fußball-WM (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. April 2014

Brasilien: Tödliche Sonderschichten vor Fußball-WM

von Fabiola Ortiz


Bild: © Glauber Queiroz - Portal da Copa, Regierung Brasiliens

Baustelle des Amazônia-Fußballstadions in Manaus
Bild: © Glauber Queiroz - Portal da Copa, Regierung Brasiliens

Rio de Janeiro, 14. April (IPS) - Auf den Baustellen der zwölf Stadien, in denen vom 12. Juni bis zum 13. Juli in Brasilien die FIFA-Fußball-Weltmeisterschaften ausgetragen werden, sind Arbeitstage von bis zu 18 Stunden zurzeit keine Seltenheit. Denn bis zum ersten Anpfiff muss alles fertig sein. Durch den enormen Zeitdruck steigen die Unfall- und Todesrisiken.

Neun Arbeiter sind bereits ums Leben gekommen. Der vorerst letzte tödliche Unfall ereignete sich auf der Baustelle des Corinthians-Stadions in São Paulo, wo das Eröffnungsspiel stattfinden wird. Dort stürzte am 29. März der 23-jährige Fábio Hamilton da Cruz von einem Gerüst aus acht Meter in die Tiefe. Die Justizbehörden setzten die Bauarbeiten zunächst teilweise aus und verlangten von der verantwortlichen Firma einen Nachweis, dass alle Sicherheitsmängel behoben seien. Seit dem 7. April sind die Bautrupps nach einer Genehmigung durch das Arbeitsministerium wieder im Einsatz.

Am 7. Februar wurde im Amazônia-Fußballstadion in der nordbrasilianischen Stadt Manaus der 55-jährige Portugiese Antônio José Pita Martins tödlich am Kopf getroffen, als er damit beschäftigt war, einen Kran abzubauen. Auf dieser Baustelle war Mitte Dezember der 22-jährige Marcleudo de Melo Ferreira 35 Meter tief in den Tod gestürzt, als ein Seil riss.

Am selben Tag starb in nächster Nähe der 49-jährige José Antônio da Silva Nascimento infolge eines Herzanfalls. Seine Familie macht die harten Arbeitsbedingungen und Sieben-Tage-Arbeitswoche für seinen Tod verantwortlich. Sein Kollege Raimundo Nonato Lima da Costa war Ende März 2013 an den Folgen schwerer Kopfverletzungen gestorben, als er am gleichen Ort von einem fünf Meter hohen Gerüst fiel.

In São Paulo starben am 27. November 2013 zwei Arbeiter: der 42-jährige Fábio Luiz Pereira und der zwei Jahre ältere Ronaldo Oliveira dos Santos. Sie wurden von einen umstürzenden Kran im Corinthians-Stadion ('Itaquerão') erfasst. Der 55-jährige Abel de Oliveira war an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben, den er am 19. Juli 2012 auf der Baustelle des 'Minas Arena'-Stadions ('Mineirão') in der Stadt Belo Horizonte erlitten hatte.

Zum ersten tödlichen Unfall bei den Vorbereitungen zur Fußball-WM war es am 11. Juni 2012 gekommen, als der 21-jährige José Afonso de Oliveira Rodrigues im Nationalstadion der Hauptstadt Brasilia 30 Meter in die Tiefe stürzte.


"Sünden der Fußball-WM noch lange spürbar"

"Die Regierung macht Druck auf die Unternehmen, die diesen an ihre Arbeiter weitergeben, die ihn dann mit ihren Leben bezahlen", sagt Antônio de Souza Ramalho, Vorsitzender des Bauarbeitergewerkschaftsverbands 'Sintracon-PS' in São Paulo, der für die Sozialdemokraten in dem Bundesstaat im Parlament sitzt. "Es ist unverantwortlich, erst den Bau zu verzögern und dann mit Blick auf den Fertigstellungstermin die Arbeiter durch unerträgliche 18-Stunden-Schichten zu töten. Die Sünden der Fußball-WM werden noch Jahre spürbar sein."

Wie der Gewerkschafter berichtet, hatten Arbeiter frühzeitig auf die Gefahr hingewiesen, die von dem Baukran in São Paulo ausging, der dann den beiden Männern das Leben kostete. Auf dem Gelände des Corinthians-Stadions habe man den Kran auf einer hastig zugeschütteten Grube abgestellt, anstatt zunächst für ein solides Betonfundament zu sorgen, kritisiert Ramalho. "Arbeiter und Ingenieure haben darauf hingewiesen, dass der Untergrund instabil war." Doch aus Zeit- und Kostengründen habe man es vorgezogen, zu improvisieren. Die Resultate der Untersuchungen zu diesen Todesfällen wurden nicht publik gemacht.

Im Dezember hatten das Arbeitsministerium und der Baukonzern Odebrecht ein Abkommen geschlossen. Darin ist festgelegt, dass Kranführer weder Überstunden noch Nachtschichten leisten dürften. Die tägliche Arbeitszeit wurde zudem auf 7,5 Stunden mit einer Stunde Mittagspause begrenzt. Mehr als zwei Überstunden am Tag sind demnach nicht zulässig.

Ramalho zufolge wird diese Übereinkunft jedoch nicht eingehalten. Er habe die Polizei zu Nachforschungen aufgefordert, sagt er. "Wir erleben eine unglaubliche rechtliche Unsicherheit." Der Gewerkschafter kritisiert, dass Arbeiter auf Baustellen in São Paulo oft an Verträge gebunden seien, die die Erbringung einer bestimmten Aufgabe in einem festgelegten Zeitrahmen vorschrieben. "Damit wird unter anderem die Zahlung von Sozialbeiträgen umgangen", erklärt er. Denn der Arbeiter werde lediglich für die abgeschlossene Arbeit entlohnt.


Wettlauf mit der Zeit

Wie Eduardo Lopes von der Bauarbeitergewerkschaft 'Sinduscon-AM' im nördlichen Bundesstaat Amazonas betont, birgt die Arbeit auf dem Bau ohnehin schon gewisse Risiken. "Der Wettlauf bei der Fertigstellung der WM-Projekte erhöht die Gefahren weiter." Allerdings hätten die zwei Arbeiter, die im Amazônia-Stadion ums Leben kamen, Sicherheitsvorschriften außer Acht gelassen.

Mit nahendem Fertigstellungstermin würden die Unfallschutzbestimmungen immer häufiger missachtet, räumt der Ingenieur und Experte für Arbeitssicherheit, Jaques Sherique, ein. Bei dem im April 2013 beendeten Umbau des Maracanã-Stadions in Rio de Janeiro kam zwar niemand ums Leben, doch wurden mehrere Arbeiter verletzt. Die überlangen Arbeitstage einschließlich der Nachtschichten hatten Sherique zufolge ihren Teil dazu beigetragen.

In der Baubranche entstehen in Brasilien die meisten neuen Jobs: 3,12 Millionen allein im vergangenen Jahr. In diesem Sektor wird aber auch der höchste Anstieg von Arbeitsunfällen verzeichnet. Laut dem Arbeitsministerium stieg die Zahl von etwa 55.000 im Jahre 2010 um zwölf Prozent auf 62.000 2012. In der Metropole São Paulo hat sich die Zahl dieser Unfälle in den vergangenen zwei Jahren sogar verfünffacht: von 1.386 in 2012 auf 7.133 im letzten Jahr, wie von der Sintracon-SP gesammelte Daten belegen.

Nach Angaben der internationalen Bau- und Holzarbeiter-Gewerkschaft BWI starben mehr als 60 Arbeiter beim Bau der Anlagen für die Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi. Bei den Vorbereitungen auf die Sommerolympiade 2012 in London hatte es dagegen keinen einzigen tödlichen Unfall gegeben. (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.ipsnews.net/2014/04/brazils-fifa-world-cup-preparations-claim-lives/
http://www.ipsnoticias.net/2014/04/la-copa-mundial-de-la-fifa-cuenta-sus-muertos-en-brasil/

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IPS-Tagesdienst vom 14. April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2014